Wenn wir all dies sehen, besteht die unmittelbare Reaktion darin, zu sagen, dass wir für eine Beseitigung der Armut und ein Ende des Unrechts kämpfen müssen. Wir brauchen den ökonomischen Fortschritt und wir brauchen eine Regierung, die eine Politik zum Wohle des Volkes macht und die Strukturen des Unrechts angreift, eine Regierung, die versuchen wird, sich vom Neoliberalismus zu befreien, der seit ungefähr 30 Jahren so viel Elend in der Region verursacht hat, und die für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der Bildungssituation arbeiten wird. Wie wir wissen, gibt es mittlerweile eine Reihe von Regierungen, die fest entschlossen sind, wichtige Veränderungen in dieser Richtung durchzuführen und das ist ganz eindeutig zu begrüßen. Aber es gibt noch mehr zu sagen. Gehe zurück zu den armen Leuten von denen wir ausgegangen sind und spreche mit ihnen, oder höre ihnen vielmehr zu. Und während Du ihnen zuhörst, öffnen sie sich. Du siehst sie nicht als arme Menschen, die bedauert werden müssen und um die man sich kümmern muss, sondern als kämpfende Menschen, als Menschen, die in einem täglichen Kampf ums Überleben und häufig in einem kollektiven Kampf für eine bessere Gesellschaft stehen. In dieser Armut entdecken wir die Würde der Armen – und unsere eigene. In dem Objekt ein objektiviertes Subjekt, das gegen ihre eigene Objektivierung kämpft. Dies verändert alles, denn es verändert die Art und Weise, wie wir über Politik denken, wie wir politisch organisieren und wie wir die Entwicklungen in Lateinamerika und der Welt verstehen. Zuerst einmal bricht die Würde den Staat als politische Organisation. Das Konzept der Armut führt zu einer staatsorientierten Politik: die Armen sind ein sie – arme Menschen – und wir ändern etwas für sie, indem wir stellvertretend für sie Verbesserungen durchführen. Der Staat ist eben genau jenes: eine Gruppe von Fachleuten, die behaupten, Sachen stellvertretend für Menschen zu tun und dies beinhaltet immer, eine Vorstellung dessen durchzusetzen, was zum Wohle des Volkes ist, Menschen als Objekte zu behandeln. Würde besagt andererseits, „Nein, vielen Dank, tut nichts stellvertretend für uns, wir werden es selbst machen.“ Politik vom Subjekt aus zu denken, heißt, sich verschiedene Formen der Organisierung vorzustellen, Formen, die den kollektiven Willen aller Beteiligten zum Ausdruck bringen – Versammlungen, Räte, Kommunen, juntas de buen gobierno[2], Formen der Organisierung, die darauf abzielen, die Trennung der Politik vom Alltagsleben zu überwinden. Dies wird häufig als Politik der Autonomie oder als Dialog statt Monolog, als Zuhören statt Reden bezeichnet. Die ZapatistInnen nennen es mandar obedeciendo[3]: eine Form der Organisierung, die die tatsächliche Unterordnung aller Entscheidungen unter den kollektiven Willen der Gemeinschaft herzustellen sucht. Dies stellt eine Kritik der repräsentativen Demokratie dar. Ein Repräsentant ist jemand, der stellvertretend für uns zu handeln behauptet. Der Akt der Repräsentation selbst erschafft eine vom Privaten getrennte öffentliche Sphäre, ein Akt der Distanzierung der Politik vom Leben, ein Ausschluss. Ein Konzept der Würde kämpft für eine andere Form der Demokratie, eine, die nicht ausschließt. Würde löst die dritte Person, den Staat, die repräsentative Demokratie auf, und sie löst auch den Fortschritt auf. Der Begriff der Armut ist eng mit dem Begriff des Fortschritts verknüpft. Fortschritt wird im Allgemeinen als das Gegenmittel zur Armut aufgefasst, aber es ist ein Fortschritt, der als autonom und objektiv verstanden wird, als etwas das wir erreichen müssen. Würde hingegen ist 'anti-fortschrittlich'. Dies nicht in dem Sinne, dass die Fortentwicklung der menschlichen Fähigkeiten zur Schaffung eines besseren Lebens nicht erwünscht wäre, sondern in dem Sinne der Unterordnung der Veränderungen unter kollektive Erwägungen: wenn Fortschritt heißt, immer größere Städte zu bauen, dann ist es wahrscheinlich nicht das, was wir wollen; wenn Fortschritt heißt, die Welt mit Autobahnen zuzubetonieren, dann ist es wahrscheinlich nicht das, was wir wollen; wenn Fortschritt heißt, die Erderwärmung zu beschleunigen, dann ist es nicht das, was wir wollen. Aber Fortschritt, als autonome Kraft jenseits unserer Kontrolle, ist einfach nur das Wirken des Wertgesetzes, die Herrschaft gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit, dieses leeren aber allmächtigen Antriebs zum schneller-schneller-schneller, der im Kapitalismus bestimmt, was und wie es getan wird. Würde ist folglich antikapitalistisch in dem grundlegenden Sinne des Zerbrechens der kapitalistischen Zeit, in der Konfrontation des schneller-schneller-schneller des Kapitalismus mit einem „he, mach mal langsam, lass uns diskutieren, ob wir wirklich eine neue Autobahn brauchen, ob wir die Mechanisierung der Landwirtschaft wollen, ob wir wirklich unter so viel Druck arbeiten wollen.“ Kurzum, Würde führt uns in ein vollkommen anderes epistemologisches Universum, in dem alles offengelegt wird: die Bedeutung des Wissens, die Bedeutung der Forschung, die Bedeutung der Politik, die Bedeutung der Revolution, die Bedeutung der Klasse, die Bedeutung von Arbeit, Zeit, Raum, die Bedeutung von links und rechts. Die Person, die wir anfänglich als arm klassifizieren, dreht sich zu uns um und sagt, „Ich bin nicht arm, ich kämpfe, ich habe Würde“, und schleudert uns damit all unsere Kategorien zurück ins Gesicht und zwingt uns, alles zu überdenken. Es ist das offenkundige Brodeln der Würde, das Lateinamerika derzeit zu einem so aufregenden Ort macht. Aber natürlich brodelt die Würde auf der ganzen Welt. Und natürlich ist die Politik in Lateinamerika oder sogar die radikale Politik in Lateinamerika nicht nur eine Politik der Würde. Es handelt sich vielmehr um eine extrem komplexe und spannungsgeladene Verflechtung der Politik der Armut mit der Politik der Würde. Auf dem einen Ende, ließe sich sagen, befinden sich die ZapatistInnen, die Würde als ihr zentrales Prinzip verkünden – und das findet bei vielen Menschen aus den oppositionellen Bewegungen Anklang – und auf dem anderen Ende haben wir die Regierungen Boliviens und Venezuelas, die durch ihre Existenzform als Staaten, stellvertretend für die Menschen handeln, wie offen auch immer sie dafür sind, deren Willen einfließen zu lassen. Aber die Unterscheidung ist natürlich nicht so einfach zu treffen und sie folgt nicht notwendigerweise institutionellen Grenzen. Es gibt sicher Momente, in denen die ZapatistInnen oder andere Gruppen autoritäre Praktiken reproduzieren oder in denen UnterstützerInnen der ZapatistInnen sagen, „wir müssen den armen Indigenen helfen“, und es gibt im venezolanischen Staat auch Teile, die darauf zielen, mit dem Staat als gesellschaftlicher Organisationsform zu brechen und sich selbst in den von ihnen so bezeichneten Staat der Kommune zu verwandeln. Die Spannung zwischen einer Politik der Würde und einer Politik der Armut mag gleichzeitig sehr wohl in ein und derselben Person existieren. Nichtsdestotrotz finde ich diese Unterscheidung in zumindest dreierlei Hinsicht hilfreich. Zuerst einmal denke ich, dass es heißt, dass wir (die zwei Stränge antikapitalistischen Denkens) zusammen so weit wie möglich in dieselbe Richtung vorstoßen sollten. In diesem Sinne gebe ich zu, dass ich einer der vielen Unterzeichner der Anderen Kampagne in Mexiko bin, der in den letzten Wahlen für López Obrador gestimmt hat, trotz der starken Angriffe durch die ZapatistInnen auf ihn während seiner Kampagne,[4] und ich bin ebenfalls sicher, dass die Regierungen von Chávez und Morales gegenüber ihren Vorgängern zu bevorzugen sind. Zweitens denke ich jedoch, dass wir die beiden Politiken nicht einfach addieren können. Denn hier sind wirklich zwei unterschiedliche Logiken am Werk, zwei unterschiedliche Konzepte der Welt und der Politik und der Frage, um was es eigentlich bei antikapitalistischer Gesellschaftsveränderung geht. Einfach ausgedrückt ist es der Zusammenstoß zwischen der 'fortschrittlichen' und der 'antifortschrittlichen' Linken. Fortschrittliche Regierungen sind genau das, eben fortschrittlich, einschließlich der Anpassung an das schneller-schneller-schneller der kapitalistischen Entwicklung und der ganzen damit einhergehenden Zerstörung. Viele der bedeutendsten antikapitalistischen Kämpfe in Lateinamerika und der Welt widersetzen sich hingegen ganz ausdrücklich der mit dem Fortschritt einhergehenden Zerstörung, komme dieser nun in der Form neuer U-Bahnlinien, Atomkraftwerke oder dem Klimawandel daher. In diesem Sinne ist es zutreffend, wenn die ZapatistInnen die Politik von López Obrador kritisieren. Das ist auch der Grund dafür, weshalb ich in Bezug auf die Zukunft der radikaleren Strömungen innerhalb des bolivarianischen Prozesses in Venezuela nicht sehr optimistisch bin. Es stellt sich die Frage, wie sich die beiden Formen der Politik vermitteln lassen, an welchen Punkten dies sinnvoll ist, wo es schwierig wird und wie damit umzugehen ist? Drittens denke ich, dass diese Unterscheidung hilfreich ist, wenn wir fragen, „Was tun?“. Vom Standpunkt der Politik der Armut aus, ist es klar: die Staatsmacht ergreifen und die Gesellschaft zum Wohle der Menschen verändern. Und von der Perspektive der Würde aus betrachtet? Wir wissen es nicht, aber vielleicht ist es das Beste, das fortzuführen, was wir bereits tun: Räume und Momente der Würde zu schaffen, Räume und Momente, in denen wir nicht der Logik des Kapitals folgen, in denen wir andere gesellschaftliche Verhältnisse und andere Formen, Sachen zu machen, erschaffen. Mit anderen Worten, wir können Risse in der Struktur der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse schaffen und tun dies bereits, große und kleine, spektakuläre und kaum sichtbare, und die Ausdehnung, Vervielfältigung und das Zusammenfließen dieser Risse, bis zu dem Punkt, an dem wir aufhören, das Kapital zu produzieren und zu reproduzieren, ist die einzige Form, einen radikalen Wandel vorstellbar zu machen. Und viertens (denn in jeder nummerierten Liste gibt es ein Überfließen, eine Weigerung, gefesselt zu werden), denke ich, dass die Unterscheidung nützlich ist, denn sie konfrontiert uns, die wir an den Universitäten arbeiten, mit dem was wir tun. Wenn wir in Begriffen der Politik der Armut denken, dann leben wir in einer Welt der prästabilisierten Kategorien, in denen wir Lateinamerika als unser Analyseobjekt bezeichnen können, praktischerweise durch den Atlantischen Ozean getrennt von uns. Wenn sich jedoch unser Analyseobjekt in ein Subjekt verwandelt, das uns unsere Kategorien wieder ins Gesicht schleudert, dann befinden wir uns auf sehr unsicherem Grund, auf dem wir unseren Weg voran fühlen müssen, experimentierend und erforschend und immer fragend vorangehend. In Begriffen der Politik der Armut gemessen ist es sicher sehr weit nach Lateinamerika, eine Million Meilen von Europa entfernt. In Begriffen der Politik der Würde gemessen, liegt Lateinamerika genau über uns, eine rasende Herausforderung, ein Wachruf an einem Sonntagmorgen hier bei uns, ein entsetzlicher Schrecken und ein strahlendes Licht der Hoffnung für die Zukunft. Preguntando caminamos.[5] Übersetzung: Lars Stubbe, 01.03.2010
[1] Professor für Politikwissenschaft am Instituto de Ciencias Sociales y Humanidades „Alfonso Vélez Pliego“, Benemérita Universidad Autónoma de Puebla (Mexiko) und Visiting Fellow am Istituto di Studi Avanzati, Universität Bologna. Geringfügig veränderte Version des Vortrages auf der Konferenz „The Pink Tide: Reconfiguring Politics, Power and Political Economy in the Americas“ an der Universität Nottingham vom 22.-24.01.2010. Alle Anm. v. Ü. [2] Die „Räte der guten Regierung“ sind eine auf dem Räteprinzip basierende Organisationsform der indigenen zapatistischen Gemeinden in Chiapas. [3] „Gehorchend befehlen“. [4] Die Andere Kampagne der ZapatistInnen wurde von den ZapatistInnen 2006 ausgerufen und avisiert eine basisdemokratische Bewegung, die die nicht-parteiförmig organisierten sozialen Bewegungen (vor allem mexikoweit, es gibt aber auch internationale Unterzeichner) auf einer gemeinsamen antikapitalistischen Plattform zusammenführen soll. Die Kampagne lief zeitgleich mit den Wahlen und vor dem Hintergrund eines allseits erwarteten Wahlsieges der von López Obrador geführten sozialdemokratischen Partido de la Revolución Democrática (Partei der Demokratischen Revolution) äußerte Marcos heftige Kritik an ihm und deklarierte ihn indirekt als unwählbar für die zapatistische Linke. Diese Kritik hatte vor allem die in Chiapas stattgefundenen Morde an ZapatistInnen durch PRD-Mitglieder, aber auch die Beteiligung einiger ehemals unter der von Salinas geführten neoliberalen PRI-Regierung in seinem Schattenkabinett zum Thema. Während letztlich die rechte PAN wohl mittels Wahlmanipulation an die Macht gelangte, wurde diese extreme Zuspitzung vor allem von den urbanen AnhängerInnen des Zapatismus als kontraproduktiv und entfremdend wahrgenommen. [5] Fragend gehen wir voran: Motto der ZapatistInnen.