Denn wir wollen die Flüchtlinge ja nicht nur unterbringen, sondern auch befähigen, unsere Nachbarn zu werden, dazu müssen die Menschen lernen, sich bei uns zurechtzufinden. Das ist aufwendig. Bis heute ist es dabei geblieben, dass die allermeisten Menschen in Thüringen ein freundliches und offenes Gesicht zeigen. Aber es gibt auch die Brandstifter, die geistigen und die tatsächlichen, die mich in manchen Nächten um den Schlaf bringen.
Gemeinsam mit der Bauhaus-Universität in Weimar habt ihr ein Projekt zur Entwicklung von »Willkommensstädten« angestoßen. Die Idee zielt auf eine lebenswerte Entwicklung der Städte und Regionen für alle. Ist das auch eine Maßnahme gegen Rechtspopulismus?
Im Jahr 2015 sind 30000 Menschen nach Thüringen gekommen – ich werbe immer wieder dafür, das als Chance zu sehen. Seit 1990 haben 400000 ThüringerInnen unser Land in Richtung der westlichen Bundesländer verlassen. Viele Schulen im ländlichen Raum hatten dadurch immer weniger Kinder, viele Läden wurden geschlossen, Bahnstrecken stillgelegt. Nun gibt es zum ersten Mal seit 26 Jahren maßgeblichen Bevölkerungszuwachs. Integration ist für uns also nicht nur humanitär geboten, sondern auch ein Chance, um Zukunft zu gestalten. Deshalb wollen wir schnellstmöglich Kinder und Jugendliche in Schulen und die Erwachsenen in Ausbildung und Arbeit bringen. Viele unserer Unternehmen ringen um Fachkräfte, und zahlreiche Geschäftsführer haben mir gesagt, wie gern sie Flüchtlinge ausbilden wollen. Das gehen wir an. Überall in Thüringen werden Sprachkurse angeboten. Sprache ist der Schlüssel zu erfolgreicher Integration und gerade für die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen von hoher Bedeutung. Wir haben mehr als 110 Willkommensklassen eingerichtet und 700 junge Leute in Berufsschulen untergebracht, die ein Berufsvorbereitungsjahr mit Sprachunterricht kombinieren. Hier werden junge Menschen intensiv gefördert, um ihnen die Teilnahme am gemeinsamen Unterricht und Ausbildung mit deutschen Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen.
All das kostet viel Geld, wo nehmt ihr das her?
Die Ausgaben sind in den letzten Jahren immens gestiegen. 2014 hatten wir für die Unterbringung, Betreuung und Integration von Geflüchteten 25 Millionen Euro im Landeshaushalt vorgesehen – ausgegeben haben wir 45 Millionen. Für das Jahr 2015 haben wir den Haushalt auf 75 Millionen Euro erhöht – doch letztlich lagen die Kosten bei 190 Millionen. Für die Jahre 2016 und 2017 haben wir nun 478 respektive 612 Millionen Euro veranschlagt.
Dank der günstigen Wirtschaftslage konnten wir als Land die gestiegenen Kosten bisher ohne Neuverschuldung stemmen. Anders als Finanzministier Schäuble behauptet, hat das aber klare Grenzen. Der Haushaltsüberschuss in Thüringen lag 2015 etwas über 210 Millionen. Im laufenden Jahr geben wir aber allein 479 Millionen Euro für Flüchtlingsintegration aus. Außerdem brauchen wir den Haushaltsüberschuss dringend, um unsere Kassen konsolidieren zu können, denn: Trotz des unglaublichen Überschusses aus dem Bundeshaushalt von 20 Milliarden Euro für 2015 zwingt uns der Bund und die Verfassungsnorm immer noch, dass wir die Schuldenbremse einhalten.
Wie steht es mit Geldern vom Bund?
Von fünf Euro, die wir ausgeben, bekommen wir vom Bund nur einen erstattet. Das ist kein solidarisches Verfahren, weshalb ich immer wieder auf Änderungen gedrungen habe. Wenn die Aussage von Angela Merkel – »Wir schaffen das« – gelten soll, dann muss ihr Finanzminister dafür auch die Grundlage bereitstellen. Man kann uns nicht zurufen, lauft schneller, und dann bindet man uns die Füße zusammen.
Der von den BürgerInnen gezahlte Solidaritätsbeitrag beispielsweise bringt jährlich 16 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt. Davon gehen aber nur 8 Milliarden an die Länder. Der Rest verschwindet einfach im Bundeshauhalt. Diese Mittel sollten wir als eine Investition in die Zukunft betrachten und sie deshalb für die Integration der Geflüchteten verwenden und für den Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur, die letztlich allen zugutekommt. Tun wir dies nicht, wird es uns mittelfristig teuer zu stehen kommen. Würde man also die freie Hälfte des Soli nach dem Königsteiner Schlüssel auf alle Bundesländer verteilen, hätten wir schon 50 Prozent Refinanzierung. Das heißt, der ›Soli‹ würde richtig wieder mit dem Begriff Solidarität verbunden werden. Der Solidaritätsbeitrag sollte deshalb über 2019 hinaus erhalten bleiben und nach Kriterien der Benachteiligung ausgegeben wird. Das heißt, da wo eine strukturschwache Region ist, sollen Gelder hingegeben werden, damit sie sich wieder prosperierend einordnen in die Bundesrepublik. Das gilt dann für Nord, Süd, Ost und West. Der Solidaritätsbeitrag wäre nicht mehr für die neuen Länder da, sondern für alle Regionen in Deutschland für umfassende Solidarität.
Momentan werden von Rechtspopulisten eher ›Verteilungskämpfe‹ zwischen Benachteiligten beschworen.
Wir müssen unbedingt verhindern, dass bereits hier lebende gegen Neuankommende ausgespielt werden. Stattdessen gilt es, einen gemeinsamen Aufbruch für mehr soziale Sicherheit zu ermöglichen. Wir brauchen eine Sozialstaatsgarantie und mehr Maßnahmen gegen Kinder- und Altersarmut, gegen Langzeitarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit. All das lässt sich nur durch eine bessere Finanzierung eines gut funktionierenden Sozialstaats gewährleisten. Dabei geht es auch um das biblische Wort »Einer trage des anderen Last«, es geht um einen modernen und solidarischen Lastenausgleich. Auf keinen Fall darf es so sein, dass die Kosten am Ende bei denen abgeladen werden, die selbst wenig haben. Der Löwenanteil muss von jenen finanziert werden, die über hohe und höchste Einkommen und Vermögen verfügen. Hier brauchen wir auch eine gerechtere Steuer- und Investitionspolitik.
Gerade ist das Asylpaket II im Eilschritt durchgegangen. Wie sind die Spielräume einer links geführten Landesregierung vor diesem Hintergrund?
Ich halte es für reine Kosmetik, immer weitere Länder per Beschluss zum »sicheren Herkunftsland« zu erklären. Fluchtursachen werden bei diesen Entscheidungen bewusst ausgeblendet. Für viele Menschen sind die Staaten des südlichen Balkans oder Nordafrikas eben nicht sicher. Die Menschenrechtslage dort ist kritisch, insbesondere für Minderheiten wie die Volksgruppe der Roma oder auch für Schwule und Lesben. Es gibt offene Diskriminierung, die wir nicht per Beschluss beenden werden. Zumal dieser nicht auf einer veränderten Situation in den Ländern fußt, sondern – ohne Blick auf die Gefährdungslage – lediglich Menschen davor abschrecken soll, in Deutschland nach Sicherheit zu suchen.
In Thüringen wollen wir Flüchtlingen grundsätzlich mit Respekt und Würde begegnen. Das muss sich – so haben wir es als Landesregierung klargestellt – auch im konkreten Verwaltungshandeln widerspiegeln. Aber selbstverständlich kann sich der Freistaat nicht außerhalb der bundesgesetzlichen Vorgaben im Asylrecht bewegen, und die landesgesetzlichen Spielräume wurden durch die Asylpakete I und II noch weiter verkleinert: Abschiebungen dürfen nicht mehr angekündigt werden, die Möglichkeit des Winterabschiebestopps wurde auf einen Zeitraum von maximal drei Monaten begrenzt. Zudem wurden weitere Absenkungen von Sach- und Geldleistungen, beispielsweise die sogenannte Eigenbeteiligung der Flüchtlinge an Kosten für Sprach- und Integrationskurse, sowie eine Verschärfung der Residenz- und Mitwirkungspflicht beschlossen (vgl. Pelzer in diesem Heft).
Diese Politik des Bundes vor Augen, versuchen wir trotzdem, permanent Spielräume für eine humanere Flüchtlingspolitik auszuloten. Dazu gehört beispielsweise die ausdrückliche Anweisung an alle Ausländerbehörden, dass auch bei vorliegenden Voraussetzungen für den Vollzug einer Abschiebung nochmals die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise angeboten wird. Wenn abgeschoben werden muss, sollen Abschiebungen in der Nacht ebenso ausgeschlossen werden wie Abschiebungen aus Schulen und Kindergärten. Sie sind so zu organisieren, dass in jedem Fall eine Familienzusammenführung sichergestellt ist. In unserer Abschieberichtlinie ist außerdem vorgesehen, dass der Ministerpräsident im Einzelfall die Möglichkeit hat, bei nachweisbarer Gefahr einer Diskriminierung im Zielland die Abschiebung auszusetzen.
Die eigentlichen Herausforderungen der Massenflucht liegen aber auf einer andern Ebene.
Ja, Ausreisen der zu uns gekommenen Menschen – egal ob freiwillig oder per Abschiebung – tragen nur einen kleinen Teil zur Lösung bei. Wir sollten uns klar sein, worauf es vordringlich ankommt: darauf, die Fluchtursachen zu bekämpfen! Als vor 26 Jahren in Ungarn der Zaun aufgeschnitten wurde, war ich positiv überrascht, heute können die Mauern und Zäune gar nicht hoch genug sein, und der Mitleidlosigkeit wird immer mehr das Wort geredet. Wenn dann eine deutsche Politikerin sogar vorschlägt, auf Menschen zu schießen, ist das an Grausamkeit nicht mehr zu überbieten. Da aber 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind, müssen wir endlich über internationale Maßnahmen zur Bekämpfung der Fluchtursachen reden. Aus meiner Sicht braucht es eine viel stärkere europäische Friedensdebatte und auch die Weltfriedensmechanismen müssen neu entwickelt werden.
Wege zum Frieden in der Region Syrien/ Irak wird es aber nur geben, wenn die KurdInnen und die JesidInnen aktiver Teil eines offensiven Friedensprozesses werden. Sonst werden die Flüchtlinge nur als Waffe im Kampf um politischen Landgewinn eingesetzt. Bevor man darüber nachdenkt, Griechenland aus dem Schengen-Raum zu werfen, sollte man erst einen Friedensplan für die Nachbarregionen entwerfen.
Die EU steht angesichts der Flüchtlinge kurz vor dem Kollaps. Wie soll das gehen?
Tatsächlich braucht es eine gesamteuropäische Asylpolitik, die aber nur greifen wird, wenn es auch eine gesamteuropäische Sozialpolitik gibt. Kurzfristig schützen sich die Länder mit Zäunen. Dass das nicht funktioniert, hat schon die deutsche Mauer gezeigt und der spanische Zaun in Mellila. Es braucht auch zum Schutz der mittel- und osteuropäischen Staaten einen Friedensdialog mit Russland. Die permanente Aufrüstung der NATO in direkter Nachbarschaft von Russland halte ich für einen falschen Weg. Die Visegrád-Staaten haben einen Anspruch auf gemeinschaftlichen Schutz, der meines Erachtens aber nur im Zuge eines innereuropäischen Prozesses gewährt werden kann. Europa kann sich nur zum Schutzraum entwickeln, wenn es zu einem solidarischen Sozialraum wird.
Auch der Sozialraum Bundesrepublik treibt auseinander. Bei den letzten Landtagswahlen konnte die AfD auf dem Anti-Flüchtlings-Ticket in allen drei Ländern zweistellige Ergebnisse erzielen. Auch in Thüringen ist sie stark.
Ja, es gibt auch bei uns beängstigende Demonstrationen von Rechtspopulisten und brennende Flüchtlingsunterkünfte. Aber die allermeisten ThüringerInnen nehmen das Treiben dieser Verbrecher nicht hin. Sie wenden sich an vielen Orten gegen die geistigen und tatsächlichen Brandstifter, die mit menschenfeindlichen Parolen gegen Geflüchtete hetzen. Ausgrenzung und Fremdenhass – dafür darf hier kein Platz sein. Das sage ich laut und deutlich und mit mir die übergroße Mehrheit derer, die hier leben! Natürlich weiß ich auch, dass sich viele Menschen fragen, wie wir damit umgehen, dass so viele neue Einwohner zu uns kommen. Als Landesregierung haben wir nicht auf jede Frage sofort eine Antwort. Aber wir haben heute – ein halbes Jahr nach dem 4. September 2015 – deutlich mehr Antworten als zu Beginn der massenhaften Flüchtlingsbewegung. Und deshalb: Ja, wir schaffen das. Wir haben viel geschafft und werden es weiter tun. Aber viel wichtiger als das ist die Frage, wie wir diejenigen, die bleiben, so integrieren, dass es ein Gewinn für alle wird. Deswegen bin ich auch dafür, dass wir eine konstruktive Debatte über das Zuwanderungs- und Einbürgerungsrecht führen.
Die Krise ist nicht der Flüchtlingszustrom. Die Krise besteht darin, dass Grundgewissheiten für die Schwächsten in der Gesellschaft immer mehr verloren gehen und die europäische Idee zu verblassen droht. Deshalb bekommen Nationalpopulisten immer mehr Zulauf. Deutschland und Europa müssen sich entscheiden, ob wir Liberalität und Weltoffenheit verteidigen oder ob wir uns von Hass und Gewalt in die Knie zwingen lassen.
Im letzten halben Jahr haben mir viele Menschen Hoffnung gemacht. Gemeinsam haben wir gezeigt, wie wir das schaffen: mit Herz und Herzlichkeit den zu uns kommenden Menschen begegnen.
Das Gespräch führte Barbara Fried.