Zu Zeiten des Lockdowns hat Ramziyah, ein zehnjähriges Mädchen aus einer geflüchteten Jesiden-Familie, jeden Schultagsmorgen an ihrem Tablet verbracht (vgl. die Nahaufnahme in diesem Heft). Ihre Klassenlehrerin Margret N. hat die 25 Schüler*innen pünktlich um halb neun vor dem Bildschirm versammelt, und sie hat darauf geachtet, dass alle dabei- sind. Bis 13.30 Uhr mussten sie ihr die am Tag erledigten Aufgaben schicken. »Gerade im Homeschooling war es wichtig, ihnen eine Struktur zu geben,« sagt sie. Unter den Arbeitsaufträgen waren auch praktische Projekte wie Experimente mit Wasser oder Wetterbeobachtungen, die die Kids in Gruppen erledigen konnten. Ihr war es wichtig, alle Kinder zu erreichen, sie nicht alleinzulassen, und das sei ihr fast besser gelungen als im Präsenzunterricht. Zumal sie die Eltern mit ins Boot geholt hat, die nun mitverfolgen konnten, woran ihre Kids so arbeiten. Offenbar muss man sich schon ein wenig im digitalen Raum auskennen, um in Online-Sitzungen Arbeitsgruppen einzurichten, denn längst nicht alle Lehrer*innen haben das geschafft.
Viele Lehrkräfte fühlten sich überfordert: Videokonferenzen, die Überprüfung der Aufgaben, der Kontakt mit Eltern und Schüler*innen – wer das alles ernst genommen hat, kam schnell auf eine 60-Stunden-Woche, wie es Margret N. gegangen ist. Bei der Aneignung der neuen Techniken und ihrer Möglichkeiten waren sie ziemlich auf sich allein gestellt. Nur wenige Schulen konnten so schnell eine systematische Fortbildung aus dem Boden stampfen, wie es nach dem Abbruch des Präsenzunterrichts nötig gewesen wäre. Da tun sich Welten auf zwischen Lehrkräften, die zumindest bereit sind, sich auf die neuen Techniken einzulassen, und jenen, denen diese nach wie vor fremd, unheimlich, ja feindlich erscheinen, auch weil sie sich durch die neuen Herausforderungen infrage gestellt sehen.
Ramziyah hat ein Tablet von der Schule bekommen, einen Drucker haben sie nicht zu Hause. Wenn sie etwas ausgedruckt haben will, schickt sie es den Nachbarn. Sie hat zumindest ansatzweise gelernt, selbstständig zu arbeiten, auf ihre Zeiteinteilung zu achten, und sie weiß nun, dass man mit Computern auch anderes machen kann als zu spielen.
... ziemlich unvorbereitet
So wie bei Ramziyah und Margret sieht es nicht in jeder Grundschulklasse aus. Zunächst hapert es an der Ausstattung. Die GEW hat dazu eine Studie in Auftrag gegeben, die besagt, dass nur an etwa der Hälfte der Schulen die technischen Voraussetzungen für die Nutzung digitaler Medien gegeben sind – ein auch für Schüler*innen nutzbares WLAN, Endgeräte, technischer Support, oder gar eine eigene Schul-Cloud, um nur einige zu nennen.1 Insofern ist die Forderung nach besserer Ausstattung berechtigt.
Die Umsetzung des Homeschooling war außerdem stark vom Engagement und den Fähigkeiten der Lehrer*innen abhängig. Margret N. hat sich ihre Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit Lernsystemen allein angeeignet. Und die Betreuungsdichte hat sie sich selbst zum Maßstab gesetzt. Also: mehr Lehrkräfte und mehr Fortbildungen.
Mit der durch die Pandemie erzwungenen Nutzung von Internet und Computern brach für viele Lehrkräfte eine immer noch neue Welt in die Schule ein und stellte über Jahrhunderte überlieferte Routinen infrage. Gelernt wird nicht mehr in der gewohnten Formation im Klassenraum, sondern individuell, zu Hause vor dem »Endgerät«. Der 45-Minuten-Takt ist perdu, die Schüler*innen können oder müssen sich ihre Zeit selbst einteilen. Anleitung und Begleitung durch die Lehrperson sind nicht mehr durch den Raum und die gemeinsam verbrachte Zeit vorgegeben – eine Herausforderung für Lehrende, Schüler*innen und auch die Eltern. Doch Kinder brauchen Anleitung und Betreuung. So schnell wird es die dafür ausgebildeten Lehrer*innen nicht geben. Einige Schulen kooperieren mit Universitäten – Studierende für das Lehramt können diese Aufgabe übernehmen. Eine Win-win-Situation, wie es so schön heißt: Die Studierenden sammeln Erfahrungen, ihnen gelingt es oft sogar besser, den Kontakt zu den Eltern herzustellen.
Die Gelegenheit beim Schopf packen
Digitale Medien bieten zweifellos bessere Möglichkeiten, das Lernen an individuellen Bedürfnissen auszurichten, also jede*n Schüler*in nach einem Programm lernen zu lassen, das auf ihren Entwicklungsstand zugeschnitten ist und auch noch nach den Leistungen im jeweiligen Fach differenziert. Doch damit schlagen auch die Tücken der Individualisierung zu: Fehler und Umwege sind für den Bildungsprozess wichtig – sie werden nun vermieden. Lernen ist ein sozialer Prozess, er entsteht, wenn Menschen mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen zusammenwirken, sich helfen, bestärken und korrigieren. Das tun angeblich auch schlaue Programme, aber wenn der soziale Kontakt fehlt, hat das schwerwiegende Folgen für das Lernen wie für die psychische Gesundheit der Kinder.
Tatsächlich hat sich die soziale Spaltung durch Homeschooling vertieft. Die Leopoldina (2021, 9) stellt in ihrer Ad-hoc-Stellungnahme vom 21. Juni fest, »dass die Leistungseinbußen für Kinder mit schwächeren Vorleistungen und aus Familien mit wenigen Ressourcen besonders groß sind. Kinder und Jugendliche aus Familien, in denen die Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss haben, nehmen die Pandemie als belastender wahr. Sie empfinden das Lernen als anstrengender und haben häufiger Probleme, den schulischen Alltag zu bewältigen.«
In der einen Familie sind Eltern und Geschwister geübt, ihre Arbeit mit Computern und übers Internet zu erledigen, in der anderen Familie fungieren ähnliche Geräte vor allem als Spiel- und Unterhaltungsmedium. Kinder, die ihren Wochenplan auf dem Display eines Smartphones angucken müssen und keine Möglichkeit haben, etwas auszudrucken, sind im Homeschooling zusätzlich benachteiligt.
Corona hat gezeigt, was Schüler*innen und Lehrer*innen an Schule wichtig ist: ein sozialer Raum, ein Ort der Begegnung, der Kommunikation, sei es im Unterricht oder in der Pause, beim Fußballspielen oder bei den Theaterproben. Die erste Empfehlung der Leopoldina lautet daher: »Offenhalten von Bildungseinrichtungen unter Berücksichtigung geeigneter Schutzmaßnahmen und Ermöglichen eines Präsenzbetriebs, da für nahezu alle Kita-Kinder und Schulkinder der Präsenzbetrieb in Kitas und Schulen die effektivste Art des Lernens ist.« (Ebd., 2)
Wenn Schule als Raum der Kooperation und Begegnung wichtig ist, müssen wir über ihre Gestaltung neu nachdenken: Warum wird der Unterricht in Klassengröße und im 45-Minuten-Takt organisiert? Muss es nicht andere Formen der Zusammenarbeit geben, also Gruppenarbeit, Projektarbeit? Die Arbeit am Computer und im Internet erschließt neue Möglichkeiten der Recherche und der Präsentation der Arbeitsergebnisse. Muss die Schule nicht dafür im wörtlichen Sinn Raum geben, also eine andere Raumaufteilung anbieten? Und natürlich braucht eine so organisierte Schule auch mehr Personal. Nur: Lehrer*innen fehlen schon heute. Warum nicht für begrenzte Aufgaben andere Fachkräfte, Künstler*innen, Handwerker*innen, Journalist*innen in die Schule holen? Für die 4,3 Milliarden Euro, die als »Kinderbonus« von 300 Euro ausbezahlt wurden – »ein konsumförderndes Strohfeuer« –, könnte man alle 240 000 Lehramtsstudierenden für ein Jahr in die Schulen holen, mit monatlich 1 500 Euro, hat Matthias Greffrath (2021) für einen Essay im Deutschlandfunk ausgerechnet.
Jetzt wäre es Zeit, Schule neu zu denken. Doch stattdessen wollen die Kultusminis-ter*innen möglichst schnell zurück zum Alten, das sich nicht bewährt hat. Es geht nur darum, die Lücken in den Hauptfächern zu schließen, den Stoff nachzuholen, also mehr von der alten Paukschule.
Digitalisierung lernen
Es reicht nicht, neue Medien als Lernmittel zu integrieren. Bei der Digitalisierung geht es um einen gesellschaftlichen Prozess, der auch Gegenstand und Inhalt von Bildung, also von Schule und Lernen werden muss. Das Internet ist »zur vielleicht wichtigsten Infrastruktur der Welt geworden« (Daum 2020, 7). Selbst unter Medienkritiker*innen ist unstrittig, dass digitale Medien zum Thema in der Schule werden müssen. Kinder und Jugendliche lernen ohnehin damit umzugehen, ganz ohne Schule, und sie machen auf diesem Gebiet Eltern und Lehrer*innen etwas vor.
Die Wahrnehmung von Welt verändert sich dadurch. Sie geht mit Verlusten einher, die in der Struktur des Mediums liegen: Lernen mit allen Sinnen etwa. Förderpädago-g*innen üben mit ihren Schüler*innen Lesen und Schreiben mit Russisch Brot – da hat man etwas zum Anfassen. Schreiben mit der Hand entwickelt nicht nur sensorische, sondern auch intellektuelle Fähigkeiten (vgl. Schmermund 2020). Die schiere Unendlichkeit des Cyberspace nährt die Illusion, dass alles Wissen verfügbar sei, es entsteht eine virtuelle Welt, deren Bezug zur materiellen Realität immer wieder überprüft und hergestellt werden muss. Und diese Welt scheint auf geheimnisvolle Weise vernetzt durch »Hypertextualisierung«. Da fragt sich die Old-School-Denkerin: Wo bleibt die Systematik? Eine gigantische Aufgabe für Bildung!
Digitalisierung wird oft als ein Schicksal dargestellt, das über uns hereingebrochen ist, das sich selbstständig vollzieht und unilinear ist, dem man in der Bildung also nur noch folgen kann. Doch wissen wir ja von anderen technisch-wissenschaftlichen Prozessen: Sie sind steuerbar, können sich so oder so entwickeln. Ihre scheinbare Alternativlosigkeit ist eine Ideologie, die gerade durch das Umdenken in der Klimakatastrophe gründlich infrage gestellt wird. Ein Bewusstsein davon zu entwickeln, ist vordringliche Aufgabe von Bildung.
Der Maßstab für Bildung muss sein, ob sie allen, unabhängig von ihrer Herkunft, alle Möglichkeiten erschließt, sich diese Welt anzueignen, sich selbst im Gestaltungsprozess, der Arbeit heißt, zu verändern; ob sie Möglichkeiten eröffnet, die die Gesellschaft gegenwärtig der Mehrheit noch vorenthält: so sprechfähig zu sein, dass man am öffentlichen Diskurs teilnehmen kann, hinterfragen zu können, was sich im Betrieb und in den unmittelbaren Beziehungen tut, nachvollziehen zu können, was bei den Koalitionsverhandlungen oder in den Nachrichten verhandelt wird.
Sicherlich muss man den praktischen Umgang mit den neuen Medien erlernen, aber auch, wie man sie sinnvoll nutzen kann – das enthält schon eine gesellschaftliche Perspektive. Davon bekommen die Schüler*innen jetzt dank Corona einiges mit. Wichtig ist aber auch, wie diese Medien die Beziehungen der Menschen untereinander verändern, wie sich Arbeitsprozesse, Öffentlichkeit, Konsumverhalten wandeln. Das sind Themen, die weit über einen anwendungsbezogenen Informatikunterricht hinausgehen. Bildung kann hier auch Kritikfähigkeit stärken, sie ermöglicht es, die Welt, die Gesellschaft, den Gegenstand, die Beziehung dazu aus der Distanz zu betrachten, sich von der unmittelbaren Anschauung – oder der Begeisterung für das tolle neue Gerät – zu distanzieren.
Mit der scheinbar unendlichen Verfügbarkeit von Informationen nimmt die Selektivität dessen zu, was wir noch wahrnehmen können, es entstehen die »Filterblasen«, Fake News finden ihre gläubigen Abnehmer*innen. Digitalisierung, die Individualisierung vor dem Bildschirm macht die Schule als Sozialraum nicht überflüssig, im Gegenteil. Bildung, die auf den kritischen Umgang mit Digitalität vorbereitet, kann aber nicht in einem weiteren Schulfach »Informatik« geleistet werden. Nötig ist es, ein breites philosophisches, gesellschafts- und sprachwissenschaftliches Grundgerüst zu schaffen, das Bildung im Sinne von Kritikfähigkeit fördert.
Digitalisierung findet darüber hinaus in einem interessengeleiteten sozialen Raum statt. Der Markt von Medien, Netzen und Programmen ist hochgradig monopolisiert. Nicht nur die Schulen sind ein gigantischer Markt. Die Verkäufer*innen von Netzen und Hardware können dort ihre künftigen Konsument*innen konditionieren. Und die Sammlung und Auswertung der Informationen, die übers Netz gehen, sind die neuen Waren der Internetindustrie, an deren Erzeugung nun auch Schüler*innen und Bildungseinrichtungen nolens volens beteiligt sind. Wenn wir uns dem kaum mehr entziehen können, dann wird es umso wichtiger, darüber in den Schulen aufzuklären.
Wo wir hinwollen
Für eine linke Debatte um Bildung heißt das: Zu lernen, dass man auf Computern nicht nur spielen und chatten kann, sondern was sonst noch alles damit möglich ist, gehört unbedingt zur Allgemeinbildung. Die Informationstechnik bietet die Chance, sie im Lernprozess gerade dort einzusetzen, wo besondere Unterstützung vonnöten ist, etwa bei der Aneignung der deutschen Schriftsprache, im Fremdsprachenlernen oder in der Mathematik. Die Möglichkeiten sind vielfältig.
Bildung bedeutet aber auch die Fähigkeit, sich von der Unmittelbarkeit der Anschauung distanzieren zu können, Differenz zu erkennen. Um zu verstehen, worum es bei der Digitalisierung geht, und um künftige neue Entwicklungen einordnen zu können, brauchen wir nicht in erster Linie die Kenntnis der neuesten Gerätschaften und Programme, sondern, wie man so schön sagt, solide Bildung. Aber diese besteht eben nicht nur aus Geisteswissenschaften und naturwissenschaftlichen Grundlagen, sondern darin, auch technologische Entwicklungen auf der Höhe der Zeit zum Gegenstand schulischer Bildung zu machen. Hier ließe sich an die Ideen der polytechnischen Bildung – in ihrer Doppelbewegung aus systematischer Einsicht und praktischer Anschauung – anknüpfen (vgl. Hein in diesem Heft).
Auch die Rolle des*der Lehrer*in verändert sich. Für manche scheint die aktuelle Entwicklung die Erfüllung eines scheinbar antiautoritären Traums: die Egalisierung der Lehrer*innen, die ihre Führungsrolle verlieren und zu Lernbegleiter*innen werden. Schule als Zwangsanstalt könnte überflüssig werden, alle könnten am heimischen Computer lernen, sich zu freien Lerngruppen zusammenfinden. Soziale Medien erleichtern das ja. Klingt schön, aber tatsächlich wird so die Vorstellung vom individualisierten Lernen am Computer auf die Spitze getrieben. Aus Individualisierung wird schnell Vereinzelung, aus sozialem Lernen in einer heterogenen Gruppe wird isoliertes Pauken. Solche Horrorszenarien stehen den Kritiker*innen der Digitalisierung in der Schule vor Augen.
So wird es aber nicht kommen. Ivan Illich wollte die Schule als Institution abschaffen und auch Alexander Sutherland Neill hatte so etwas im Sinn. Deren Erwartungen sind nicht eingetreten. Und deshalb müssen wir auch nicht befürchten, dass dies den Protagonist*innen der Digitalisierung gelingen wird. Mit gutem Grund wollen wir obsolete Rituale und Praktiken abschaffen, wie die 45-Minuten-Unterrichtsstunde, Noten und Zeugnisse, aber vielleicht steckt da auch eine Dialektik im Beharrungsvermögen der Institution Schule – dass es uns vorerst das Horrorszenario erspart, in dem die Schule durch Netzwerke, die Lehrerin durch Computer, Zeugnisse durch Computerdiagnostik und Lehrpläne durch Lernprogramme ersetzt werden. Wir sollten aber die Chancen nutzen, die die Digitalisierung für eine Transformation von Schule bietet: Die Bereitstellung von Wissen wird durch die Maschinen erleichtert, die Schule kann sich auf das Wichtigste konzentrieren, auf die Stiftung von Sinn und Gesellschaftlichkeit, oder, wie Matthias Greffrath (2021) schreibt: »Die öffentliche Schule muss zu dem Ort werden, an dem es um die Frage gehen muss, wo wir hinwollen und wie wir da hinkommen, ein Ort, an dem Archäologie, Anthropologie und Astronomie eine Rolle spielen sollten.«
Zum Thema Digitalisierung und Bildung hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung ein Materialheft veröffentlicht: Heinemann, Karl-Heinz (Hg.), 2019: Digitalpakt und die Folgen. Was und wem soll digitale Bildung nützen? Materialien Nr. 30, Berlin