Wenn in der Linken heute wieder verstärkt über Reproduktionsarbeit diskutiert wird, dann geschieht dies in der Regel unter Rückgriff auf Debatten aus den 1970er Jahren. Damals stellten marxistische FeministInnen Haus-, Familienarbeit und gesellschaftliche Reproduktionsarbeit in den Mittelpunkt ihrer Analysen (vgl. Haug 1999). Unter anderem ging es darum, bisher nicht berücksichtigte, selbstverständlich vorausgesetzte, also ›unsichtbare‹ Arbeit kenntlich zu machen, ihre Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion herauszuarbeiten und ihr auf diese Weise moralische und vor allem auch finanzielle Anerkennung zu verschaffen. Seit zwei Jahren versucht das Netzwerk Care Revolution aus diesen Analysen Schlussfolgerungen für eine aktuelle politische Praxis zu ziehen. Es ist hier insbesondere das Verdienst von Gabriele Winker, in der Bundesrepublik das Netzwerk Care Revolution tatkräftig mit angeschoben und ihm eine theoretische Grundlage geliefert zu haben (vgl. Winkler 2015). Mit dem angestrebten Theorie-PraxisTransfer ergeben sich allerdings neue Probleme. Soweit das Netzwerk darauf gerichtet ist, ein politisches Bündnis zu schaffen, stellt sich die Frage, wie breit dieses Bündnis sein kann und welche Rolle insbesondere diejenigen spielen, die im Lichte der ›Care-Theorien‹ als diejenigen gelten, die ›Sorgearbeit‹ empfangen, also zum Beispiel behinderte, chronisch kranke oder alte Menschen. Dazu sollen hier einige kritische Thesen formuliert werden. 
 

  1. Der ursprüngliche Zweck des ›Care-Ansatzes‹ bestand darin, ›Sorgearbeit‹ als solche kenntlich zu machen und zu problematisieren, dass diese Arbeit vielfach unentgeltlich oder schlecht bezahlt und meist von Frauen verrichtet wird. Abstrahiert man von diesem Zweck, indem man versucht, auf Basis dieses Ansatzes ein breites politisches Bündnis zu entwickeln, dann erweist sich die auf ›Sorgearbeit‹ gerichtete Perspektive allerdings als unzulänglich und zu eng. Im Zentrum stehen die Arbeitenden, diejenigen, mit denen sie zusammenarbeiten, bleiben im Hintergrund und können höchstens ›mitgedacht‹ werden. Spontan identifizieren sich viele Linke leicht mit abhängig Beschäftigten und ihren Forderungen. Das ist verständlich und begrüßenswert, macht aber erforderlich, immer wieder an diejenigen zu erinnern, mit denen gearbeitet wird. 
  2. Das ›Care-Modell‹ impliziert eine problematische Rollenaufteilung, um nicht zu sagen: ein hierarchisches Verhältnis. Die einen leisten ›Sorgearbeit‹, die anderen empfangen sie. In Wirklichkeit hat man es stets mit Beziehungen der Zusammenarbeit zu tun. Ob es sich um Erziehung, Pflege oder Therapie handelt, diese Arbeiten kommen nur als Koproduktion zustande. Dies festzuhalten ist wichtig, weil in den Theorien der ›helfenden Berufe‹ − Pädagogik, Pflegewissenschaft und Psychologie – traditionell der helfenden Seite der aktive Part und der Expertenstatus zugeschrieben wird. Generell vermisst man in den aktuellen ›Care-Debatten‹, dass darin die eigentlich bekannte Ambivalenz des Helfens, nämlich die Ambivalenz von Unterstützung und Kontrolle, thematisiert würde. 
  3. Viele emanzipatorische Ansätze haben sich historisch als Kritik an konventioneller ›Sorgearbeit‹ herausgebildet. Gegenstand der Kritik waren Familienbeziehungen, Kindergärten, Schulen, Psychiatrien oder Pflegeeinrichtungen. Die Behindertenbewegung hat das Modell der persönlichen Assistenz als Alternative zu herkömmlicher Pflege entwickelt. Das Ziel bestand gerade darin, das hierarchische ›Sorgeverhältnis‹ aufzuheben. Behinderte Menschen sollen, so der Kerngedanke des Modells, selbst entscheiden, wer ihnen wie, wann, wobei und auf welche Weise hilft. Sie leiten die Tätigkeiten ihrer Assistenzkräfte an. Gute Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen sowie ein respektvoller Umgang miteinander sind notwendige Rahmenbedingungen, damit dieses Modell funktionieren kann (s.u. und vgl. Zander 2007). 
  4. Das Netzwerk hat sich eine »Kultur der Fürsorglichkeit« auf die Fahnen geschrieben. An sich ist gegen Fürsorglichkeit als emotionale Praxis in nahen Beziehungen selbstverständlich nichts einzuwenden. Aber Fürsorge ist für ›Care-Arbeit‹ nicht notwendigerweise konstitutiv. Die Formulierung macht auch deutlich, dass ›Sorgearbeit‹ leicht moralisiert und idealisiert wird. Weder ist jede ›Sorgearbeit‹ gut, noch sind es alle Menschen, die solche Tätigkeiten verrichten. Die Realität sieht etwa in der Pflege nicht selten anders aus, es kann zu Vernachlässigung, Geringschätzung oder gar Gewalt kommen. Mangelnde Ressourcen sind oft, aber nicht immer der Grund dafür. Die Idealisierung von ›Care‹ ist möglicherweise ein ideologisches Moment, das die traditionelle (geschlechtstypische) Arbeitsteilung absichert, indem es die Belastungen dieser Tätigkeiten gleichsam moralisch entlohnt. Die karitative Konnotation dürfte auch der Grund dafür sein, warum man zögern würde, Flüchtlingshilfe als ›Sorgearbeit‹ zu bezeichnen, droht dieser Begriff doch, den politischen Kontext zu verdecken. 
  5. Insgesamt stellt sich die Frage, welche Tätigkeiten als ›Care-Work‹ zu bezeichnen sind. Das Netzwerk hat sich für einen sehr breiten Ansatz entschieden, der unter anderem Sexarbeit mit einbezieht. Wenn generell Dienstleistungen gemeint sind, dann ist nicht einsehbar, warum nicht auch zum Beispiel Physiotherapie oder das Friseurhandwerk dazugehören. Nun weisen gerade in der Sexarbeit die Arbeitsbedingungen eine große Bandbreite auf. Zudem ist ein Freier nicht in gleicher Weise auf eine Sexarbeiterin angewiesen wie Kranke auf medizinisches Personal oder Behinderte auf Assistenzkräfte. Dies alles muss nicht dagegen sprechen, dass Sexarbeit ein wichtiges Thema für das Netzwerk ist und Sexarbeiterinnen dort aktiv sind. Nur muss man sich klarmachen, dass man es bei einem sehr breiten ›Care-Begriff‹ mit sehr heterogenen Erfahrungen und Problemlagen zu tun hat. 
  6. Wer Bündnisse schaffen will und Gemeinsamkeiten sucht, sollte über Konflikte und Interessen sprechen. Im Flyer zur »UmCareKonferenz« vom Oktober 2015 heißt es: »Auf der Konferenz wollen wir mit Angehörigen und Menschen mit Pflegebedarf, mit Beschäftigten, Gewerkschaften und Sozialverbänden diskutieren und Strategien entwickeln.« Zwischen all diesen Akteuren kann es Gegensätze geben. Sozialverbände mögen im Einzelfall durchaus vernünftige politische Positionen vertreten, aber einige von ihnen betreiben Einrichtungen wie Behindertenwerkstätten, die von Organisationen der Behindertenbewegung scharf kritisiert werden, weil sie exkludieren und ihren Beschäftigten nicht einmal den Mindestlohn zahlen. Ein Beispiel für einen solchen Dissens war der sogenannte Scheißstreik in Berlin 2010. Die im Bereich Persönliche Assistenz Beschäftigten unterstrichen damals ihre Forderung nach besserer Entlohnung damit, dass sie angebliche Exkremente (vermutlich meist Schokocreme) an politische Akteure verschickten, offensichtlich um zu verdeutlichen, welche ›Scheiße‹ sie täglich wegmachen müssen. Strittig war die Frage, ob es sich um eine berechtigte Aktionsform handelt oder um eine Herabwürdigung von Behinderten, deren Ausscheidungen zum öffentlichen Thema gemacht wurden (vgl. Nowak 2010 u. Zander 2010). Trotz dieser Problematik haben damals Beschäftigte und Behinderte gemeinsam und erfolgreich für höhere Assistenzvergütungen in Berlin gestritten. Doch das Beispiel zeigt auch, dass eine Gemeinsamkeit zwischen den diversen Adressaten des Netzwerks nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann, sondern oft erst das Ergebnis von Zusammenarbeit sein kann. 
  7. Zusammenarbeit trotz Differenzen gelingt bekanntlich dann, wenn es einen Anlass gibt, der Einigkeit schafft. Dieser kann etwa ein Gesetzentwurf sein, zum Beispiel der voraussichtlich miserable Entwurf des Bundesteilhabegesetzes. Eine solche Zuspitzung fehlt dem Netzwerk bislang. Es steht möglicherweise vor einem ähnlichen Dilemma wie die Sozialforumsbewegung der 2000er Jahre. Diese hatte sich dafür entschieden, Foren zum Austausch und zur Meinungsbildung in einem breiten linken Spektrum zu schaffen. Dafür büßte sie aber an Handlungsfähigkeit ein, entwickelte keinen gemeinsamen Fokus. Verbindende Ziele und Aktionen zu entwerfen blieb weniger komplexen Organisationen überlassen. 
  8. Wie könnte ein Fazit lauten? Der ›Care-Begriff‹ gehört noch einmal auf den Prüfstand. ›Care‹ ist nicht das, was ›Care-Worker‹ tun, es ist vielmehr eine Koproduktion aller, die an einer ›Care-Beziehung‹ beteiligt sind. Diese ist in den heutigen Institutionen – aller Inklusionsrhetorik zum Trotz – oft hierarchisch und bevormundend. Deshalb geht es nicht nur um eine besser ausgestattete Unterstützung, sondern um eine ganz andere, emanzipatorische Art, bestimmte Tätigkeiten zu organisieren. Möglicherweise muss man den ›Care-Begriff‹ aufgeben und stattdessen über konkrete gesellschaftliche Bereiche verhandeln – etwa Assistenz, Pflege oder Erziehung –, um einen karitativen Zungenschlag zu vermeiden und zugleich die verschiedenen Akteure an einen Tisch zu bringen.  

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