Die Erfolge der radikalisierten Rechten reißen nicht ab. Der Hegemonieverlust der politischen Eliten könnte sich im Wirtschaftsabschwung noch beschleunigen. Diese bedrohliche Entwicklung beflügelt Diskussionen um einen linken Populismus. Wie auch immer man sich zu diesem schillernden und hierzulande eher negativ besetzten Begriff positionieren mag, die Debatte hat einen erfreulichen Nebenaspekt: Sie vergegenwärtigt, wie entscheidend die Mobilisierung von politischen Leidenschaften ist, von Bildern einer anderen, demokratischen Praxis, die ein linkes Projekt verbinden und antreiben könnten – und die sich symbolisch auch in sinnlichen Formen und charismatischen Figuren verdichten müssten.
Gramsci sprach vom Kampf für »ein neues moralisches Leben, das eng an eine neue Intuition vom Leben gebunden sein muss«, eine Kultur, die aus ihrem »Innern Persönlichkeiten hervorzubringen [vermag], die vorher nicht genügend Kraft gefunden hätten, sich in gewissem Sinn vollendet auszudrücken« (Gramsci, Gef 10, 2111). Tatsächlich fällt auf, dass linke Bewegungen, wo immer sie in den letzten Jahren größere Mobilisierungserfolge erringen konnten, mit starken charismatischen Dynamiken verknüpft waren (Tsipras und Varoufakis in Griechenland, Iglesias und Colau in Spanien, Corbyn in England, Mélenchon in Frankreich, Sanders und aktuell Ocasio-Cortez in den USA). Diese starke Personalisierung der öffentlichen Wahrnehmung und politischen Führung ist vielen Linken, gerade hierzulande, eher suspekt. Die naheliegende Sorge ist, dass derart herausgehobene Sprecherpositionen Machtungleichgewichte in der Bewegung verstärken und die emotionalisierte Fixierung auf einzelne Repräsentant*innen leicht irrationale und autoritäre Züge annehmen kann. Mario Candeias (2018) sieht diese Gefahr ebenfalls, betont aber, in den genannten Beispielen zeige sich gerade ein »postautoritäres Charisma«. In diesem verdichte sich die »Kultur einer Suche nach wirklicher Demokratie, nach neuen solidarischen Umgangsformen, nach Aufbruch«. Ich teile diese Einschätzung und will das zum Anlass nehmen, der Wirkungsweise von »demokratischem Charisma« weiter nachzugehen.
(Selbst-)Transformation erfordert mehr als populistische Polarisierung
Von Anhänger*innen einer linkspopulistischen Strategie wird, oft im Anschluss an Mouffe/Laclau, auf der Markierung einer klaren Frontlinie zwischen »dem Volk« und der »herrschenden Elite« insistiert. Die sich öffnende Repräsentationslücke soll so mit einem linken Sammlungsprojekt als Alternative zur Neuen Rechten gefüllt werden (Mouffe 2018). Ich sehe hier von den Unklarheiten und politischen Differenzen ab, die sich mit dem Begriff Linkspopulismus verbinden. Ich will nur zwei Probleme ansprechen: Zum einen kann es (im Gegensatz zur rechten Hetze) natürlich nicht nur um Wut und Polarisierung gehen. Der linke Populismusdiskurs spielt mit dem Feuer einer zu einseitig »dissoziativen« Politikkonzeption. Zweifellos muss die Linke sich konsequent vom neo- und zunehmend illiberalen Mainstream abgrenzen und zu harten Konfrontationen bereit sein. Aber ausgerechnet mit Carl Schmitt, dem Vordenker des Faschismus, den »unüberwindlichen Antagonismus« zum überhistorischen »Wesen« des Politischen (ebd.) zu verklären, dürfte kaum dazu beitragen, der gefährlichen Verhärtung der Lagerspaltungen ein inklusives demokratisches Projekt entgegenzusetzen. Nicht nur die Inhalte, auch die Formen der Politik – und damit die sie tragenden Akteure – müssten sich in einem Transformationsprozess ja grundlegend verändern – und zwar in Richtung einer stärker »assoziativen« Auffassung des Politischen, wie sie etwa Hannah Arendt oder in anderer Weise auch der pragmatistische Philosoph und Sozialreformer John Dewey mit seinem Verständnis von »Demokratie als Lebensform« formuliert haben.
Hier wird das Bedürfnis nach Allgemeinwohl und nach Gegenseitigkeit stärker betont, der junge Marx sprach von wahrhaft menschlichen Bedürfnissen. Damit spielen Empathie, Sanftheit und Liebe eine zentrale Rolle. Eine Linke, die dafür einsteht, muss mit einer breiten Klaviatur symbolischer Praxen aufwarten. Und vor allem muss sie ihre eigene politische Kultur verändern, die identitäre Verhärtung von Konfliktlinien genauso überwinden wie den verbreiteten Mangel an Sensibilität im persönlichen Umgang, der Teil einer implizit oft hoch kompetitiven Leistungsethik ist. Alltagssolidarität muss praktisch spürbar werden. Das verweist auf den zweiten Punkt, an dem linkspopulistische Positionen zu kurz greifen: Es kann nicht nur um eine medialdiskursive Verknüpfung der verschiedenen Widerstände gehen. Die Stärkung dissidenter Empfindungsstrukturen durch charismatische Bündelung setzt eine Nähe zu den Lebenswelten und eine Verankerung in den mikrosozialen Kämpfen voraus. Sie kann nicht hergestellt werden durch zentral orchestrierte »populistische« Narrative, die von Spindoktoren am grünen Tisch um vermeintlich »leere« Signifikanten herum konstruiert werden. Wohin das führen kann, zeigte sich jüngst beim Rohrkrepierer der Initiative #aufstehen. Und wie das Beispiel Podemos belegt, kann ein Mangel an demokratischer Erdung des engeren Führungskreises auch vor dem Hintergrund breiter Massenmobilisierungen schnell zum Verlust von Charisma und Zustimmung führen. Es bringt insofern auch wenig, daran zu appellieren, in der Politik doch bitte mehr auf Emotionen zu setzen oder gar zu suggerieren, es ginge nur darum, ohnehin vorhandene Affekte, seien sie nun wütend oder sanft, stellvertretend zu repräsentieren: im Sinne des sprichwörtlichen Rohrs, durch das es zu sprechen (respektive zu schreien) gelte. Die Übersetzung von Gefühlen aus einem intimen Erleben in ein performatives und kollektiv erfahrbares Interaktionshandeln ist ein komplexer Prozess, in dessen Verlauf die Empfindungen sich umbilden, ja oft überhaupt erst in ihren jeweiligen Verkörperungsweisen geweckt werden.
Charismatische Lichtblicke und linke Berührungsängste
Welche Rolle kommt hierbei nun dem Charisma zu? Auffällig ist zunächst, dass die Nachfrage nach inspirierenden öffentlichen Figuren, die dem an Nahrung satten Pessimismus des Verstandes den fragileren Optimismus des Willens zur Seite stellen, groß ist. Das zeigte sich zuletzt im spektakulären Aufstieg von Alexandria Ocasio-Cortez zur jüngsten US-Kongressabgeordneten aller Zeiten und tanzenden Verkörperung des linken Aufbruchs. In kürzester Zeit bildete sich eine Begeisterungswelle in den sozialen Medien, die überschwappte ins kommerziell und ideologisch deformierte Feld der Massenmedien, um deren verstopfte Kanäle durchzuspülen mit neuen Ideen und Stimmen. Das Gerede, es handele sich hier ja doch nur um weitere Spielarten kultureller »Identitätspolitik« – die rhetorisch begabte Frau sei eben jung, schön und eine Latina –, blamiert sich schon angesichts der unmissverständlichen Botschaften dieser neuen Gesichter. Zudem wurden ganz ähnliche Dynamiken ausgerechnet von zwei älteren weißen Herren mit persönlich eher diskretem Auftreten ausgelöst: nämlich von Bernie Sanders und Jeremy Corbyn, deren Kandidaturen wesentlich beitrugen zum linken Erneuerungsprozess im angloamerikanischen Zentrum des Finanzmarktkapitalismus, in dem in den nächsten Jahren entschieden werden dürfte, ob die sich anbahnenden globalen Katastrophen wenigstens eingedämmt werden können.
Beide überzeugten durch die biografische Konsequenz und Integrität ihres Engagements. Sie erreichten vor allem bei jungen Menschen überragende Zustimmungswerte und wurden, so wenig sie sich selbst wohl je für »hip« gehalten hatten, wie Popstars gefeiert – ein Umstand, der etwa Corbyn in Glastonbury 2017 sichtlich amüsierte. Solche Hypes führen natürlich zu einer Konzentration symbolischer Macht. Ansprüchen auf Selbstvertretung und Gleichheit läuft das zuwider. Nur: Dieser Widerspruch ist unter kapitalistischen Bedingungen, die faktisch durch Hierarchien und personalisierende Empfindungsstrukturen geprägt sind, zunächst unvermeidlich. Er bedarf umso mehr der Reflexion und Bearbeitung, um ihn in produktiver Spannung zu halten und einem Abgleiten in autoritäre Formen vorzubeugen. Dieses Thema zu meiden, weil es unbequem erscheint, oder es zugunsten einer naiven Ablehnung charismatischer Führung aufzulösen, verlängert nur den Zustand der gesellschaftlichen Handlungs- und Deutungsschwäche der Linken. Dann bleibt es rechten Demagogen überlassen, der Wut ein vergiftetes Ventil anzubieten.
Eine revolutionäre Beziehungsdynamik
Wie also lassen sich charismatische Phänomene verstehen? Wie lassen sich ihre Kräfte nutzen und ihre Gefahren eindämmen? Im Alltagssprachgebrauch meint Charisma eine schwer bestimmbare »Ausstrahlung«: vermeintlich eine Eigenschaft besonderer Personen. Charisma gilt heute in praktisch allen Lebensbereichen als begehrenswert – und im scharfen Kontrast zum traditionellen Verständnis als (göttliche) »Gnadengabe« zunehmend auch als erlernbare Sozialtechnik: Ratgeber und Managementkonzepte propagieren es als Schlüssel zur erfolgreichen Selbst- und Weltveränderung. Nur in der Politik, zumal in Deutschland, gilt Charisma als gefährlich. Gerade viele Linke denken zuerst an Trump oder Hitler. Sie verweisen, durchaus zu Recht, auf das »bonapartistische Moment« der Krise: den Glauben an starke Männer als Retter in der Not. Bei näherem Hinsehen stellt man aber fest, dass keine der großen Emanzipationsbewegungen ohne zentrale Symbolfiguren auskam. Es braucht Menschen, in denen sich ihre Ziele und Ideale besonders verkörpern und in deren öffentlichem Auftreten sich ihre (auch widerstreitenden) Impulse kristallisieren, verpuppen und in die Gesellschaft insgesamt ausstrahlen. Max Weber, der bürgerliche Säulenheilige der Soziologie, charakterisierte Charisma sogar als revolutionäre Kraft par excellence. In gesellschaftlichen Krisen trete sie als Träger des Neuen auf. Empirisch spricht viel für diese These. Charisma kann dabei, wie Weber zu Recht hervorhob, nicht als eine substanzielle Eigenschaft bestimmter Personen verstanden werden. Es bezeichnet eine soziale Beziehungsdynamik der kollektiven Zuschreibung und Umbildung von Bedürfnissen, Werten und Hoffnungen, wie auch immer diese inhaltlich orientiert und ideologisch begründet sein mögen.
Charismatiker*innen nehmen diese Projektionen auf, befeuern durch ihr Reden und Handeln die Leidenschaften und treiben damit kreativ-schöpferisch eine Bewegung an. Emile Durkheim sprach vom »Dämon der Beredsamkeit«. Die Sprecher*in wird von der Wucht des sozialen Begehrens ergriffen, über ihr Alltagsselbst hinausgetrieben und so befähigt, intuitiv die richtigen Worte und Gesten zu finden. Wolfgang Lipp erklärt dieses »soziale Grenzverhalten« aus einem dialektischen Umschlag von Stigmatisierung in charismatische Aufladung (Lipp 2010): Die Zuschreibung sozialer Schuld und Abwertung durch herrschende Kontrollinstanzen werde von Charismatiker*innen und ihren Anhänger*innen demonstrativ angenommen, in ihrer Wertung aber kreativ umgepolt, sodass die Herrschaftsinstanzen selbst als schuldig und illegitim erscheinen. Das kann sich in emanzipatorischer Perspektive etwa auf soziale Identitätszuschreibungen als »verschuldetes Kind der Arbeiterklasse«, als »schwarz«, »queer«, »hypersensibel-verletzlich« beziehen. Die damit verbundenen Erfahrungen verwandeln sich in der charismatischen Artikulation von etwas Verleugnetem und Verfemten in den legitimen Ausgangspunkt für Kritik und Umsturz der hegemonialen Werteordnung, samt ihrer sozialen Machtträger. Dabei kommt es nicht in erster Linie auf die individuelle Betroffenheit als solche an. Die überzeugende Sichtbarmachung und Transformation verdrängter Erfahrungen und blockierter Potenziale ist entscheidend.
Selbstreflexivität als Quelle von Charisma
Weber und in seiner Nachfolge die allermeisten Studien nahmen stets an, dass Charisma auf dem Glauben an eine radikal außeralltägliche Begabung oder Erwähltheit dieser einen Person basiert. Irrationale Unterordnung der »Jünger« galt als Definitionsmerkmal. Ein aufgeklärt demokratisches Charisma erschien damit schon a priori unmöglich. Ocasio-Cortez befeuert die politischen Leidenschaften, so meine Vermutung, aber gerade dadurch, dass sie sich trotz ihres unübersehbaren Talents und der Macht plötzlicher Massenaufmerksamkeit selbst nicht zu wichtig zu nehmen scheint. Sie bleibt ständig im Austausch mit einem sie tragenden Bewegungsnetzwerk, stellt ein hohes Maß an Transparenz über Strukturen und Entscheidungen in ihrem Umfeld her und setzt ihre kurzen Drähte zu anderen progressiven Kandidat*innen offensiv in Szene. Sie wird gerade dafür gefeiert, dass ihr die Eigenschaften fehlen, die Charismatiker*innen so oft (und nicht selten zu Recht) unterstellt werden, nämlich Selbstüberhöhung und Narzissmus. Ähnliches gilt für Sanders, der eine eher minimalistische, bewusst redundante Rhetorik pflegt und seine erneute Kandidatur mit dem Aufruf zur Massenmobilisierung verband: Selbst als Präsident könne er sonst nicht viel ausrichten. Bemerkenswert ist auch der Nachdruck, mit dem Ocasio-Cortez die Bedeutung charismatischer Repräsentation einerseits hervorhebt, andererseits aber in ihren Gefahren reflektiert. Die penetrante Personalisierung in den Massenmedien weist sie ständig zurück und macht darauf aufmerksam, dass sie nur in dem Maße über sich hinauswachsen könne, wie die Bewegung ihre selbstständigen Energien mobilisiere und in ihrer Person spiegele, ihr also temporär die Aufgabe der Repräsentation zuweise.
In einem Video der Justice Democrats unter dem Titel »Before Alexandria was known as AOC« wird auch die systematische Suche nach solch passionierten Außenseiter*innen mit Verankerung in Arbeiterklasse-Communities und Grassroots-Bewegungen deutlich. Authentizität und bewusste Inszenierung bilden dabei keinen Widerspruch. Im Gegenteil: Gekonnte Darstellung ist die Voraussetzung, um aus den eingefahrenen Mustern öffentlicher Kommunikation auszubrechen und wirkungsvoll etwas Wahres zu sagen. Und genau diese Erfahrung kann die charismatische Dynamik beflügeln. Um dies adäquat zu beschreiben, muss ein Charisma-Begriff entwickelt werden, der öffentliche Repräsentation als Teil eines konfliktreichen Prozesses der gemeinsamen Anverwandlung der Welt versteht. Hartmut Rosa (2016, 362ff) hat dies auch als politische »Resonanzerfahrung« beschrieben. Die musikalische Metaphorik ist nicht zufällig gewählt: Zur Sensibilisierung für die subtilen Nuancen sozialer Erfahrung gehört an zentraler Stelle der Umgang mit ästhetischen Artikulationsweisen. Auch künstlerische Charismatiker*innen spielen für Emanzipationsbewegungen deshalb eine entscheidende (an anderer Stelle zu vertiefende) Rolle.
Demokratische Führung jenseits des Taktstocks
Es bietet sich daher an, abschließend ein Bild von Elias Canetti zu bemühen. Dieser hatte in »Masse und Macht« den Dirigenten als Metapher für politische Führung und das Konzert als Sinnbild einer Versammlungsöffentlichkeit mit zweistufiger hierarchischer Konstellation vorgestellt. Der Dirigent, der als einziger die ganze Partitur im Kopf haben muss, »herrscht« demnach über die Musiker*innen des Orchesters, die ausführenden Organe, die ihm zu absolutem Gehorsam verpflichtet sind: »So hat er Macht über Leben und Tod der Stimmen« (Canetti 1960, 468) im kollektiven Körper der musikalischen (respektive politischen) Organisation. Gegenüber dem Publikum, das im Dunkel des Saales anonym, passiv und vereinzelt bleibt und dem der Dirigent den Rücken zugekehrt hat, ist er dagegen »führend«. Denn am Applaus, den er nicht erzwingen kann, wird sein Erfolg am Ende gemessen. Canettis Bild von Führung entspricht dem einer strikten Elitenvorherrschaft. Es ist dieses Modell einer »Führerdemokratie«, das auch Max Webers Ausführungen über charismatische Herrschaft im Parlamentarismus zugrunde lag (vgl. Nippel 2000). Für partizipativ-demokratische Ansprüche ist es viel zu autoritär strukturiert. Insofern mag es als schöne Freud’sche Fehlleistung gelten, dass Angela Merkel – die (nicht zufällig) denkbar uncharismatische »Deutschland geht es gut«-Kanzlerin – auf dem CDU-Parteitag als Abschiedsgeschenk einen Taktstock überreicht bekam. Christoph Michael und Grit Straßenberger (2018/19) nehmen Canettis Bild zum Anlass, politische Autorität in Demokratien als »grundsätzlich prekär« zu bestimmen. Die Schwäche der Verteidiger*innen einer liberalen Demokratie gründe darin, dass es ihnen an Modellen für »demokratische Autorität« mangele. Den konsensorientierten, reaktiv reparierenden statt offensiv gestaltenden Eliten fehle es zudem an klar unterscheidbaren Kollektivzielen. Ihre Autorität sei deshalb auf personales Charisma angewiesen und erodiere, wo ein solches ausbleibt.
Tatsächlich war das Fehlen von Charisma bei Merkel aber ja lange Programm und Erfolgsgeheimnis: Die als beruhigend empfundene Langeweile war Ausdruck der in Deutschland verbreiteten Angst vor Veränderung. Und das Charisma eines Renzi oder Macron (nicht zu sprechen vom pseudocharismatischen »Schulz-Effekt«) verpuffte vor allem deshalb so schnell, weil deren Politik gegen den Willen einer Bevölkerungsmehrheit verstößt – Demokratie insofern auch nicht verteidigt, sondern selbst untergräbt. Ein rein personales Charisma ist überhaupt schwer vorstellbar. In der Person verkörpert sich eben ein soziales Projekt. Das Dilemma demokratischer Autorität mag sich zwar nicht auflösen, aber doch entschärfen lassen. Dafür gibt es passendere musikalische Metaphern (auch jenseits von Sir Simon Rattle). Diese bestehen sicher nicht in der direkten Negation des klassischen Konzertsaals: etwa der sich in Klangexperimenten verlierenden Hippie-Band, mit ihrem tranceartig, in anarchisch-verträumter Führungslosigkeit tanzenden Publikum. Auch das aggressive Punkkollektiv ist in seiner Negativität und Idealisierung von Dilettantismus wohl ungeeignet. Einem Sinnbild demokratischer Führung nähern wir uns eher bei der Betrachtung einer gut geschulten Band, die unter Regie eines charismatischen, aber nicht dominanten Leaders und auf Basis eingeübter Grundmotive improvisiert, sich dabei wechselseitig rückkoppelt und ausdifferenziert. In der Variation der Set-Liste wie auch in den spontanen Jamsessions müsste diese Band auf ein Publikum eingehen, das selbst durch Bewegungen, Rufe und Gesten interveniert und zwischenzeitlich selbst die Bühne bespielt. Das käme dem, was sich in den Rhythm-and-Blues-, Folk-, Soul- und Jazzclubs der 1960er Jahre erleben ließ, recht nahe (vgl. Lill 2013).
Viele Stimmen gebündelt auf die grosse Bühne übersetzen
Darin, so ließe sich vorläufig resümieren, besteht der Kern demokratischen Charismas: Es greift auf, was es aus ständigen Interaktionen erfährt, artikuliert verdrängte subalterne Erfahrungen auf einer größeren Bühne, wo man diese sonst kaum hört, systematisiert progressive Tendenzen des Alltagsverstandes und übersetzt so zwischen molekularen Mikroöffentlichkeiten und gesellschaftlichen Massenöffentlichkeiten – um beide zu verändern. Dazu muss die Charismatiker*in mindestens so viel zuhören wie sprechen und in Kontakt mit einem kollektiven Lernprozess bleiben. All das bedeutet nicht, vor strategischen, oft nicht konsensfähigen oder sogar unpopulären Entscheidungen auf Grundlage politischer und fachlicher Expertise zurückzuschrecken. Nur muss darüber laufend Rechenschaft abgelegt werden. Das ist heute auch in neuem Ausmaß möglich, weil große Teile des »Publikums« durch soziale Medien und (oft erzwungene) expressive Selbstaktivierung »musikalisch« geschult sind, lautstark kommentieren oder mitspielen. Die größere Schwierigkeit dürfte darin bestehen, die Bedürfnisse der vielen Passivierten und Desillusionierten zu erspüren – ganz zu schweigen von der Einhegung des Irrsinns, der sich in den rechten Parallelwelten aufschaukelt. Demokratisches Charisma erwächst in jedem Fall aus der Fähigkeit, viele Stimmen in prägnanten Bildern und Erzählfiguren zu bündeln. Diese müssen offen genug für das Neue und Heterogene sein, zugleich aber durchdrungen von Tradition und Erinnerung. Nur dann kann es gelingen, die lebendigen Rufe des Hier und Jetzt mit den alten Stimmen aus dem Untergrund und den autopoetisch antizipierten möglichen Stimmen einer besseren Zukunft zu synchronisieren, ohne sie unter einer vermeintlich schon fertigen Komposition zusammenzuzwingen.