Inmitten des amerikanischen Albtraums, 5 Jahre nach der Zäsur von Bernie Sanders zweiter Vorwahlniederlage, fliegen einem muslimischen Sozialisten die Herzen New Yorks zu. Kein anderer steht derzeit so sehr für das Wiedererwachen linker Hoffnungen auf eine echte Gegenoffensive wie Zohran Mamdani (Lill 2025). Damit bestätigt sich eine Charakteristik vieler progressiver Vorstöße der letzten Dekade: Energische Führungspersönlichkeiten, von ihrer Basis geliebt, von ihren Gegnern gehasst, bündeln das Engagement der Vielen wie in einem Brennglas. In ihrer magnetischen Aura erneuert sich ein kollektiver Glaube an die Sinnhaftigkeit und Stärke des verbindenden Projekts – oder er schlägt um in Enttäuschung und Spaltung.

»Seit den Niederlagen der 1960er/70er Jahre durchzog die Neuen Sozialen Bewegungen eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Personenkulten, oft sogar eine Ablehnung von Führung und Parteipolitik überhaupt.«

Im historischen Vergleich sticht die Rückkehr dieser fragilen Dynamik, die Kraftquelle und Achillesferse zugleich ist, besonders hervor. Denn seit den Niederlagen der 1960er/70er Jahre durchzog die Neuen Sozialen Bewegungen eine grundsätzliche Skepsis gegenüber »Personenkulten«, oft sogar eine Ablehnung von »Führung« und Parteipolitik überhaupt. Nicht zuletzt darüber grenzte man sich vom Realsozialismus aller Schattierungen ab, genauso wie von der älteren Sozialdemokratie oder den dogmatischen Splittergruppen und esoterischen Sekten der zerfallenden Neuen Linken. Noch die Revolten und Platzbesetzungen im Nachgang der Weltwirtschaftskrise huldigten einem regelrechten Fetisch der Repräsentationskritik – genährt von den Erfahrungen des Niedergangs der alten Massenparteien und den leeren Versprechen von Blair bis Obama.

Erst mit der Reorganisation neuer, anti-neoliberaler Parteiformationen trat das charismatische Moment, das in der Arbeiter*innenbewegung und im Antikolonialismus omnipräsent gewesen war, wieder zutage. Im Rahmen der aktuellen Versuche, eine von links geführte »Volksfront« gegen den Vormarsch der Rechten aufzubauen, ist das etwa in Frankreich mit Mélenchon offensichtlich. Auch in England hängt die Neugründung einer linken Massenpartei am seidenen Faden der (derzeit unsicher scheinenden) Integrationsfähigkeit von Corbyn und seinem Team, während der Höhenflug der Grünen den Namen Zack Polanski trägt. Im konservativ regierten Irland gewinnt derweil die unabhängige Sozialistin Catherine Connoly erdrutschartig die Präsidentschaftswahlen. Und nach der Trennung von Wagenknecht, reibt sich selbst die auferstandene Partei Die Linke die Augen angesichts der Zugkraft ihrer unverhofften TikTok-Queen Heidi Reichinnek. Wohl nur ein Vorgeschmack dessen, was möglich wäre.

Persönliche Repräsentationsstile unterschiedlichster Prägung bilden inzwischen auch in vielen außerparlamentarischen Mobilisierungen die Gravitationskerne der Gegenöffentlichkeiten. Die Re-Politisierung und Linksverschiebung großer Teile der jüngeren Generation ist stark über ausstrahlungskräftige Personen vermittelt (Lill 2021). In einer hoch performativen Kultur der Selbst- und Fremdbeobachtung kompensiert ihre Bindungswirkung die eher schwachen organisatorischen Anker in den Arbeits- und Lebenswelten.

Besonders signifikant war und ist das im Falle Greta Thunbergs. Ihre aggressive Verleumdung in der deutschen Presse, bei etablierten Grünen und in Teilen der Linken erwies sich als bitteres Vorspiel für einen zweiten Frühling ihres ikonischen Status – diesmal in der Palästina-Solidarität. Auch sie wirkt nach innen als symbolischer Kitt eines losen »Mosaiks«, nach außen als Aufmerksamkeitsgenerator und nicht korrumpierbare Stimme des breiten Spektrums an Bewegungen, denen sie ihre Plattform zwischen Norwegen, Rojava und Gaza zur Verfügung stellt. 

Wo solche Figuren fehlen, erweist es sich oft als Nachteil: Black Lives Matter etwa konnte auch in Ermangelung vergleichbarer Köpfe vom demokratischen Establishment vereinnahmt werden (im Kontrast zur Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre). Doch auch die Risiken der Abhängigkeit von Einzelnen sind kaum zu übersehen – sei es, weil sie nicht immer vorbildlich agieren, sei es, weil die Rufmordkampagnen (wie 2019 im Falle Corbyns) Erfolg haben können, von politischen Morden ganz zu schweigen. Fakt aber ist: Der gegenwärtige Zyklus wird von personaler Machtbündelung dominiert – und das gilt quer durchs gesamte politische Spektrum. 

Flucht nach vorn

Für die Linke ist das ein Ärgernis, denn sie spricht lieber von gesellschaftlichen Strukturen, Diskursen und Verteilungsfragen. Mit Blick auf die eigenen Spitzenkräfte schwankt sie oft zwischen Bewunderung, Missgunst und dem Herunterspielen der Bedeutung Einzelner. Dabei geht es um mehr als bloße Sympathie- oder Policy-Fragen: In der Auswahl und Wahrnehmung der Persönlichkeiten kristallisiert sich das Ringen um politische Zielsetzungen und Bündnisse, Handlungsethiken und Wunschprojektionen. 

Greta etwa lebt eine utopisch aufgeladene Prinzipientreue und sture »no bullshit«-Widerständigkeit vor: als Weg aus der Isolation in die Solidargemeinschaft aktivistischer Netzwerke, denen es allerdings oft an realistischen Gestaltungsperspektiven mangelt. Mit Mamdani verbindet sich dagegen eine strategische Grundfrage, vor der wir stehen: Öffnet sich angesichts des Scheiterns zentristischer Reformprojekte für einen »grünen Kapitalismus« doch noch ein Gelegenheitsfenster für »sozialen Antifaschismus« als Regierungsprojekt? (Becker 2025)

Angesichts von Mamdanis Durchmarsch und Gerüchten um eine mögliche Präsidentschaftskandidatur von Ocasio-Cortez 2028 scheint das Plädoyer für eine solche Flucht nach vorn bei den Democratic Socialists of America (DSA) und im Umfeld des US-JACOBIN-Magazins die Oberhand zu gewinnen. [1] 

Abgesehen von den unterschiedlichen institutionellen und politischen Bedingungen ist die Frage des Zeithorizonts entscheidend. Denn der verengt sich objektiv, schon allein in ökologischer Hinsicht. Das Einstellen auf einen längeren Zyklus rechter Hegemonie und die Fixierung auf die harte Arbeit des Neuaufbaus einer breiten Klassenverankerung, gleicht dem Abschied von verheißungsvolleren Zukünften überhaupt. 

»Mit Mamdani verbindet sich eine strategische Grundfrage, vor der wir stehen: Öffnet sich angesichts des Scheiterns zentristischer Reformprojekte für einen ›grünen Kapitalismus‹ doch noch ein Gelegenheitsfenster für ›sozialen Antifaschismus‹ als Regierungsprojekt?«

Es ist diese existenzielle Dimension des historischen Augenblicks, die der charismatischen Konjunktur ihre Spezifik, emotionale Wucht und generationelle Kontur gibt. In ihr spitzt sich mehr denn je die Spannung zwischen drei für die Linke grundlegenden Anforderungen zu: Sie muss (1.) nüchterne Analysen liefern gegen die um sich greifende Verdrängung und Dissoziation (»sagen, was ist«). Sie muss (2.) effektive Interventionen in ein politisches Feld organisieren, in dem die »Mitte« (zurecht!) mehr und mehr einbricht und demokratische Spielregeln immer weniger gelten. Und sie muss (3.), trotz allem, den (Willen zum) Glauben an emanzipatorische Grundsätze durch ihre lebensweltliche und repräsentative Praxis bestärken.

Diese Dreiecksbalance im Kreuzfeuer einer verhetzten Massenöffentlichkeit zu halten, ist in der Tat ein heroisches Kunststück, das nicht viele beherrschen. Entgegen aller egalitaristischen Selbsttäuschungen ist die Begeisterung für exponierte Charaktere daher auch Abstimmungsverhalten über ein implizites Leistungsethos: Ausdruck der Bereitschaft, die Besten unter uns, denen wir vertrauen und die uns im weitesten Sinne auch spirituell inspirieren, nicht nur zu unterstützen, sondern ihnen sehr viel Stellvertretermacht zu übertragen.

Mamdani bringt diesen Anspruch auf Exzellenz so gewinnend wie unbescheiden zum Ausdruck – nicht nur in der polarisierenden und zugleich hoch unterhaltsamen Kampagnenarbeit, sondern auch im Ausblick auf die administrative Umsetzung materieller Verbesserungen. Sein dezent befreiungstheologisch grundiertes Pathos und seine strikte thematische Fokussierung verbinden sich mit einer hoch versierten und stets adressatenspezifischen Argumentation, die reale Machbarkeit und Effizienz betont – ohne zu verhehlen, dass die Gegenwehr so massiv wie skrupellos sein wird. Dieser auch bei vielen Trump-Wählern erfolgreiche Ansatz reduziert sich gerade nicht auf »populistische« Pauschalattacken gegen »die da oben«. Linkspluralistisch setzt er auf breite Allianzen – auch mit Elitenfraktionen, die in der Tradition Roosevelts der Übernahme des Staates durch eine kleptokratische »Lumpenbourgeoisie« (Candeias 2025) entgegentreten wollen. 

Eine Koalition linksliberaler und sozialistischer Kräfte unter Führung letzterer, wie sie nächstes Jahr auch in Berlin möglich werden könnte, müsste zweifellos sehr viel mehr liefern als frühere Regierungsbeteiligungen. Wer aber nicht auf Risiko spielt und die Machtfrage charismatisch zuspitzt, hat schon verloren.

Personelle Führung denken

Umso bedenklicher ist der Mangel an systematischem Nachdenken über die Wirkungsweise und Typologie solch »katalytischer« Persönlichkeiten, samt ihres Nahumfeldes und ihrer Resonanzräume. Die Leerstelle ist alles andere als neu: Es gehört seit jeher zu den Paradoxien speziell marxistischer Theorie, dieses Schwungrad des Sozialismus entweder zu ignorieren oder pauschal zu verurteilen (Rehmann 1995). Der blühenden Heldenverehrung steht eine intellektuelle Debattenkultur gegenüber, die »Personalisierung« als bürgerliche Ideologie und Religionsersatz abtut.

Dafür gibt es natürlich Gründe: Der Narzissmus der Starkultur hat sich zu einer allgegenwärtigen Plage ausgewachsen. Das »stabile Genie« des Donald Trump, aufgestiegen als Unternehmerdarsteller und Casting Show-Celebrity, besteht exakt in der Fähigkeit, kollektive Interessen und politische Agenden zurücktreten zu lassen hinter dem Dauerfeuer egomanischer Inszenierungen, Deals und Rachefeldzüge. Die Person bindet durch ständige Empörung der Gegenseite alle Aufmerksamkeit. Sie wird zur warenästhetisch überhöhten Marke, in der die reale Macht oligarchischer Klientelgruppen und Monopole fetischisiert wird. Das wirkt auch als Identifikationsangebot für verkrachte Existenzen, die imaginativ an der schamlosen Unangreifbarkeit teilhaben. Die amoralische Erfolgs- und Protzkultur kann im kleinen Maßstab als Selbsttechnologie des Aufstiegs und der sadistischen Frustabfuhr adaptiert werden. Popkulturell ist sie schon länger auf dem Vormarsch (Lill 2011). In den politischen Betrieb brach sie aber erst mit Figuren wie Trump (und als stilprägendem Vorläufer: Berlusconi) schockartig ein. 

Das ist ein Merkmal vieler charismatischer Schübe: Sie wirken wie ein Kurzschluss zwischen sozialen Feldern, die oft gegenläufige Entwicklungen hervorbringen, bis es zu einer Art Überschwappen kommt: Verhaltensmuster, die in einem anderen Kontext ausgebildet wurden, behaupten sich überraschend auf der Bühne der großen Politik. Sie modifizieren in der Folge deren Spielregeln, wie auch die Relation zu anderen Feldern. 

Mit Mamdani bewährt sich nun, ähnlich wie schon mit AOC, ein professionalisierter Grassroots-Aktivismus, wie er die Organisationskultur der DSA-NYC prägt: als Bündnis links-akademischer, migrantischer und gewerkschaftlicher Milieus mit dem Ziel der Rekrutierung, Schulung und Sichtbarmachung eines heterogenen Spektrums an linken Führungspersönlichkeiten. Mamdani tritt zudem als Verkörperung einer kosmopolitischen Gegenelite auf, die keineswegs im Gegensatz zu popularer Massenattraktion steht. Der Vater ist eine Koryphäe postkolonialer Forschung, die Mutter eine erfolgreiche Filmemacherin. Er hat die besten Schulen besucht, Netzwerke und Verhandlungsgeschick aufbauen können. Zugleich spricht er die Sprachen der Straße und versteht es, die Bezahlbarkeit des Lebens als Voraussetzung für Würde und Gemeinsinn in so einfachen wie poetischen Bildern und Gesten einzufordern. Erst diese Kombination macht ihn zum ultimativen Angstgegner des Establishments der Demokraten. 

Sehnsucht nach Erlösungsfiguren

Bei aller begründeten Euphorie, bleibt eine ideologiekritische Sensibilität allerdings auch im Blick auf den eigenen Personalismus wichtig. Wenn selbst »anti-autoritäre« Linke anlässlich des Segelturns zur Durchbrechung der Gaza-Blockade Greta Thunberg als »unsere Lisan al Gahib« (die Messias-Figur aus Dune) ausrufen, ist zumindest Vorsicht geboten. Schon Marx erklärt den Drang danach, sich einer (scheinbar) tieferen Einsicht und prophetischen Erlösungsfigur zu unterstellen, mit guten Gründen aus dem Leiden an Entfremdung, Ohnmacht und Ausbeutung. Im Umkehrschluss werden aber bis heute fast nur Fragen der kollektiven Führung zum Thema. Das gilt für die autoritäre Variante einer leninistischen Parteiavantgarde, genauso wie für die »pädagogische« Tradition, die mit Gramsci auf eine breite Verankerung organischer Intellektueller zielt und heute in Organizing-Ansätzen fortlebt. Abgesehen von den »bonapartistischen« Gegnerbeschreibungen, überlässt man das Feld zwei Debattensträngen, die aus anti-sozialistischen Motiven heraus entstanden sind: Der Massenpsychologie und der Herrschaftssoziologie nach Max Weber. Beide verstehen Charisma vorwiegend als autoritäre Demagogie und gehen damit an den Spielarten progressiver Führung vorbei.

Dabei ist schon Marx selbst, neben aller brillanten Analyse, vor allem in jungen Jahren auch ein Glaubensstifter mit messianischen Zügen. Seine Vision ist die universelle Entfaltung des Reichtums individueller Bedürfnisse und Fähigkeiten in einem »Verein freier Menschen«. Dieser Fluchtpunkt der Emanzipation lässt sich als säkulare Wiederkehr dessen verstehen, was bereits bei Paulus, dem frühchristlichen Apostel (Kahl/Rehmann 2014), im Begriff der Charismen (im Plural!) anklingt: Die Gläubigen sollen sich über ständische, ethnische und geschlechtliche Grenzen hinweg als Teile eines Ganzen wechselseitig anerkennen, um in solidarischer Arbeitsteilung füreinander zu sorgen und schlummernde Talente zu wecken. Im Angesicht übermächtiger Feinde (damals in Gestalt des versklavenden römischen Imperiums) wird das einerseits als endzeitliches Versprechen auf eine jenseitige Welt der Harmonie und Fülle überhöht. Andererseits aber wird es als gegenkulturelle Praxis der Umkehrung herrschender Werte, Symbole und Hierarchien in den Gemeinden gelebt. Nach den millenaristischen Aufständischen des Spätmittelalters und der Bauernkriege verstehen sich folgerichtig auch noch viele der »utopischen« Frühsozialisten als Wiedergeburt des Urchristentums. Während Marx dagegen polemisiert, streicht Engels die Parallelen zur sozialistischen Arbeiterbewegung heraus (MEW 3, 449ff). 

Marx‘ und Engels‘ eigene Prophetie atmet zugleich noch viel vom Hegelschen »Weltgeist«: polemisch gegen Paulus‘ »Heiligen Geist« (Taubes 1987), hat dieser sich von einem Vorboten des messianischen Ereignisses in ein evolutionäres Prinzip der Menschheitsgeschichte verwandelt. Das »welthistorische Individuum«, das Hegel als Verdichtungs- und Umschlagspunkt der Widersprüche an den Epochenschwellen gilt, geht auf im Kollektiv des Proletariats – oder besser: in der »realen Bewegung« des Kommunismus.

Die mangelnde Reflexion dieses quasi-religiösen Zuges, der als »Seufzer der bedrängten Kreatur« fortlebt, gar seine orthodoxe Verwechslung mit objektiver Wissenschaft, macht ihn gefährlich. Spätestens mit der Etablierung staatssozialistischer Regime kommt kulturübergreifend das zum Durchbruch, was Michael Brie (2017) als »charismatische Geschichte des Kommunismus« bezeichnet: beginnend mit der Rückkehr Lenins nach Russland im April 1917 und endend mit dem Tod Fidel Castros 2016 (wobei man fragen muss, ob das autoritäre China unter Xi Jinping nicht für eine Renaissance von Aspekten dieser Tradition steht). Die Führerkulte dienen nicht nur der Absicherung personaler Herrschaft gegen aufstrebende Parteikader. Sie sind, wie Frank Deppe (1999, 1088) betont, auch »Kohäsionsfaktor für die kollektive Identität« und Ausdruck einer »latente[n] Bereitschaft zur Selbstentmündigung der Massen«. Deren eigene Individualität wird in der diszipliniert-maskulinen Formierung als Kämpfer und Arbeiter unterdrückt (Adamczak 2017). Das allgegenwärtige Bild des großen Vorsitzenden erstarrt zur Maske des repressiven Staates als »illusionärer Gemeinschaftlichkeit«.

Exemplarisches Charisma

Das Begehren nach menschlicher Größe und leidenschaftlicher Führung, das sich mit dem demokratischen Sozialismus und Progressivismus verbindet, zehrt dagegen von Darstellungen der Würde des Einzelnen. Es kultiviert einen intuitiven Sinn für idiosynkratische Eigenheiten, die in keiner Identitätszuschreibung aufgehen: Ein universalistischer »Kult des Individuums «, den Émile Durkheim zurecht als symbolisches Zentrum einer Ethik der Menschenrechte und der sozialen Freiheit ausmacht. Es ist das einzig verbliebene Wertefundament einer ansonsten unendlich pluralen Moderne, die doch noch immer ritueller Formen bedarf, um sich dieses letzten Heiligtums zu vergewissern.

Das erinnert erneut an Paulus, für den der Gedanke der individuell je spezifischen »Gaben« bereits zentral war. Hier sollte man es nicht mit Žižek und Badiou halten, die das Motiv des irrationalen »Wahrheitsereignisses« glorifizieren: den radikal subjektiven »Glaubenssprung« (Kierkegaard) im Angesicht der vermeintlichen Sinnleere des »Realen« (Lacan). Der Klassenfeind Weber bietet dagegen eine Spur. Für seinen Idealtypus der »charismatischen Herrschaft« stützt er sich zwar auf die einseitig autoritäre Paulus-Lesart des reaktionären Kirchenrechtlers Rudolph Sohm. Doch in den weniger bekannten, späten Religionsstudien begegnet uns auch ein »exemplarisches Charisma«. Weber identifiziert es mit den östlichen Lehren (v.a. des Buddhismus). Der Sache nach beschreibt er es aber auch an Paulus: Statt (nur) »göttliche Befehle« zu erteilen, wird »virtuos« eine Ethik verkörpert. Statt (nur) affektiv mitzureißen, überzeugen exemplarische »Propheten« durch die Praktizierung der Werte und Lehren, die sie verkünden und in eine vorbildliche Lebensführung übersetzen.

Das trifft auf Mamdani wie auch auf Greta zu. Statt zu befehlen, behaupten sie einen eigenwilligen und ethisch hoch anspruchsvollen Handlungsstil. Sie inspirieren damit breite Nachahmungsströme. Der interessanteste unter den frühen Massenpsychologen, Gabriel Tarde, sieht darin ein Grundprinzip sozialer Evolution: die innovative Neukombination erlernter Kulturtechniken durch außergewöhnlich talentierte oder besonders bedenkenlose, meist jedenfalls privilegierte Einzelne formt neue Gruppenbildungen.

Der Mut dieses »Glaubenssprungs« bedarf heute nicht mehr eines Jenseits – weder der irdischen Welt noch der Revolution als mythischem Zukunftsereignis. Der »Enthusiasmus« von Mamdani und Greta ist »konkret«, im Sinne von Agnes Hellers Theorie der Gefühle: nicht auf Ideen bezogen, sondern auf die Bedürfnisse und Nöte des Hier und Heute.

Das ließe sich mit dem pragmatistischen Sozialisten John Dewey als Teil einer »demokratischen Lebensform« begreifen. Sie stützt sich nicht (mehr) auf messianische Versprechen oder evolutionäre Fortschrittsmodelle, sondern auf einen aufgeklärten Experimentalismus: Wissenschaftlich fundiert, kann und muss sie zwar Prognosen treffen. Zu bewähren hat sich ihre Praxis aber vor der kollektiven Intelligenz einer mobilisierten Öffentlichkeit, die sich auf eine Ethik des persönlichen Wachstums in sorgender Gegenseitigkeit bezieht. Als erfahrungsbasierte Lerngemeinschaft greift sie hinein in die Speichen der Geschichte. Sie erschafft so Wahrheit, statt sie nur offenbart zu bekommen.

Exemplarisches Charisma als initiativ-führende Normabweichung, die Schule macht, bildet damit das Pendant zum demokratischen Charisma (Lill 2019), verstanden als massenwirksame Artikulation heterogener Ansprüche vor allem subalterner Klassenmilieus. In Mamdani kommt beides herausragend zusammen. Selbst wenn er mit einigen seiner Vorhaben scheitern sollte: Sein Beispiel stärkt schon jetzt in Millionen die Kräfte des Widerstandes.

[1] Der Chefredakteur des deutschen Ablegers, Loren Balhorn, legt dagegen nahe, sich vorerst auf die Rolle als Fundamentalopposition zurückzuziehen, verbunden mit einer Rückkehr zu Fortschrittsversprechen und einer Zuspitzung der Klassenkampfrhetorik, siehe https://www.youtube.com/watch?v=-kT2cP0Ngwo

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