Es gibt sie noch, die Hoffnung stiftenden Großtrends. Zu ihnen zählt die Rückkehr einer progressiven, aktivistischen Jugend auf die Bühne der Weltpolitik. Fridays for Future (FFF) ist dafür nur das offensichtlichste Beispiel und Teil eines längeren Zyklus, der im Nachgang der Krise 2008/09 begann.
Deutschland gehört dabei eher zu den Nachzüglern, Jugendstudien unterstreichen aber auch hierzulande: Nach einem Rückgang des politischen Interesses in den 1990er und 2000er Jahren zugunsten stärker »egotaktischer« Orientierungen betont die »Generation Greta« zunehmend solidarische Werte (Albert et al. 2019; Calmbach et al. 2020). Sie fordert ihre verkaufte Zukunft zurück – nicht nur indem sie sich (eindeutig klassenübergreifend!) für konsequenten Umwelt- und Klimaschutz ausspricht. Eine (wachsende) Mehrheit positioniert sich auch in anderen zentralen Fragen links der Mitte: bei sozialer Sicherung und Reichtumsverteilung, bei Mietenpolitik und öffentlicher Daseinsvorsorge oder bei Themen wie Arbeits- und Gleichstellungspolitik, Migration und Rassismus, Friedenssicherung und Netzpolitik.
Dennoch beschreibt sich nach wie vor nur eine Minderheit als politisch interessiert und engagiert. Es dominieren Gefühle der Distanz und Ohnmacht gegenüber organisierter Politik, insbesondere gegenüber Parteien. Das gilt speziell, aber nicht nur, für prekäre Klassenlagen, von denen junge Menschen überdurchschnittlich häufig betroffen sind. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass Jugendliche sich in ihren Erfahrungen und Ansprüchen nicht repräsentiert sehen und mehr Mitgestaltungsrechte einklagen. Die ausbleibende Wende beim Klimaschutz, die Urheberrechtsreform (Stichwort: Uploadfilter) und jüngst das politische Versagen bei Infektionsschutz, Digitalisierung und Entlastung in den Schulen haben diese Grundwahrnehmung weiter verschärft (Andresen et al. 2020).
Dieses kritische Potenzial hat sich im angloamerikanischen Raum mit den Kampagnen um Corbyn und Sanders, trotz zuletzt schwerer Rückschläge, auch in eine Renaissance des demokratischen Sozialismus übersetzt. In Deutschland erweist es sich (nach dem Intermezzo der »Piraten«) dagegen bisher vor allem als Wasser auf die Mühlen des grünen Regierungsprojektes. Zwar gelang es der Partei DIE LINKE, den Anteil ihrer Mitglieder im Alter von bis zu 30 Jahren seit der Jahrtausendwende auf rund 20 Prozent nicht weniger als zu verzehnfachen – womit sie heute noch vor den Grünen die einzige Partei ist, in der junge Menschen etwa entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung vertreten sind (Niedermayer 2020). An den Wahlurnen erreicht sie in dieser Altersgruppe aber weiterhin nur durchschnittliche Werte, während die Grünen seit der letzten Bundestagswahl ihren Wähleranteil auf rund 30 Prozent nahezu verdreifachen konnten. Bei einer Befragung von FFF-Aktiven gaben sogar 62 Prozent an, in den Grünen zumindest das kleinste Übel zu sehen, nur 10 Prozent neigten zur LINKEN. Selbst unter den in derselben Studie befragten Auszubildenden bei Opel lagen die Grünen mit rund 25 Prozent deutlich vor allen anderen Parteien (LINKE: 7 Prozent) – wobei hier der Anteil jener, die sich der Wahl enthalten oder marginale Parteien unterstützen, mit 38 Prozent noch deutlich größer ist (Karg/Laßhof 2021).
Welche Erfahrungen und Stimmungslagen drücken sich darin aus? Und wie könnte eine erfolgreichere Ansprache von links aussehen?
Pragmatisches »Re-Grounding« – kleinbürgerlich oder solidarisch?
Bei einer Annäherung an diese Fragen sollte eines klar sein: Das generalisierte Sprechen über ›die Jugend von heute‹ ist ideologisch vermintes Gelände. Dies nicht nur, weil jede Generation in sich widersprüchlich und nach Klassenmilieus vielfältig differenziert ist. In den Jahrzehnten marktradikaler Politik und sozialer Fragmentierung haben sich auch jugendliche Lebenswelten weiter auseinanderentwickelt (Lill 2016).
Das gilt zum einen vertikal mit Blick auf Familieneinkommen und Bildungszugang: Die soziale Mobilität, vor allem aus den unteren Statuspositionen heraus, hat abgenommen. Klassenspaltungen haben sich verfestigt und bilden den am stärksten prägenden Einflussfaktor für Handlungsorientierungen und Zukunftserwartungen. Aber auch quer zur hierarchischen Schichtung sind Werthaltungen und Prioritäten weit ausdifferenziert: Bei einem Teil der Jugendlichen überwiegt, wenn auch inzwischen deutlich gedämpft, die Suche nach kreativer Selbstverwirklichung und Grenzüberschreitung (die Sinus-Studien sprechen von »Charisma«-Orientierung, typischerweise verbunden mit einem Streben nach Höherqualifizierung). Ein anderer Teil betont dagegen verstärkt traditionelle Formen der Autorität und Heimatverbundenheit, was mit einer größeren Empfänglichkeit für Ressentiments und antidemokratische Aussagen korreliert (wobei solche Einstellungen insgesamt schwächer ausfallen als in der Gesamtbevölkerung und langfristig eher abnehmen).
Diese Unterschiede übersetzen sich allerdings nicht in eine klare Lagerpolarisierung, wie sie als wenig trennscharfe Unterscheidung zwischen »Kosmopoliten« und »Populismus-Geneigten« heute in den Strategiedebatten fast aller Parteien herumgeistert. Als übergreifende Trends verbindet die Lebenswelten nämlich nicht nur eine nach wie vor pragmatische Haltung, die scheinbar Widersprüchliches flexibel verbindet und kooperative Problemlösung mehr schätzt als scharfe Frontbildung und radikale Parolen. Es zeigt sich auch insgesamt eine gewachsene Betonung sozialer Werte wie Gerechtigkeit, Geborgenheit und Altruismus, gepaart mit Idealen wie Leistungsbereitschaft, Expertise und Selbstbestimmung.
Die Sinus-Studien sprechen von »Re-Grounding«: Angesichts der Wahrnehmung zunehmender gesellschaftlicher Desintegration wird eine tiefere Verankerung in Nahweltbeziehungen gesucht. Selbstsorge und Ernsthaftigkeit stehen hoch im Kurs. Bescheidene, auf Sicherheit bedachte Hoffnungen treten hervor: Stabile Freundschaften, dauerhafter und sinnvoller Beruf, eigene Wohnung und Kleinfamilie versprechen Schutz vor den aufziehenden Stürmen. Aus linker Sicht mag das als Rückzug auf bürgerliche Vorstellungen vom kleinen Glück beklagt werden. Positiv gewendet zeigt sich darin aber ein Impuls gegen Vereinzelung, Egoismus und Spaltung.
Die Grünen adressieren diese Bedürfnisse, indem sie versprechen, die »Fundamente des Vertrauens zu erneuern« (Habeck) – durch sozialökologischen Wandel und Reanimierung eines ordnenden Staates auf Basis breiter Mehrheiten, ohne große Brüche und Lagerkämpfe: ein pragmatischer Idealismus im Einklang mit der Konjunktur des post-neoliberalen Zentrismus. Trotz der zunehmenden Infragestellung sparpolitischer Dogmen auch im bürgerlichen Lager erscheint diese Perspektive jedoch objektiv unrealistisch. Nachhaltigkeit wird im politischen Mainstream hauptsächlich simuliert, während die Klima- und Biodiversitätskrise rasant eskaliert. Nach dem Konflikt um die Abholzung des Dannenröder Forstes scheinen weitere Enttäuschungen vorprogrammiert – erst recht, wenn es im Herbst zu einer schwarz-grünen Bundesregierung kommen sollte.
Die Repräsentationslücke könnte sich damit absehbar weiter öffnen. Welche Ansatzpunkte für eine linke Ansprache lassen sich in den Alltagserfahrungen Jugendlicher ausmachen?
Wachsender Druck in Schule und Ausbildung
Eine akut durch Corona verschärfte Problematik betrifft die Ausbildungsbedingungen. Zum einen entscheidet der Zugang zu Abschlüssen gerade in Deutschland über Lebenschancen und stabilisiert so Klassenspaltungen. Zum anderen beschreiben Jugendliche aller Lebenswelten insbesondere die Schule als Ort der Missachtung von Beteiligungsansprüchen. Die Unterdrückung von Eigeninitiative und kreativen Lösungen beim Infektionsschutz hat die Wut über Kultusministerien und Schulbürokratien nun hochkochen lassen – zumal sich bereits im April 2020 eine große Mehrheit der Jugendlichen kritisch gegenüber schnellen Schulöffnungen zeigte und ein vorsichtiges Vorgehen bei Lockerungen einforderte (Sinus-Jugendstudie 2020; Andresen et al. 2020). Diese Erfahrungen könnten im Wahlkampf offensiv zugunsten einer besseren Ausstattung und partizipativen Reform des Ausbildungswesens aufgegriffen werden.
Die Zuspitzung durch Corona verweist zugleich auf etwas Grundlegendes: Durch den inzwischen früh einsetzenden Druck zur Anpassung an Qualifizierungszwänge und standardisierte Leistungsnormen wurden Freizeitjugendkulturen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts relativ eigenständige, popmusikalisch gerahmte Experimentierfelder und oft auch Räume der Politisierung bildeten, stark zurückgedrängt (Lill 2011). Viele Jugendliche, nicht nur in unteren Soziallagen, beklagen heute massiven Zeit- und Wettbewerbsstress. Besonders Mädchen und junge Frauen antizipieren schon früh Vereinbarkeitsschwierigkeiten durch entgrenzte Erwerbsarbeit und den damit nahegelegten Rückzug auf eine klassische Arbeitsteilung in den Familien. All das entzieht jugendlichen Lebenswelten die für linke Politik so wichtigen konkret-utopischen Energien und hat erhebliche psychische Folgen: Es mehren sich, nicht erst seit dem Lockdown, Hinweise auf eine Zunahme von Einsamkeit, Depressionen und Ängsten.
Insofern ist es irreführend, wenn Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht das Engagement der FFF, in Analogie zu den 68ern, auf eine vermeintliche Entlastung weiter Teile der »Generation Greta« von (v. a. beruflicher) Unsicherheit und Zukunftssorgen zurückführen (Hurrelmann/Albrecht 2020a, 2020b): Die letzte Shell-Studie (deren Erhebungen in der Initialphase von FFF Anfang 2019 stattfanden) stellte im Gegenteil fest, dass die Zuversicht gerade in den mittleren und höheren Schichten abgenommen hat. Die zu diesem Zeitpunkt noch verbesserte Ausbildungslage durch den Aufschwung ab 2010 und den demografischen Wandel wirkte sich eher bei den unteren Schichten ermutigend aus (wenn auch auf niedrigerem Niveau) (Shell-Jugendstudie 2019).1 Das Klischeebild der privilegierten, selbstbewussten Mittel- und Oberschichtenkids, die sich den Klimaprotest ›leisten‹ können und die Generation sogar noch weiter spalten, ignoriert nicht nur, dass die Furcht vor Naturzerstörung und wachstumskritische Positionen in allen Schichten stark zugenommen haben. Es bagatellisiert auch die alltäglichen Sorgen jenseits der 20 Prozent der ›Abgehängten‹.