Verkehr ist ein Zukunftsthema und Feld für soziale Kämpfe. Die Autokonzerne rüsten für eine Verdopplung der Pkw-Zahl weltweit. Wir dagegen brauchen Utopien, Modelle und praktische Kämpfe für regionale Entwicklung mit weniger Verkehr, für öffentliche Räume für Menschen statt Autos, für Bahnen und (Elektro-)Busse. Die Mosaik-Linke könnte die notwendige sozial-ökologische Verkehrswende als ein zentrales Transformationsprojekt auf die Agenda setzen – getreu der Losung »Jede Revolution beginnt auf der Straße« (VW-Werbung aus den 1980ern).
»Das Auslaufmodell des Jahrhunderts«
… titelt die Süddeutsche Zeitung am 17./18. Juli 2010 über die Zukunft des Autos. Doch was ist das neue Modell? Und wer setzt es durch? Beschäftigt sich überhaupt jemand im Alltag mit einer solchen Frage? Noch nicht wirklich. Das wird sich schnell ändern: Der Rohölpreis steigt seit 2004 markant. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung geht davon aus, dass eine Verdoppelung des Preises in den nächsten zehn Jahren und ein Benzinpreis von vier Euro wahrscheinlich sind. Mobilität war schon immer auch eine Verteilungsfrage. Laut Erhebung des Statistischen Bundesamtes von 2009 besitzen knapp ein Drittel (23 Prozent) der 39 Millionen bundesdeutschen Haushalte keinen Pkw. Etwa 70 Prozent nannten dafür finanzielle Gründe. Die Frage, welche Mobilität sich Mensch leisten kann, wird zukünftig an Bedeutung gewinnen.
Was läuft verkehrt?
Die gesamte Verkehrsstruktur ist aufs Privatauto fokussiert. Das Baurecht regelt klar, wie viel Parkraum oder welche Zufahrtsstraßen die Kommunen von Investoren fordern können – aber riesige Verbrauchermärkte und Freizeitzentren, große Wohn- und Gewerbegebiete werden ohne ÖPNV-Anschluss genehmigt. Jedes noch so kleine Dorf ist ans Straßennetz angeschlossen, doch wenn nach Bus und Bahn gefragt wird, ist vielerorts ›Fehlanzeige‹. Vorsorge für den Autoverkehr gilt den Kommunen als Pflichtaufgabe, öffentlicher Verkehr wird in den Nahverkehrsgesetzen nur als freiwillige Aufgabe definiert. Das Leitbild der »Autogerechten Stadt« ist in Beton gegossen, motorisierte Verkehrsteilnehmer haben überproportional viel Raum, während Fußgänger durch Tunnel, Ampeln oder Überführungen »kanalisiert« und an den Rand gedrängt werden. Für den Pkw/Lkw-Verkehr wurden Erreichbarkeitsstandards (etwa 25 km zur nächsten Autobahnauffahrt) als Bedarfsgrundlage bestimmt – etwas Vergleichbares fehlt fürs Schienenetz. Deutschland gehört mit jährlich 47 Euro für Schieneninvestitionen pro Kopf der Bevölkerung zu den Schlusslichtern in Europa – hinter Italien, Frankreich, Spanien, Schweden, den Niederlanden, Großbritannien, Österreich oder dem Spitzenreiter Schweiz (284 Euro). Dabei schaffen öffentliche Investitionen in Schieneninfrastruktur, Bahnhofsbau und Verkehrsberuhigung zwei Drittel mehr Arbeitsplätze als der Bau von Autobahnen. Da absehbar die Nachfrage nach Schienenverkehr explodieren wird, wird der seit Jahren laufende Raubbau der Schiene auch hier vor allem die etwa 18 Millionen Menschen treffen, die schon heute auf öffentliche Angebote angewiesen sind. Mit den Großprojekten, Aufkäufen und Hochgeschwindigkeitsstrecken, die als Leuchttürme der Industrie- und Standortpolitik gepusht werden, ist ihnen nicht geholfen – und ebenso wenig mit dem Abbau von 150 000 Stellen (der Hälfte des Bahn-Personals) von 1994 bis 2010.
Mobilität und Verkehrspolitik könnten ganz anders aussehen
… nämlich solidarisch, sozial, demokratisch, umwelt- und klimaschonend. Dafür gibt es lebendige Beispiele, real existierende Bausteine für umfassende Alternativen, die auf das Neue verweisen, das im Alten schon entsteht: Zum Beispiel Nulltarif im ÖPNV In der belgischen Stadt Hasselt (etwa 70 000 Einwohner) wurden 1997 die Fahrkarten aus dem Verkehr gezogen: Alle Busse können von jedermann kostenlos benutzt werden. Der Autoverkehr wurde eingedämmt, das Parken verteuert und das Bussystem ausgebaut.
Der geplante dritte Straßenring um den alten Stadtkern wurde überflüssig; diese Einsparung wurde in den ÖPNV gesteckt. Vierspurige Straßen konnten auf zwei Spuren zurückgebaut werden, weil die breiten Verkehrsadern nicht mehr benötigt werden. Nach der Umstellung stieg die Zahl der Fahrgäste innerhalb von zwölf Monaten von 340 000 auf 2,7 Millionen. 2008 nutzten rund 4,5 Mio Fahrgäste die kostenlosen Busse.
Es gibt Schritte auf dem Weg dorthin. Das Wuppertal Institut hat die Variante vom »eingeschränkten Nulltarif« entwickelt, der die Kostenfrage löst: Alle Einwohner sollen frei fahren dürfen; kostenlos wäre der Freifahrtschein für die Bürger nicht, weil sie ihn über Abgaben finanzieren: durch Parkplatzgebühren, eine Nahverkehrs-Abgabe ähnlich der für die Müllabfuhr und durch die Gewerbesteuer. So würden auch die örtlichen Firmen zur Bezahlung des Nulltarifs beitragen.
Zum Beispiel »Usedomer Bäderbahn«: Diese steht für 15 Regionalbahnen, die mit einem guten Angebot viele Fahrgäste gewonnen haben. Das »Rezept« ist nachvollziehbar und kann kopiert werden: Investition in die Infrastruktur, damit es auf der Schiene flutscht und die Stationen für alle gut zugänglich und attraktiv sind. Dazu neue Fahrzeuge, die mehr Komfort, weniger Lärm und ein angenehmes Reisegefühl bringen. Als wesentliche Zutat ein dichter, regelmäßiger Taktfahrplan ohne lange Wartezeiten. Und eine starke Orientierung an den Bedürfnissen der NutzerInnen, Verbundenheit mit der Region und schließlich Zuverlässigkeit, Sauberkeit und Pünktlichkeit. Auf diese Weise hat die Regiobahn (NRW) seit 1998 auf der Strecke Kaarst–Mettmann ein Plus von 3790 Prozent eingefahren, die Usedomer Bäderbahn (Mecklenburg-Vorpommern) hat seit 1992 die Fahrgastzahlen verzehnfacht. Auf der bereits totgesagten Strecke der Taunusbahn (Hessen) zwischen Brandoberndorf und Bad Homburg mit Anbindung nach Frankfurt/ Main sind die Züge regelmäßig überfüllt. Die Strecke Osnabrück-Vechta-Bremen, auf der heute die NordWestBahn Fahrgastrekorde aufstellt, konnte nur gerettet werden, weil sich Pro Bahn und NABU erfolgreich gegen die Stilllegung gestellt hatten.
Zum Beispiel: Karlsruher Modell – Kooperation bringt die Schiene weiter Das Karlsruher Stadtbahnnetz zählt mit ungefähr 400 Kilometern zu den größten Europas. Dort können Zwei-System-Wagen sowohl auf Stadtbahn- als auch auf Eisenbahnschienen fahren (Tram-Train). Die Zahl der Fahrgäste stieg von 8,1 Millionen (1985), über 19 Millionen (1990) und 32,8 Millionen (1996) auf 66,5 Millionen im Jahr 2007. Von Anfang an bestand eine enge Kooperation zwischen der Albtal Verkehrsgesellschaft und den Verkehrsbetrieben Karlsruhe, die sich in einer gemeinsamen Verwaltung, der Nutzung gemeinsamer Werkstätten und einem gemeinsamen Fahrzeugpool ausdrückt. Im Karlsruher Verkehrsverbund (KVV) arbeiten heute insgesamt 20 selbständige Verkehrsunternehmen zusammen und haben auf einer Fläche von rund 3 500 Quadratkilometern ein dichtes Netz von weit über 200 Bahn- und Buslinien geknüpft. Alle Linien sind aufeinander abgestimmt und häufig kann man am selben Bahnsteig von der Bahn auf den Bus oder umgekehrt umsteigen.
Zum Beispiel die Begegnungszone (Shared Space): Basisnah und demokratisch Mit diesem in den Niederlanden und in der Schweiz bereits vielfach umgesetzten Konzept wird ein Straßenraum allen Verkehrsteilnehmenden gleichberechtigt zur Verfügung gestellt. Verkehrsschilder und Ampelanlagen werden abmontiert, es gilt gegenseitige Achtsamkeit und Rücksicht – Autofahrer fügen sich ins Miteinander von Fußgängern, Radfahrern und spielenden Kindern ein. Unfälle werden damit stark reduziert. Shared Space setzt auf Entscheidungsprozesse, die neue Strukturen für die Teilnahme aller Beteiligten schaffen – zum Beispiel in Bohmte (Niedersachsen): Zu Beginn der Planung fanden Einwohnerversammlungen statt, um die Wünsche und Bedenken von Bürgern, Einzelhändlern und Gewerbetreibenden zu sortieren. Im nächsten Schritt koordinierte die lokale Projektsteuerungsgruppe offene Workshops, in denen Leitvorstellungen für den Ausschreibungswettbewerb formuliert wurden. Nach der abschließenden Bewertung der Entwürfe in weiteren Einwohnerversammlungen trat die Gemeinde in Verhandlungen mit dem Land ein, um Genehmigung und Fördergelder zu erhalten, was – mit etlichen Auflagen – gelang.
Ein Schlüssel: Bahn für alle!
Um analog zu Autobahnen und Bundesstraßen das Fernbahnnetz flächendeckend, dezentral auszugestalten und alle Regionen anzubinden, sind erhebliche öffentliche Investitionen nötig – allerdings weniger, als der Ausbau des Straßennetzes kosten würde, wie eine Studie der TU Wien zeigte. Gerechnet in Beschäftigtenjahren pro investierte Milliarde Euro kommt der Autobahnbau auf rund 10 000 Beschäftigte. Der Bau von Bahnhöfen schafft bei gleicher Investition rund 17 400 Arbeitsplätze, der Eisenbahnstreckenbau, Arbeiten im Bereich des ÖPNV und Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung bringen es auf jeweils 16 000 Arbeitsplätze pro Milliarde Euro. Die Bahn für alle hat viele Gesichter:
- Als Bürgerbahn ist sie vollständig in öffentlichem Eigentum, mit dezentralen, bürgernahen Strukturen. Fahrgäste und Beschäftigte werden in Entscheidungsprozesse einbezogen.
- Als Flächenbahn wird sie den Mobilitätsbedürfnissen der großen Mehrheit gerecht. Nah-, Regional- und Fernverkehr sind eng vernetzt, der »integrale Taktverkehr« wird realisiert. Dazu ist ein Tempolimit für Züge (230 km/h) sinnvoll, damit Städte und Regionen, in denen Millionen Menschen leben, in den Fernverkehr der Bahn (re-)integriert werden können.
- Als Europabahn arbeitet sie mit den Eisenbahnunternehmen der Nachbarländer zusammen. Die Züge enden nicht an den Grenzen, sondern fahren bis zum nächsten großen Schienenknoten der Nachbarn. Innereuropäische Flüge werden überflüssig.
- Als Sozialbahn sorgt sie dafür, dass Mobilität kein Privileg der Bessergestellten ist. Schienenverkehr muss vorbildlich sein hinsichtlich der sozialen Preisgestaltung. Günstige Jahresund Netzkarten sind ein wichtiger Baustein.
- Als Gute-Arbeit-Bahn bietet sie gesellschaftlich sinnvolle Arbeitsplätze. Die müssen so gestaltet sein, dass die Beschäftigten motiviert und zufrieden sind. »Menschen bedienen Menschen« wird ins Zentrum gerückt.
- Als Klimaschutz-Bahn hat sie volle Elektrifizierung; Recycling und Energieeinsparung sind selbstverständlich. Der Strom wird so schnell wie möglich aus erneuerbaren Energiequellen gewonnen. CO2-freies Fahren ist das Ziel.
Transformation in eine solidarische Mobilität
Obwohl die Frage, wie wir uns bewegen, alle konkret betrifft, wird Verkehrspolitik meist als Angelegenheit von Fachleuten betrachtet, die von Verkehrsexperten behandelt wird. Durch diesen dicken Staubteppich dringen immer wieder tapfere Bürgerinitiativen mit Positionen und Aktionen gegen Straßenausbau oder Fluglärm, für Sozialtickets, gegen großmannssüchtige Bahnprojekte und für den Stuttgarter Kopfbahnhof. Oder für autofreies Wohnen. Selten aber gelang es, breitere Allianzen zu schmieden; das Bündnis gegen die Privatisierung der Bahn war eine wichtige Ausnahme. Was insgesamt fehlt, ist der Ausdruck von gemeinsamen politischen Ideen, die das alles in eine jeweils zu konkretisierende Utopie einbinden. Dabei sind die Umrisse einer solidarischen Mobilität deutlich zu erkennen:
- Sie ist vor allem öffentlich – das ist wesentlich, weil damit kollektive Gestaltung und Allgemeinwohlorientierung möglich werden.
- Sie lässt nicht zu, dass Leute abgehängt werden. Flächendeckend gute Angebote, barrierefreier Zugang und soziale Preisgestaltung gehören dazu.
- Sie ist demokratisch, geht von Bedürfnissen der EinwohnerInnen aus und bezieht alle Beteiligten in die Ausgestaltung ein.
- Sie basiert auf Kooperation und nicht auf Konkurrenz. Statt der Eroberung von Marktund Exportanteilen steht die Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisse im Zentrum.
- Sie ist möglichst CO2-frei, damit Klimagerechtigkeit auch in diesem Sektor möglich wird. Darin drückt sich heute globale (internationale) Solidarität aus.
- Sie erprobt Modelle für zukunftsfähige Mobilität in Megacities und gibt Know-how an den globalen Süden ab – als Beitrag zur Bewältigung der Klimaschäden, die unser Verkehr bereits verursacht hat.
Mit dem linken Autokongress Auto.Mobil. Krise kann ein Anfang gemacht werden für die Formulierung einer solchen Perspektive – weitere werden folgen. Die Herausforderung besteht darin, heute die Voraussetzungen für den »sozialverträglichen« Ausstieg aus der Autogesellschaft zu erkämpfen, damit er in zehn Jahren gelingen kann.