Unmittelbare Prioritäten: schützt jene, die durch die globale Wirtschaftsordnung verletzbar wurden

Die Pandemie breitet sich in einer Welt aus, die zutiefst von Ungleichheit geprägt ist und sich bereits in einer multidimensionalen sozialen und ökologischen Krise befindet. Milliarden Menschen bewältigten ihr Leben aufgrund der ungerechten globalen Wirtschaft schon jetzt unter hochprekären Bedingungen. Sie verfügen deswegen weder über eine gute Gesundheit, noch über die ökonomischen Mittel, um mit dem Virus oder den mit seiner Verbreitung verbundenen ökonomischen und sozialen Brüchen fertigwerden zu können. 

Für die Mehrheit der Menschen im Globalen Süden wird diese Pandemie angesichts der anhaltenden Folgen des kolonialen Erbes -  Dekaden der Verschuldung und Strukturanpassung sowie ungerechten Handelsbeziehungen -  sehr wahrscheinlich verheerende Auswirkungen haben. Es ist dieses Erbe, das Gesundheits- und Sozialsysteme in drastische Unterfinanzierung trieb, schwächte und privatisierte, so dass diese für die Bewältigung einer Pandemie noch schlechter gerüstet sind als die gleichwohl überlasteten Gesundheitssysteme im Globalen Norden. Darum müssen wir dafür sorgen, insbesondere die Verletzlichsten und Marginalisierten zu schützen. Dies könnte folgende sofortige Maßnahmen einschließen:
 

  • die Hilfe für jene, die nun ihre Jobs und Einkommen verlieren, statt für die Industrie;
  • eine Verstaatlichung von Hotels, Privatkrankenhäusern und Unternehmen, die Luxusdienstleistungen anbieten, und deren Neuausrichtung an der Befriedigung von Grundbedürfnissen;
  • Maßnahmen gegen den Wucher mit Medikamenten und medizinischem Gerät durch Pharma-Giganten während der Pandemie;
  • die Bindung aller Hilfen an Unternehmen an deren Schritte zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen, von Arbeits- und Mitbestimmungsrechten, von Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen
  • den Vorrang öffentlicher (Gesundheits-)Dienstleistungen für Wohnungslose und marginalisierte Communities, insbesondere solche, die schon lange Kriminalisierung und gesellschaftlichem Ausschluss ausgesetzt waren, wie etwa Drogenabhängige, Sexarbeiter*innen und Migrant*innen ohne Papiere;
  • menschenwürdige und existenzsichernde Löhne für alle, die an vorderster Front die Krise bekämpfen: etwa die Beschäftigten im Pflege-, Erziehungs- und Gesundheitssektorm aber auch in der Entsorgungswirtschaft oder im Reinigungssektor sowie der Beschäftigten in der Landwirtschaft , die uns weiterhin mit Nahrung versorgen;
  • Umwidmung von Militärausgaben und Firmensubventionen für die Deckung dringender sozialer und öffentlicher Gesundheitsbedürfnisse;
  • Unterstützung für lokale und regionale Systeme der Nahrungsmittelversorgung, die Gewährleistung eines Mindestzugangs zu kleinen Landflächen für die Subsistenz, von agroökologischen Ansätzen, Nahrungssouveränität und Produktion gesunder Lebensmittel;
  • Beendigung der Internierung und Kriminalisierung von Geflüchteten und der Militarisierung von Grenzen sowie Ausrichtung von Grenzkontrollen an Belangen öffentlicher Gesundheit statt Repression;
  • Dringende Notfallmaßnahmen zum Schutz von Gesundheit und Menschenrechten verwundbarer Gruppen wie Geflüchteten, mittelloser migrierter Arbeiter*innen und intern Vertriebener;
  • Unterstützung von Kleinunternehmen, die aufgrund der Krise um ihr Überleben kämpfen, statt der großen Plattformgiganten wie Amazon, die ohnehin Profit machen;
  • Notamnestie für politische Gefangene, nichtgewalttätige Straftäter*innen und aufgrund des Gebrauchs illegaler Substanzen Verurteilte, um verheerenden Auswirkungen des Virus innerhalb der Gefängnisinsass*innen vorzubeugen.
     


Auf globaler Ebene sollte dies u.a. einschließen:
 

  •  Ein Ende aller ökonomischen Sanktionen, die in unverhältnismäßiger Weise Arme treffen, wie es etwa im Iran und Venezuela der Fall ist;
  • Streichung von Schulden, so dass Länder Ressourcen auf die Bewältigung der Krise umlenken können;
  • Umfangreichere Hilfen (eher in Form von Zuschüssen als Krediten und ohne neoliberale Konditionalitäten) für jene Länder des Globalen Südens, die am härtesten von der Pandemie betroffen sind;
  • Aussetzung von Investor-Staat-Streitbeilegungen (ISDS) und anderen ungerechten Handelsmechanismen, deren finanzielle Bürde die Kapazitäten von Ländern untergräbt, Prioritäten bei der öffentlichen Daseinsvorsorge zu setzen;
  • Ein Verbot von Patenten und geistigen Eigentumsrechten auf Impfstoffe und Arzneimittel.
     

Die Krise offenbart das Versagen und die Ungerechtigkeiten des globalen kapitalistischen Systems

COVID-19 hat die massiven Anfälligkeiten und Ungerechtigkeiten des globalen kapitalistischen Systems spürbar gemacht. Es ist von überragender Wichtigkeit, dass wir diese begreifen, um künftigen Pandemien vorzubeugen und zu erlernen, wie wir anderen kommenden Krisen, wie etwa der Klimakrise, begegnen können. COVID-19 enthüllt uns Folgendes:
 

  • eine auf gefährliche Weise ungleiche Welt, in der Millionen aufgrund von Klasse, race oder Geschlecht besonders verwundbar werden und eine ungerechte globale Wirtschaftsordnung, durch die Länder im Globalen Süden auf die Bewältigung von Pandemien besonders schlecht vorbereitet sind;
  • eine kapitalistische, industrielle Landwirtschaft, deren Praxen, wie u.a. die immer weiter zunehmende Abholzung und Verkleinerung von Wäldern und anderen Ökosystemen, zum Eindringen immer gefährlicherer Krankheitserreger in menschliche Umgebungen geführt haben;
  • globale Versorgungsketten, die statt der Sicherung und Bereitstellung essenziell wichtiger Güter der Maximierung von Profiten der Großunternehmen dienen;
  • ein äußerst schwaches und löchriges soziales Sicherheitsnetz, das es nicht vermag, von den Auswirkungen der Pandemie betroffene Gruppen zu unterstützen, wie z.B. Menschen mit Behinderungen;
  • eine Krise der Prekarität, da nun Milliarden ohne formale oder menschenwürdige Arbeit dastehen und mit ausbleibender Kundschaft und so gut wie keinem Sicherheitsnetz ohne Einkommen bleiben – wie z.B. in der sogenannten gig economy im Norden und der informellen Ökonomie im Süden;
  • eine Krise der Wohnungslosigkeit, durch die Millionen vom Verlust grundlegender Dienstleistungen bedroht und infolge von chronischen Vorerkrankungen einem Risiko ausgesetzt sind;
  • ein durch Austerität und Privatisierung konsequent abgebautes Gesundheitssystem, in dem Gesundheit kein für alle erreichbares Gut ist, und in dem Arbeitende zusätzlich durch Geschlecht und race diskriminiert werden;
  • eine pharmazeutische Industrie, die infolge ihres Strebens nach Profiten darin versagt hat, ausreichend in Impfstoffe und Medikamente zu investieren, um Viren behandelbar zu machen und der Ansteckung mit ihnen vorzubeugen;
  • durch Neoliberalismus verursachte verbreitete soziale Isolation, die darin resultiert, dass zahlreiche Menschen der Pandemie ganz allein und ohne Zugang zu bestehenden sozialen Unterstützungsnetzen gegenüberstehen.
     

Wachsamkeit gegenüber den reaktionären Kräften, die versuchen werden, aus der Krise Kapital zu schlagen

In jeder Krise gibt es jene, die versuchen, politisch von ihr zu profitieren - und wir müssen in dieser sozialen Krise dafür Sorge tragen, eben jene Kräfte zu entlarven und kenntlich zu machen, um die Ausnutzung der Krise durch sie zu verhindern. Insbesondere müssen wir uns gegen Unternehmen wenden, die zu profitieren versuchen, wie die Giganten der Pharma-Industrie und private Gesundheitsdienstleister. Ebenso müssen wir uns gegen die reaktionären, rassistischen Kräfte und Politiker*innen wenden, die den Moment ausnutzen, um Chines*innen, Migrant*innen und andere ethnische Minderheiten zu beschuldigen und reaktionäre, xenophobe Agenden durchzusetzen, durch die Menschen ihre Rechte verweigert werden. 

Und schließlich dürfen wir nicht zulassen, dass die derzeitige Situation ausgenutzt wird, um den Gebrauch von Überwachungstechnologien, Militäraktionen oder autoritäre Maßnahmen zu normalisieren, welche Freiheit und Demokratie untergraben. Überwachung und Ausgangsbeschränkungen müssen mit Mechanismen demokratischer Kontrolle und Verantwortlichkeit kombiniert werden, um auf unabhängiger Basis bewerten zu können, ob sie notwendig sind, und sicherzustellen, dass sie baldmöglichst wieder außer Kraft gesetzt werden. Militäreinsätze sollten strikt unter ziviler medizinischer Kontrolle stehen und vom Standpunkt öffentlicher Gesundheit betrachtet werden; Militärressourcen und -ausrüstung sind auf die Bedarfe letzterer zu lenken. Jegliche Sammlung persönlicher Daten im Kontext bisher nicht gekannter staatlicher Zwangsmaßnahmen sollte begrenzt, vorübergehend und strikt gebunden an gesundheitsbezogene Bedürfnisse stattfinden. Verschiedenste restriktive Notfallmaßnahmen, die derzeit umgesetzt werden, mögen als kurzfristige Antworten auf die Gesundheitskrise angemessen sein, dürfen jedoch nach Überwindung der unmittelbaren Krise in keinem Fall zur neuen Norm werden.
 

Unsere Antwort auf die Krise zeigt bereits, dass es eine Alternative der Menschen zu Neoliberalismus und globaler Ungerechtigkeit gibt

COVID-19 verdeutlicht, dass der Neoliberalismus viel zu viele dazu gebracht hat, das Dogma zu akzeptieren, es gäbe keine Alternative. Dies hat uns wichtiger Möglichkeiten und Werkzeuge beraubt, die notwendig sind, um Ungerechtigkeit und der sich verschärfenden systemischen Krise entgegenzuwirken. COVID-19 hat ebenso gezeigt, dass ganz andere Politiken sowohl notwendig wie auch angesichts einer Krise umsetzbar sind. Die Tatsache, dass etliche Staaten nun innerhalb von Stunden politische Schritte gegangen sind, die zuvor unmöglich schienen, belegt, dass es sehr wohl auch machbar wäre, der Klimakrise – wie von wissenschaftlicher Seite gefordert – bis 2030 mit ambitionierten und breit wirksamen Maßnahmen zu begegnen. Und diese Schritte werden absolut notwendig sein, um die Existenzgrundlage der Menschen vor den wirtschaftlichen Krisenbedingungen zu schützen, welche die aktuelle Pandemie nach sich ziehen wird.   Viele Praxen und politische Maßnahmen, die bereits jetzt umgesetzt werden, verdeutlichen unser Potential, den unzähligen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, zu begegnen:
 

  • Die Gewährleistung von Einkommen und Sicherheiten zeigt die Möglichkeit eines gestärkten sozialen Sicherheitsnetzes auf
  • Der Stopp von Zwangsräumungen und die Liefersperren notwendiger Bedarfsgüter  zeigen, wie  grundlegende Menschenrechte auf sauberes Wasser, Energie und andere öffentliche Dienstleistungen erhalten können.
  • Unternehmen werden mit der Produktion von Ventilatoren beauftragt, andere unternehmerische und selbstorganisierten Initiativen bemühen sich, Technologien anzupassen und weiter zu entwickeln, um Leben zu retten. Hier scheint die Möglichkeit einer grünen industriellen Revolution und neuer Regelungen geistigen Eigentums auf – gemeinsam könnten sie Technologie und Wissen zu einem öffentlichen Gut machen, statt ihre Entwicklung privatem Profitstreben zu unterstellen.
  • Die vorübergehende Übernahme der privaten Gesundheitsdienstleister durch den spanischen Staat demonstriert, dass eine öffentlich kontrollierte und universale Gesundheitsvorsorge sowohl ethisch geboten wie vernünftig ist.
  • Die Solidarität der chinesischen und kubanischen Ärzt*innen gegenüber ihren italienischen Kolleg*innen zeigt die Macht transnationaler Solidarität  - ganz im Gegensatz zu den Bemühungen Trumps, einen Impfstoff allein den US-Amerikaner*innen vorzubehalten.
  • Lokale und agroökologische Lebensmittellieferanten und Kooperativen haben in Frankreich und Spanien Lebensmittellieferungen für diejenigen angeboten, die ihr zuhause nicht verlassen konnten. Dies zeigt die Anpassungsfähigkeit regionaler Ernährungssysteme, um die Versorgung der Bedürftigsten sicher zu stellen.
     

COVID-19 zeigt auch, wie lebendig der menschliche Sinn für Solidarität und Mitgefühl ist – trotz Dekaden des Neoliberalismus. Weltweit haben Millionen von Menschen Gruppen zur gegenseitigen Hilfe gegründet und Wege zur Unterstützung ihrer Nachbar*innen gefunden. Sie treffen sich online, um Druck auf die Politik zum Schutz der Verletzlichsten aufzubauen. All das zeigt, dass eine andere Welt wirklich möglich ist. Lasst uns diesen Moment und seine Erfahrung von  Solidarität zu etwas Bleibendem machen – indem wir Systeme, Strukturen und Politiken entwickeln, die den beständigen Schutz aller Marginalisierten sichern und es allen ermöglichen, in Würde zu leben. Solidarität ist das Heilmittel. Gerechtigkeit ist der Impfstoff. 


Aus dem Englischen von Corinna Trogisch. Der Text wurde verfasst von Mitarbeiter*innen des Transnational Institut und zuerst veröffentlich bei tni.org.