Zu den erschütterndsten und bewegendsten Momenten des ganzen NSU-Verfahrens gehörten die Worte von Abdul Kerim Şimşek, Sohn des im September 2000 vom NSU ermordeten Enver Şimşek, eines Blumenhändlers aus dem hessischen Schlüchtern. Enver Şimşek war in seinem Transporter neben einem Blumenstand an einer Ausfallstraße bei Nürnberg von den beiden NSU-Mördern mit acht Schüssen lebensgefährlich verletzt worden. Abdul Kerim Şimşek: „Ich bin selbst Vater einer Tochter […] und ich werde ihr irgendwann erzählen müssen, dass ihr Opa aufgrund seiner Herkunft von Nazis ermordet wurde“. Der damals 13-Jährige war ohne Angabe von Gründen morgens aus seinem Internat abgeholt und nach Nürnberg gebracht worden und noch bei der Ankunft auf der Intensivstation eines Nürnberger Krankenhauses konnte sich der Junge nicht vorstellen, was ihn erwarten würde. Niemand hatte gewagt, ihm die Wahrheit zu sagen: Kaum auszuhalten war dann in seinem Schlusswort im Prozess am 10. Januar 2018 die Schilderung, wie er seinen sterbenden Vater zu Gesicht bekam – von fünf Schüssen in den Kopf und weiteren Kugeln in den Oberkörper getroffen. Er habe, so erinnerte sich Şimşek, die roten Flecken auf dem Laken gezählt. Zu diesem Zeitpunkt lebte sein Vater noch. Er starb zwei Tage später. „Auch ich hätte viele Fragen an die Angeklagten gehabt: wieso mein Vater? Wie krank ist es eigentlich, jemanden nur aufgrund seiner Herkunft oder Hautfarbe zu ermorden? Was hat mein Vater Ihnen angetan?“ Und: „Können Sie verstehen, was es heißt, den Vater im Bekennervideo blutend auf dem Boden liegen zu sehen und zu wissen, dass er da stundenlang hilflos lag?“

„Elf Jahre durften wir nicht mal Opfer sein“

Abdul Kerims Schwester Semiya Şimşek war 14 Jahre alt, als der Vater ermordet wurde. In dem aufwühlenden Buch „Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater“ beschreibt sie, wie sie mit dem Tod ihres geliebten Vaters umzugehen versuchte: „Ich lernte, das Gefühl des Verlusts im Alltag so weit auszublenden, dass das Weiterleben mit der Ungewissheit möglich wurde. Ich musste es lernen.“ Die Şimşeks durchlitten, was auch die anderen Angehörigen der Mordopfer und die Opfer der Bombenanschläge des NSU erlebten: Sie wurden nicht angehört. Im Gegenteil, über Jahre verdächtigten die Ermittlungsbehörden die Ehefrau des Ermordeten, Adile Şimşek, mit dem Mord etwas zu tun zu haben. Aber auch eine „Blumenmafia“, Drogentransporte und andere absurde Hintergründe wurden – „mit deutscher Gründlichkeit“ – auf dem Rücken der Familie überprüft. Niemand wollte hören, was die Betroffenen vermuteten: „Im Lauf der Jahre warfen wir immer wieder ein: Könnte Ausländerfeindlichkeit das Motiv gewesen sein?“ So schildert Semiya Şimşek den vergeblichen Versuch der Familie, den Ermittler*innen das Naheliegende näher zu bringen. Was die Familie damals nicht ahnte, war, dass es ganze elf Jahre dauern sollte, bis die Wahrheit ans Licht kam. Und zwar nicht etwa durch polizeiliche Ermittlungen, sondern durch die Selbstenttarnung des NSU am 4. November 2011 in Eisenach nach einem gescheiterten Banküberfall. Semiya Şimşek: „Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein.“

In den Worten des Sohnes und der Tochter Enver Şimşeks schwingen das Entsetzen und die Traumata nach, die den Angehörigen der Mordopfer des NSU zusetzen. Der Plural Traumata deshalb, weil die Geschichte dessen, was der Familie Şimşek und den anderen Opfern des NSU widerfuhr, Zumutungen ohne Ende bedeutete – bis heute.

Verleugnung, Vertuschung und Versagen

Nach über einem Jahrzehnt Ungewissheit, haltlosen Verdächtigungen und sensationsgieriger medialer Berichterstattung (nach jedem neuen Mord), war auch die Wahrheit ein Schock: Über mehr als elf Jahre konnte eine Gruppe von Neonazis unter dem Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ neun Männer mit Migrationsgeschichte und eine Polizistin ermorden, drei Bombenanschläge auf Einwanderer*innen, darunter den verheerende Nagelbombenanschlag in der Keupstraße in Köln-Mühlheim am 9. Juni 2004 mit Dutzenden zum Teil schwer Verletzten, sowie 15 extrem brutale Bank- und Raubüberfälle begehen, ohne dass die „Sicherheitsorgane“ der Gruppe auf die Schliche kamen.

Nun erlebten die Betroffenen des NSU-Terrors auf einmal viel Zuwendung und Aufmerksamkeit. Am 23. Februar 2012 versprach die Bundeskanzlerin bei einem würdevollen Staatsakt „lückenlose Aufklärung“ und dass auch die „Hintermänner“ der Verbrechen aufgespürt und zur Verantwortung gezogen würden. Erste Enthüllungen darüber, wie weit der Verfassungsschutz, also die Inlandsgeheimdienste in den NSU-Komplex involviert waren, sorgten bundesweit für Fassungslosigkeit. Und in den bürgerlichen Medien wurde gar die Abschaffung dieser bundesweit 17 Behörden gefordert. Heribert Prantl schrieb damals in der Süddeutschen Zeitung, wenn der Verfassungsschutz das nicht gesehen habe, sei er überflüssig. Wenn er es gesehen, aber nicht verhindert habe, sei er gefährlich. Während dieser Wochen der Aufregung wurde auch bekannt, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz sechs Tage nach dem Auffliegen des NSU Akten mit NSU-Bezug zusammengesucht und vernichtet worden waren. Der Abteilungsleiter Lothar Lingen, der dieses Schreddern angeordnet hatte, wurde erst Jahre später und auch nur nach Klageerzwingung durch Anwält*innen der Nebenklage zu einer Geldstrafe von 3000 Euro wegen „Verwahrbruchs“ verurteilt. Er ist überhaupt – abgesehen von BfV-Chef Fromm und drei weiteren Bauernopfern – bisher der einzige Verantwortliche im NSU-Komplex, der etwas zu spüren bekam. Im Laufe eines Jahres waren unterdessen rund 400 Aktenordner mit NSU-Relevanz in unterschiedlichen staatlichen Institutionen vernichtet worden.

Urteil ohne Empathie

Die nächste Zumutung war der Prozess selber. Er zog sich über fünf Jahre hin und weckte zunächst durchaus Hoffnungen, dass nun das Netzwerk hinter dem von der Bundesanwaltschaft fixierten „Trio“ sichtbar und die Verstrickung staatlicher Stellen in die Verbrechen des NSU aufgearbeitet würden. Nach über 370 Prozesstagen jedoch beharrte die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer weiter darauf, dass es – entgegen den Ergebnissen der Beweisaufnahme – tatsächlich nur das „isolierte“ und von der eigenen Szene „abgekapselte“ Trio gegeben habe und allenfalls eine Handvoll Helfer*innen und Unterstützer*innen. Einzig einen der vier Mitangeklagten der Haupttäterin hob die BAW hervor, erklärte ihn zum „vierten Mitglied“ des NSU und forderte überraschende zwölf Jahre Haft für ihn. Dieser Angeklagte war zwar immer brav zum Prozess erschienen, war aber mit provokantem Neonazi-Gebaren und völligem Schweigen aufgefallen.

Dann folgte mit dem Urteil am 11. Juli 2018 die nächste unfassbare Zumutung für die Betroffenen des NSU: In der vierstündigen heruntergenuschelten Urteilsbegründung tauchten die Opfer und Geschädigten des NSU und ihr Leiden nur am Rande, das bundesweite Unterstützungsnetzwerk und das Wort Verfassungsschutz gar nicht auf. Das Urteil fiel zudem gerade im Falle jenes bereits erwähnten Angeklagten, der bis heute eng mit der Naziszene verknüpft ist, unerwartet milde aus: Dass ihr „Kamerad“, der von der Bundesanwaltschaft als Hauptunterstützer ausgemachte Neonazi, nicht etwa die geforderten zwölf, sondern nur zweieinhalb Jahre Haft erhielt und sein Haftbefehl sofort außer Vollzug gesetzt wurde, quittierten die zur Urteilsverkündung angereisten bundesweit bekannten Neonazis im Zuschauer*innenraum des Strafjustizzentrums in München mit lautstarkem Applaus. Die Angehörigen der Mordopfer erstarrten und trauten ihren Ohren nicht. Ihre Fragen, ihre Nöte und ihre Ansprüche waren schlicht hinten heruntergefallen, die Hoffnung auf Aufklärung und so etwas wie Gerechtigkeit schwer enttäuscht worden. Eine Woche später wurde ein weiterer Angeklagter, der als Waffenbeschaffer wegen Beihilfe zum neunfachen Mord verurteilt worden war, aus der Untersuchungshaft entlassen. Auch er ist bis heute tief in der Naziszene verankert.

Das Gericht schaffte es dann – die nächste Zumutung – den Rahmen von 93 Wochen zur schriftlichen Urteilsbegründung vollständig auszureizen und die Empathielosigkeit der Verkündung des Schuldspruchs auf über 3000 Seiten noch einmal zu wiederholen.

Solidarität statt Schlussstrich 

Aber die Zumutungen haben noch kein Ende gefunden: Einen Monat nach dem Urteil tauchten die ersten Droh-Faxe und -Mails auf, die mit „NSU 2.0“ gezeichnet waren und als erstes an Abdul Kerim Şimşeks Anwältin Seda Başay-Yıldız gingen. Darin waren Morddrohungen und Angaben zum Privatleben der Juristin enthalten. Später stellte sich heraus, dass diese Angaben aus einem Polizeicomputer in Frankfurt am Main abgerufen worden waren. Unterdessen gibt es hunderte Drohbriefe vor allem gegen feministisch und politisch engagierte und prominente Frauen und Bombendrohungen gegen Bahnhöfe, Justizgebäude und andere öffentliche Einrichtungen. Immer wieder sind es Polizeibeamt*innen, die in Hessen, Berlin und Hamburg in die Weitergabe geschützter Details involviert sind. Nur eine Person ist bisher für die Drohungen angeklagt, die Ermittler*innen tappen bei den Absendern „NSU 2.0“, „Staatsstreichorchester“, „Wehrmacht“ und anderen nach wie vor weitgehend im Dunkeln.

Und die vom NSU geschädigten Menschen mussten in jüngster Zeit von weiteren schrecklichen Anschlägen erfahren, nämlich der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) mutmaßlich durch zwei Täter aus dem Kasseler Unterstützungsumfeld des NSU Anfang Juni 2019 und der Ermordung von neun jungen Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte am 19. Februar 2020 in Hanau durch einen schwer bewaffneten Nazi.

Überhaupt: Die Verstrickung von Dutzenden Angehörigen der bewaffneten Organe dieses Staates, aus Militär und Polizei, in rechtsterroristische Bestrebungen – Stichworte Nordkreuz, Uniter, KSK – trägt zu diesem Unbehagen noch erheblich bei.

Zudem müssen die Betroffenen verfolgen, wie vor dem Oberlandesgericht Naumburg, das in Magdeburg über den Attentäter von Halle zu Gericht sitzt, erneut ein völlig unsensibles und skandalöses polizeiliches Vorgehen im Zusammenhang mit dem Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 öffentlich wird. Es gemahnt auf haarsträubende Weise an ihre eigene Missachtung durch die Staatsgewalt.

Diesen Zumutungen kann nur mit würdigem Gedenken und solidarischem Protest entgegengetreten werden:  mit entschiedenen politischen Forderungen nach tatsächlich lückenloser Aufklärung all dieser Verbrechen und nach angemessenen Konsequenzen aus dem NSU-Komplex und den folgenden Anschlägen und Morden.

Am heutigen 20. Jahrestag der Ermordung Enver Şimşeks gedenken wir der Ermordeten und fühlen mit den Verletzten und Hinterbliebenen im NSU-Komplex.