Zu den besten Traditionen unseres Kampfes als LGBTIQ* gehört es, dass wir uns immer wieder Vereinnahmung und Assimilierung widersetzen. Wir haben Dieins abgehalten, unser Leben auf Pride-Demos aufs Spiel gesetzt, wir waren bereit, Teil des Spektakels zu sein, und sogar willens, den gesammelten Hass auf uns zu ziehen – immer in der Hoffnung, dass uns dieser Einsatz der Emanzipation ein wenig näher bringt. Wir mussten mitansehen, wie sich eine Mainstream-LGBTIQ*-Bewegung herausgebildet und nach und nach von genau dieser Praxis verabschiedet hat. Viele von uns haben in den letzten Jahren eine Menge Zeit in Konferenzsälen und Hotelzimmern zugebracht, um diesem Mainstreaming der Bewegung etwas entgegenzusetzen. Das reicht aber nicht. Wir müssen stattdessen eigene Strategien entwickeln und neue Ressourcen erschließen, um eine Politik der Intersektionalität in wirklich alle gesellschaftlichen Bereiche und in alle Winkel des Landes zu tragen: in die Groß-, aber auch in die Kleinstädte, in die Schlafzimmer, ins Fernsehen, in die Vorstellungswelten der Menschen in diesem Land und auf dem ganzen Globus. Diese Strategien müssen all jene LGBTIQ*-Personen stärken, deren Interessen von der Mainstream-Bewegung nicht vertreten werden – und sie müssen gemeinsam mit bislang eher vernachlässigten Bündnispartnern entwickelt werden.

In den vergangenen Jahren ist es Southerners On New Ground (SONG) gelungen, Tausende aus der LGBTIQ*-Community im Süden der USA zu mobilisieren und neue Impulse zu setzen. 2011 haben wir eine Kampagne gegen die einwanderungsfeindliche Politik und Stimmung in Georgia angestoßen, in deren Verlauf extrem viele LGBTIQ*-Personen in einen Kampf eingestiegen sind, dem man – anders als klassischen Gay-Rights-Kampagnen – keinesfalls vorwerfen kann, lediglich für Partikularinteressen einzutreten. 2012 organisierten wir dann mit verschiedenen Bündnispartnern in North Carolina eine Kampagne gegen eine Gesetzesinitiative, durch die eine Privilegierung der traditionellen Ehe in der Landesverfassung verankert werden sollte, und zwar zulasten grundlegender Rechte aller unverheirateten Paare und deren Kindern. Der North Carolina News Service beschrieb dies als eine der größten Grassroots-Mobilisierungen in der Geschichte des Bundesstaates. 

Beide Kampagnen fanden im Süden der USA statt, in dem Teil des Landes also, von dem die Medien behaupten, hier seien Hass und Feindseligkeiten gegenüber benachteiligten Minderheiten beson-ders schlimm. Dennoch haben Tausende vonqueeren Südstaatler*innen und ihre Verbün-deten diese beeindruckenden Bewegungenauf die Beine gestellt. Sie haben sich mit ih-rem Schweiß und ihrer Stimme für eine neuequeere Agenda eingesetzt und sind damit zumTeil erhebliche Wagnisse eingegangen. SONGhat ihnen zugehört, ihnen einen Rahmen undeine grundlegende strategische Orientierunggeboten. Den Rest haben sie selbst in die Handgenommen. Und jedes Mal, wenn wir eineNeujustierung der Botschaft für notwendig er-achteten, um wegzukommen von einer zu enggefassten Ein-Punkt-Agenda einer Mainstream-Gay-Rights-Bewegung, reagierten unsere Leutedarauf mit Begeisterung, mit großer Zustimmung und enormem Engagement. 

Überall wächst die Zahl derjenigen, die es leid sind, dass wir als LGBTIQ*-Community auf die Angriffe der Rechten fast immer defensiv und mit Selbstrechtfertigungen reagieren. Dabei hören die Hetzer nicht auf, wenn man versucht, es ihnen recht zu machen. Es gibt nichts, wofür wir uns entschuldigen müssten. Und doch erleben wir, wie unsere Leute in der Öffentlichkeit nach wie vor keine Stimme haben und unsere Themen von allem »gereinigt« werden, was nach »Homo« klingt, indem man sie – immer natürlich im Namen der Gleichstellung – als Anliegen einer weißen Mittelschicht präsentiert. Derweil müssen wir in den Südstaaten zusehen, wie unsere Nachbar*innen verschwinden, wie Gras über ihre Häuser und die Läden wächst, die früher einmal unsere Kleinstädte belebt haben. Wir werden Zeugen, wie unsere Familienangehörigen verhaftet, eingesperrt und deportiert werden, wie unsere Leute zu unfreiwilliger Sexarbeit gedrängt werden, um zu überleben, und unsere Kinder im Gefängnis landen. Jedes Mal, wenn wir den Fernseher einschalten, lässt sich irgendwer über uns aus und bezeichnet LGBTIQ* als Perverse und Sündige, die es verdient haben, zu leiden, ausgegrenzt und gar getötet zu werden. Und was macht unsere Mainstream-Bewegung, die angeblich auch uns vertritt? Sie sagt, wir sollten auf politische Reformen warten. Sie vertrösten uns damit, dass auf der parlamentarischen und rechtlichen Ebene errungene Zugeständnisse irgendwann einmal auch uns zugute kommen werden. Aber wir – Menschen in den Südstaaten, Migrant*innen »ohne Papiere«, People of Color, Transgender-Leute, Menschen vom Land und Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen – sagen: Das reicht uns nicht. Angesichts der mangelnden Weitsicht der etablierten Organisationen ruft SONG vielmehr alle queeren Mitstreiter*innen dazu auf, sich am Aufbau einer kraftvollen Bewegung zu beteiligen und darin die Führungsrolle zu beanspruchen, die uns zusteht – unabhängig davon, ob unsere Organisationen lokal, regional oder landesweit aktiv sind. 

In diesem Text wollen wir skizzieren, wie wir uns das vorstellen – wie queere Befreiung aus der Perspektive der Südstaaten aussehen kann. Wir hoffen, dass das für andere Gruppen anregend ist und dass wir sie ermutigen können, für einen Moment innezuhalten, zuzuhören und sich auf die gegenwärtige gesellschaftliche Situation einzulassen.

Eine queere Befreiungsagenda für alle

Auf der Queer People’s Movement Assembly (PMA) 20121 haben wir uns vorläufig auf die folgende Definition eines Kampfes für queere Emanzipation geeinigt: »Queere Emanzipation zielt auf die Emanzipation aller, indem sie für die Anerkennung des gesamten Wesens eines Menschen eintritt. Sie kämpft für die Integrität der von uns gewählten Beziehungen und Familienstrukturen, für Selbstbestimmung über unsere Körper, unsere Sexualität, unser Geschlecht, unser Leben mit körperlichen Einschränkungen, unsere Erotik sowie für das Recht auf Sicherheit und Privatsphäre für alle Menschen. Wir bestehen auf einem würdevollen Umgang mit unseren spirituellen Praktiken, fordern ein faires Wirtschaftssystem, faire Arbeitsbedingungen und Löhne, die volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowie die Einhaltung der Menschenrechte und rechtstaatlicher Standards für alle, unabhängig davon, wo sie geboren sind.«2

Übertragen auf die Situation im Süden der USA bedeutet dies: Wir setzen uns mit unserem ganzen Menschsein für die uneingeschränkte Würde, Teilhabe, Sicherheit und Emanzipation allerLGBTIQ*-Personen und aller unsererMitmenschen ein. Wir arbeiten immervon einem Standpunkt der Vielfalt,der Pluralität und der Transformationaus. Intersektionalität bedeutet für unsnicht, lediglich mit LGBTIQ*-Gruppenmit ähnlicher politischer Ausrichtungzusammenzuarbeiten. Vielmehr bedeu-tet es für uns, Teil einer größeren, welt-weiten Emanzipationsbewegung zu sein und darin abgestimmt verantwortungsvoll bestimmte Aufgaben zu übernehmen. Für SONG heißt das, dass wir uns für eine angemessene Rolle von LGBTIQ* innerhalb dieses Kampfes einsetzen, und zwar ausgehend von unserem spezifischen Standpunkt und unserer gemeinsamen Herkunft: dem Süden der USA.

Über uns: Southerners On New Ground (SONG) und die Südstaaten

SONG gibt es seit 1993. Die Gruppe wurde auf Initiative von drei afroamerikanischen und drei weißen lesbischen Frauen gegründet, die damals von einer Organisation träumten, die Menschen über Race, Klasse, Kultur, Gender und Sexualität hinweg zusammenbringen, stärken und mobilisieren könnte. SONG hat deutlich gemacht, dass es bei den Kämpfen um mehr Gerechtigkeit nicht nur »um uns selbst« gehen kann, und hat als Erstes ein Netzwerk von in den Südstaaten lebenden LGBTIQ*-Organizern aufgebaut. Ihre Aufgabe war es, die Menschen in der Region zusammenzubringen und hinter Forderungen zu versammeln, die sowohl das Allgemeinwohl als auch den Kern unserer Bewegung betreffen. Diese politische Ausrichtung von SONG hat weniger damit zu tun, dass wir gerne themenübergreifend arbeiten wollten, sondern mit der Erkenntnis, dass sich jede Bewegung für die Emanzipation von LGBTIQ* genauso für die Belange unserer Communities, unserer Kinder und der Älteren unter uns einsetzen und Verantwortung übernehmen muss, nicht nur für unsere Körper, sondern auch für das Land, auf dem wir leben. Der Ansatz, über unsere »Paarbeziehungen« hinauszuschauen und uns in Beziehung zu unseren Communities zu setzen und dabei die Identitäten von Menschen nicht nach dem Schubladenprinzip zu sortieren und damit zu spalten, war der einzige Weg, um uns gegenüber uns selbst, aber auch gegenüber unseren Mitmenschen im Süden der USA zu öffnen und unsere Lebensweisen überhaupt sichtbar zu machen. Seit über 20 Jahren besteht unsere Praxis darin, Initiativen und Gruppen von LGBTIQ* aufzubauen, die an den Schnittstellen von Rassismus, Klassenverhältnissen, Kultur, Geschlecht und Sexualität arbeiten – und dies vor allem in Kleinstädten und ländlichen Gegenden im Süden des Landes. 

Die Arbeit von SONG ist in einem besonderen historischen Kontext verwurzelt und wird maßgeblich von unserem Glauben an Wiedergutmachung und unserem Vertrauen in diejenigen getragen, die von den bestehenden Herrschaftsverhältnissen an den Rand gedrängt werden. SONG’s Arbeit ist in die Geschichte eingebettet, weil der Süden reich an Menschen, Erfahrungen und Bewegungen ist, die vor uns kamen: die amerikanischen Ureinwohner*innen; Sklaverei; die Bürgerrechtsbewegung; Traditionen voller Widerstandskraft, Schönheit und Schmerz. Wiedergutmachung ist uns wichtig, weil wir überzeugt sind, dass der Süden zwar ein geografischer Raum ist, der besonders durch Rassismus, die Ideologie der White Supremacy und durch extreme Armut, brutale Methoden der Rohstoffgewinnung sowie Sklavenarbeit geprägt ist. Aber der Süden ist viel mehr als das. Er ist für viele auch ein Ort der Versöhnung und der Hoffnung – ein Ort, wo Menschen auf Land leben, das von Gewalt und Schmerz gekennzeichnet ist – im Wissen, dass es weh tut, diese Geschichte auf ehrliche Weise aufzuarbeiten; ein Ort, der es Menschen erlaubt, an Traditionen zu erinnern, anzuknüpfen und neue hervorzubringen. Der Glaube an die Marginalisierten ist uns wichtig, denn – trotz mangelhafter Infrastruktur und fehlender finanzieller Mittel, trotz Armut, Rassismus, Homo- und Trans*phobie und anderer Formen der Unterdrückung – haben die Menschen im Süden immer gekämpft und sich zusammengeschlossen, um zu überleben – wie andere Unterdrückte weltweit. Bewohner*innen des Südens zu sein, bedeutet intensive Verbindungen zu einer schweren Geschichte zu halten, visionäre Vorstellungen für die Zukunft zu entwickeln, immer weiterzumachen, Familie und Gemeinschaft zu schätzen, die Suche nach Ganzheit sowie die Erkenntnis, dass wir isoliert von anderen niemals frei sein können. 

Wir haben einen kreativen Umgang mit Verwandtschaftsstrukturen gefunden, der unseren Kampf stützt. So haben wir uns von unseren familiären Traditionen nicht abgewandt: Essenskultur, Gesang, Handwerk und Kunstwerk sind uns ebenso wichtig, wie das Wissen der alten Generation wertzuschätzen und unseren Kindern und Jugendlichen zuzuhören. Unsere Inspiration kommt von der Zeit, die wir teilen, von Momenten, in denen wir in der Küche eines unserer Mitglieder zusammensitzen, über Politik diskutieren, Gastfreundschaft genießen, Cornbread & Greens essen und durch die Hintertür auf den kleinen Bach schauen, der an ihrem Haus entlangfließt. Es erfüllt uns mit großer Zufriedenheit, wenn es gelingt, mit unserer Arbeit Menschen zusammenzubringen, die vorher isoliert waren, wenn wir denjenigen eine Stimme geben, die niemals zu Talkshows eingeladen werden, und wenn Heimat ein Ort wird, an dem man auch mit Queerness zu Hause ist. Zu unserer Arbeit gehört es deshalb auch, das Recht auf Rückkehr an die Golfküste für alle zu fordern, die im Zuge von (Natur-)Katastrophen ihre Häuser und Wohnungen verlassen mussten. Das betrifft vor allem People of Color und arme Menschen. Und wir treten für gesellschaftliche Verhältnisse ein, die es LGBTIQ*-Menschen ermöglichen, in den Süden zurückzukehren oder erst gar nicht von dort wegziehen zu müssen. Viele führen einen alltäglichen Kampf darum, bleiben zu können, oder suchen nach Wegen, sich wieder dort niederzulassen. Wir lieben diesen Teil des Landes und sehen einen Teil unserer Aufgabe darin, ihn zu einer Gegend zu machen, in der sich queere Menschen wohlfühlen und selbstbestimmt, in Würde und mit Respekt ihrer Nachbarn leben können. Unsere Arbeit speist sich auch aus dem Wissen um die Ängste und um das Heimweh, das viele LGBTIQ*, die auf dem Land oder in Kleinstädten aufgewachsen sind, erfasst, wenn sie ihre Heimat verlassen und in die Großstädte oder in »den Norden« ziehen (müssen). Wir rufen daher unsere Communities auf, anzuerkennen, dass das Leiden anderer nicht verschwindet, nur weil man ihnen den privilegierten Rücken zukehrt. Mit Ignoranz gegenüber der Situation anderer werden wir unsere Communities weder stärken noch zusammenbringen. 

Gewalt, Erwerbslosigkeit und eine massive soziale Isolation sind die zentralen Faktoren, die einer Organisierung von LGBTIQ*-Menschen in vielen kleineren Städten im Süden der USA entgegenstehen. Das trifft auch auf viele andere Communities zu. In manchen Gegenden ist SONG die einzige LGBTIQ*-Organisation, was Vorteile, aber auch Herausforderungen mit sich bringt. Positiv ist, dass die meisten unserer neuen Mitglieder voller Elan und Motivation sind und gerade deshalb Aufgaben und Verantwortung übernehmen, weil sie wissen, dass unsere Mittel begrenzt sind. Negativ ist, dass viele, wenn sie das erste Mal mit SONG in Kontakt treten, überhaupt keine Vorstellungen davon haben, wie politische Arbeit aussieht oder was »Gay Pride« überhaupt bedeuten soll. Weil es in den Südstaaten kaum LGBTIQ*-Organisationen gibt, benötigen wir häufig viel Zeit, um herauszufinden, wie weit wir in manchen Communities gehen und wie wir dort Grundstrukturen aufbauen können. Nur 15 der im Süden der USA aktiven LGBTIQ*-Organisationen verfügen über mehr als zwei oder drei bezahlte Mitarbeiter*innen. Und dort, wo es überregionale Verbände gibt, sind oftmals nur zwei bis drei Personen für einen ganzen Bundesstaat zuständig – mit der bemerkenswerten Ausnahme von Florida, wo es mit Equality Florida gut funktionierende Strukturen gibt. In der Regel waren es nationale Organisationen, die in den zurückliegenden zehn Jahren politische Initiativen in Bezug zu LGBTIQ*-Anliegen in den Südstaaten angestoßen haben. Meist wurden die lokalen LGBTIQ*-Strukturen gar nicht nach ihrer Meinung gefragt, ob sie sich an diesen von außerhalb organisierten, mehr oder minder aussichtslosen Kampagnen (etwa zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Georgia, South Carolina und Kentucky) beteiligen wollen. Von daher sind die Mitglieder von SONG im Süden mehrheitlich eher skeptisch gegenüber national agierenden Organisationen und ihren Aktivitäten eingestellt.

Der Süden als Labor: Wie die Rechte LGBTIQ* als Feindbild nutzt

Um zu verstehen, wie wir am besten wirksam werden können, müssen wir nicht nur unsere Communities kennen und wissen, welche Bedürfnisse sie haben. Wir müssen uns auch damit auseinandersetzen, welche Rolle die Rechte uns zugedacht hat. Sie befindet sich in einer extremen Aufschwungsphase und lenkt mit ihrem rechten Agenda Setting von den Interessen und Ungerechtigkeiten des globalisierten Kapitalismus ab. Insbesondere der theokratische Teil der Rechten hat es geschafft, dass für die Mehrheit der Wähler*innen im Süden »konservative Familienwerte« das ausschlaggebende Thema sind. Um für diese Agenda die benötigten Stimmen zu bekommen, haben sie ein vielarmiges Ungeheuer kreiert: Frauenrechte, Gleichstellung von Homosexuellen, Sexualerziehung, Familienstrukturen, die nicht der klassischen Vater-Mutter-Kind-Konstellation entsprechen, und schließlich das, was alldem vermeintlich zugrunde liegt: die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung. Sämtliche Strategien der Rechten im Süden der USA basieren auf Ressentiments gegenüber der Bürgerrechtsbewegung. Selbst wenn Homophobie im Fokus zu stehen scheint, geht es doch immer auch um rassistische Diskriminierung. Die Rechte verfolgt einen zutiefst patriarchalen und fundamentalistischen Autoritarismus. Homosexualität nutzt sie als Thema zur Polarisierung, um massenhaft Wähler*innen zu gewinnen, sowie Millionen von Dollar einzuwerben und Angehörige der LGBTIQ*-Community als krank, sündhaft, familienfeindlich und sexuell pervers zu denunzieren. Es ist Bestandteil der rechten Strategie, einen Keil zwischen LGBTIQ* und ihre Communities zu treiben und sie von ihren Familien und Kindern oder Kindern im Allgemeinen zu trennen. Das ist ein klassischer Ansatz, um uns zu entmenschlichen und zu zerstören. 

Es überrascht wenig, dass die Rechte diese Strategien zuerst im Süden des Landes ausprobiert. Zu den Stereotypen über die Südstaaten gehört, dass in den überwiegend ländlichen Gegenden vor allem armen Weiße wohnen, die besonders konservativ und religiös sind. Das ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit. Der Süden ist schon lange eine Region mit einem der höchsten hispanischen und afroamerikanischen Bevölkerungsanteile. Zugleich stimmt es, dass die Menschen in den Südstaaten überproportional arm sind, mehrheitlich der Arbeiterklasse angehören und mehr als anderswo in ländlich geprägten Regionen leben. Den Süden zu ignorieren heißt auch, diese Communities und deren Interessen und Bedürfnisse zu ignorieren. Der Süden ist aber mehr als nur eine unter vielen Regionen. Er verkörpert und symbolisiert den Machtkampf, der in den USA um Fragen der Kultur und Lebensweise sowie der Migration und Bevölkerungszusammensetzung tobt. Der Rechten ist es gelungen, die Progressiven davon zu überzeugen, dass es für sie in den Südstaaten nichts zu gewinnen gibt. Diese Haltung muss sich ändern, wenn wir die Grundpfeiler dieser rechten Strategien ins Wanken bringen wollen.

Wir brauchen Mut und Entschlossenheit

Als Menschen im Süden wissen wir, dass wir nicht in der Lage sein werden, die strategischen Schritte allein zu gehen, die nötig sind, um den Kampf um queere Emanzipation global auf die nächste Stufe zu heben. Was wir brauchen, sind ein steter Dialog, Kooperation und ein verbindliches Engagement für die gemeinsame Sache. Nur so können wir mit möglichst vielen und mit euch, die ihr dies lest, kollektiv voran kommen. Folgende Punkte verstehen wir als Diskussionsangebot, um uns über die nächsten Schritte unserer gemeinsamen Agenda zu verständigen:

  • Angesichts der Niederlagen, die wir bei Wahlen und Abstimmungen zu unseren Anliegen in Kauf nehmen mussten, selbst wenn sie noch so weichgespült waren, wie im Fall der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, müssen wir neue und andere Strategien entwickeln, um unsere Forderungen und Inhalte, unsere Communities und unsere Arbeit voranzubringen.
  • Unsere theoretische und intellektuelle Arbeit zu Intersektionalität muss dringend mit symbolischen und auf mediale Breite zielenden Maßnahmen verbunden werden, und mit direkten Aktionen sowie dem Aufbau von Basisstrukturen durch ein Organizing von unten. Wann immer es uns gelingt, solche Verbindungen produktiv herzustellen, müssen wir diese Arbeit dokumentieren, verbreiten und an anderer Stelle wiederholen.
  • Es ist außerdem wichtig, unsere Widerstandskraft und unsere Problemlösungskapazitäten zu stärken und ihnen einen mindestens genauso hohen Stellenwert beizumessen wie unserer Fähigkeit zur Kritik. 20 Jahre lang haben wir die Mainstream-LGBTIQ*-Bewegung kritisiert – zu Recht –, darüber aber versäumt, eigene Ansätze zu entwickeln, die über die Kritik hinaus ein gesellschaftsveränderndes Potenzial haben und gemeinsames Handeln ermöglichen. Wenn jemand an der Spitze unserer Bewegungen einen Fehler macht, zerreißen wir diese Person oft in der Luft. Damit muss Schluss sein, wenn wir unser Ziel einer queeren Emanzipation effektiver verfolgen wollen.
  • Wir müssen Neues ausprobieren und lernen, Chancen dann zu ergreifen, wenn sie sich bieten. Da wir mangels Ressourcen nicht alle Probleme auf einmal angehen können und folglich Entscheidungen treffen müssen, bleiben wir häufig in strategischen und taktischen Diskussionen stecken. Diese in der queeren Linken vorherrschende Tendenz, sich in Prozessen zu verheddern, müssen wir überwinden, weil wir sonst endlos darüber streiten, warum wir uns mit kleinen Gruppen von 20 oder manchmal weniger abgeben, während wir mit unserer Arbeit an anderer Stelle Hunderttausende erreichen könnten. Es gibt in einer Situation, in der so viele von uns unter den Verhältnissen leiden, keine perfekten Entscheidungen. Wir müssen unseren Stolz und unseren Perfektionismus zurückstellen und uns darauf konzentrieren, neue Strategien einfach auszuprobieren – in dem Bewusstsein, dass wir Fehler machen, wenn wir versuchen, konkrete Ziele zu erreichen, Forderungen durchzusetzen und Erfahrungen zu sammeln.
  • Wir sollten daran arbeiten, die Kommunikation untereinander und mit den Medien intersektional und gleichzeitig verständlich zu gestalten. Es wird so viel über LGBTIQ* gesprochen, während unsere eigenen Stimmen und unsere Sichtweisen auf unser Leben darin kaum vorkommen. Diejenigen aus der Bewegung, die Gehör finden, vertreten meist eine Mainstream-Agenda.
  • Eine weitere Aufgabe besteht darin, vertrauensvolle Beziehungen zu neuen Bündnispartnern aufzubauen, die auf den ersten Blick vielleicht nicht zu den naheliegendsten zählen. Wir denken dabei vor allem an Organisationen, die verschiedene marginalisierte Communities repräsentieren. Aus einer geteilten Erfahrung der Ausgrenzung und des Kampfes dagegen ergibt sich auch die Herausforderung, sich auf gemeinsame Risiken der Zusammenarbeit einzulassen. Denjenigen, die über Privilegien und Zugang zur Macht verfügen, mag das Wagnis der Bündnisarbeit nicht so groß erscheinen. Für viele von uns ist das jedoch anders. Dennoch haben unsere Leute (im Süden oder anderswo) unter Beweis gestellt, dass sie bereit sind, diese Risiken einzugehen. Wir sollten diesen Mut und diese Entschlossenheit in unsere strategischen Überlegungen einbeziehen.
  • Wir sollten außerdem anerkennen, dass für viele queere Aktivist*innen ihre Arbeit sowohl eine politische als auch eine spirituelle Dimension hat. Von den 16.000 Freiwilligen, die sich in North Carolina an der Kampagne von SONG für eine andere Familienpolitik beteiligt haben, sind um die 35 Prozent gläubig. Unsere Organisationen und Bewegungen müssen den Bedürfnissen ihrer Basis gerecht werden. Die Herausforderung besteht darin, dass sich diese Menschen mit ihrem Glauben in unserer Arbeit wiederfinden. Was nicht heißt, dass wir nicht gleichzeitig daran festhalten, alle Formen von religiösem Fundamentalismus und Überlegenheitsansprüchen abzulehnen.
  • Unsere politische Arbeit und die Organisierungsansätze müssen zudem in Einklang stehen mit unseren grundsätzlichen Werten, unserer Geschichte sowie dem Erbe vorangegangener Bewegungen. Entsprechend sollten unsere aktuellen Strategien die langfristigen Ziele und Hoffnungen auf Befreiung immer im Blick haben, ganz egal, wie langfristig diese Perspektive auch sein mag und wie groß die Hindernisse sind, die wir dafür zu überwinden haben. Es ist jedoch wichtig, in dieser langfristigen Perspektive Zwischenziele zu definieren, die wir realistisch erreichen können und die sich an den konkreten Bedürfnissen unserer Leute orientieren.
  • Es stünde uns gut an, uns im Prozess der Erneuerung und Transformation unserer Organisationen und der Art und Weise unserer Führung gegenseitig zu unterstützen und wohlwollend miteinander umzugehen. Wir sollten uns immer wieder fragen, ob wir bereit sind, uns im Zuge dieser politischen Arbeit selbst zu verändern. Dass wir diese Arbeit immer noch machen, hat damit zu tun, dass andere mit uns Geduld hatten. Umgekehrt liegt es an uns, geduldig mit anderen zu sein.

Fazit

Es hängt nichts weniger als unser Überleben von dem Erfolg dieses queeren Befreiungskampfes ab. Insofern werden wir das hier vorgestellte Programm in jedem Fall weiterverfolgen, unabhängig davon, ob es von größeren nationalen Organisationen und Verbänden übernommen wird oder nicht. Trotzdem rufen wir diese auf, sich dieser Agenda anzuschließen. Wir rufen alle etablierten Organisationen dazu auf, ihre Ressourcen stärker als zuvor zugunsten von Graswurzelinitiativen zu nutzen, deren Vertreter*innen mit Respekt zuzuhören, mit ihnen zu diskutieren und gemeinsam mit all denjenigen zusammenzuarbeiten und Strategien zu entwickeln, die an den Frontlinien kämpfen. Wir werden an dieser Arbeit festhalten und sie weiterentwickeln, wobei wir auf die besondere Unterstützung von langjährigen Bündnispartnern zurückgreifen können, darunter die Gruppen, die sich im Bündnis ROOTS zusammengeschlossen haben: die Astraea Lesbian Foundation for Justice, das Projekt South, die Georgia Latino Alliance for Human Rights, das National Day Laborers Organizing Network und viele andere. Unsere Arbeit wäre ohne diese größeren Zusammenhänge und das historische Vermächtnis von Bewegungen, auf das wir zurückgreifen können, nicht denkbar. Wir hoffen, dass etwas von dieser Arbeit und den obigen Ausführungen für euch als Leser*innen hilfreich ist.   

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Scholar and Feminist Online des Barnard Center for Research on Women. Aus dem Englischen von Britta Grell Zur aktuellen Arbeit von SONG siehe auch das Interview mit Caitlin Breedlove in diesem Heft.

1 Diese Versammlung fand während der Konferenz »Creating Change« 2012 in Baltimore statt. Eine erste solche Assembly wurde auf dem Sozialforum USA 2010 in Detroit abgehalten. 
2 Vgl. hierzu http://peoplesmovementassambly.org/node/419#queer

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