Die Welt leidet nicht an zu wenig Hilfe, sondern an Verhältnissen, die immer mehr Hilfe notwendig machen. Es sind auch solche Einsichten, die Einsprüche gegen eine voranschreitende Prekarisierung der Lebensverhältnisse haben anwachsen lassen. Weltweit begehren Menschen dagegen auf. Ob in den sozialen Massenprotesten in Brasilien, den Auseinandersetzungen in Istanbul, den Kämpfen gegen die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen wie in Bolivien, Südafrika und in der arabischen Welt – so verschieden die Anlässe und so unterschiedlich die Protestformen sind, es schwingt in ihnen doch immer die Idee eines Lebens mit, in dem ›Freiheit‹ und ›Gemeinwesen‹ nicht zu Euphemismen für Rendite und Repression verkommen sind.
Fraglos haben die neuen Medien einen großen Anteil daran, dass lokale Kämpfe sich quasi in Echtzeit wechselseitig informieren – egal an welchem Ort der Erde sie stattfinden. Dennoch ist das Verständnis von Gemeinsamkeit längst nicht so entfaltet, wie es nötig wäre, um daraus eine wirkungsvolle Gegenmacht werden zu lassen. Der Leitsatz aus der Umweltbewegung: »Global denken, lokal handeln«, hat in den Kämpfen um soziale Rechte und Demokratie bislang zu wenig strategische Relevanz gefunden. Im Gegensatz zur ökonomischen Globalisierung, in deren Folge die Unterwerfung von Mensch und Natur unter das Diktat von Verwertung und politischer Kontrolle bis in den letzten Winkel der Erde ausgeweitet wurde, befindet sich das gegen-hegemoniale Projekt einer unabhängigen transnationalen Öffentlichkeit, die wirksam für Emanzipation und demokratische Selbstbestimmung eintreten könnte, noch im Prozess des Werdens. Es sind konkrete soziale Auseinandersetzungen und Aneignungsprozesse, in denen sich eine solche transnationale Öffentlichkeit heute konstituiert: als Vernetzung lokaler Widerstandspunkte, die erste gemeinsame Initiativen ergreifen, Gegeninformation austauschen, Analysen anstrengen, über gemeinsame Strategien nachdenken und dabei überhaupt erst anfangen, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln (vgl. Interview »Europa von unten« in diesem Heft).
Menschenrechte, Solidarität, Governance, Regulierung, Gemeingüter, Partizipation, Hilfe – für keinen dieser Begriffe gibt es unter den AktivistInnen für eine andere Welt a priori ein gemeinsames Verständnis. Je nach Erfahrungshintergrund gelten sie den einen als Grundlagen von Emanzipation und sozialer Gerechtigkeit, den anderen als perfide Formen der Absicherung bestehender Macht und Privilegien. Zu Recht steht der vom globalen Norden geübte Menschenrechtsdiskurs im Süden im Verdacht, der Legitimation sicherheitspolitischer Interventionen zu dienen. Governance-Modelle, die Partizipation versprechen, entpuppen sich bei näherer Betrachtung keineswegs nur als Chance radikal-demokratischer Beteiligung, sondern als Verschleierung tatsächlicher Machtasymmetrien. Und Hilfe kann ebenso zur Abmilderung und damit Stabilisierung bestehenden Unrechts beitragen wie zu dessen Beseitigung. Die mitunter leidenschaftlichen Debatten, die Linke hierzulande über solche Fragen führen, lassen erahnen, wie schwierig die Verständigung fällt, wenn Menschen aus verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten zusammenkommen (vgl. Bernau in diesem Heft). Und doch erfordert die Herausbildung transnationaler Öffentlichkeit genau diese Verständigung.
Das People's Health Movement
Zu einer der transnationalen Vernetzungen, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten gebildet haben, zählt das People’s Health Movement (PHM). Es wurde 2000 in Bangladesch von Akteuren aus den globalen Süden gegründet und vereint heute Hunderte von kritischen Gesundheitsinitiativen aus aller Welt. Dreimal hat sich das PHM bislang zu People’s Health Assemblies getroffen, um lokale Erfahrungen auszutauschen, Bestätigung oder Kritik zu finden und sich auf gemeinsame Strategien und Kampagnen zu verständigen – eine Art unabhängige Weltgesundheitsversammlungen von unten. Über 1000 AktivistInnen trafen sich zuletzt 2012 in Kapstadt, um die Folgen der Krise für die Gesundheit zu analysieren, die negativen Auswirkungen eines Entwicklungsmodells anzuprangern, das auf Rohstoffausbeutung setzt, und über Fragen eines allgemeinen Zugangs zu angemessenen Gesundheitsdiensten zu diskutieren. Dabei wurde immer wieder deutlich gemacht, dass das Recht auf Gesundheit nicht top down gewährt werden wird, sondern von unten erkämpft werden muss.
Grundlage der Arbeit des PHM ist eine Charta, die bereits nach dem ersten Treffen in Bangladesch ausgearbeitet wurde. Deren Ziele sind die Verteidigung von Gesundheit als Gemeingut, die Zurückweisung aller weiteren Privatisierungstendenzen sowie die weltweite Durchsetzung sozialer Rechte. Auch in Kapstadt wurden diese Ziele bestätigt, und gleichzeitig war unübersehbar, wie sehr etwa das Verständnis von Gemeingütern variiert. Verbanden die VertreterInnen aus dem globalen Norden mit der Idee von Gesundheit als Gemeingut in erster Linie funktionierende Serviceleistungen, eben Güter, die Gemeinwesen ihren Mitgliedern zur Verfügung stellen müssen, akzentuierten VertreterInnen aus Lateinamerika beispielsweise die Idee der commons als einen politischen Prozess, innerhalb dessen Gemeinwesen den Umgang mit den für die Lebensgestaltung notwendigen Ressourcen klären.
Bottom up-Strategien: Gonoshasthaya Kendra
Auch wenn solche Debatten über Gemeingüter gerade erst in Gang kommen, herrschte doch Übereinstimmung, dass emanzipatorische Politik und die menschenwürdige Gestaltung der sozialen Verhältnisse keine ›Staatsaffäre‹ sein kann, sondern eine Frage praktischer Selbstorganisation und sozialer Aneignung. Wie weitreichend solche Aneignungsprozesse im Gesundheitsbereich sein können, zeigt Gonoshasthaya Kendra (GK), eine Organisation aus Bangladesch, die zu den Gründern des PHM gehört. Anfang der 1970er Jahre im Zuge des Unabhängigkeitskrieges von Bangladesch entstanden, macht Gonoshasthaya Kendra – zu Deutsch Volksgesundheitszentrum – seinem Namen alle Ehre.
Gemeinsam mit bald 2 Millionen Menschen realisiert GK heute in Hunderten von Dörfern Gesundheitsprogramme, unterhält Schulen für Basisgesundheitshelfer, betreibt mehrere Hospitäler, eine eigene Universität, Kindergärten und Berufsbildungsprogramme für Frauen. Finanziert werden die Sozialprogramme zu großen Teilen aus den Überschüssen eigener Unternehmen, darunter zwei pharmazeutische Betriebe, die essenzielle Arzneimittel wie Antibiotika für den lokalen Markt produzieren. Zu keiner Zeit haben sich die Leute von GK vom neoliberalen Diktum, der Markt regele alles, irre machen lassen, sondern konsequent daran festgehalten, Gesundheit im Kontext gesellschaftlicher Verantwortung zu begreifen. Die Prinzipien, die dabei zum Tragen kommen, reichen weit über den Gesundheitsbereich hinaus. Sie sind grundlegend für alle sozialen Aneignungsprozesse, in denen Menschen sich zu ihren Rechten verhelfen. Es sind die Prinzipien gegenseitiger Anerkennung und Inklusion, Autonomie und Solidarität.
In der Praxis von GK sind diese Grundsätze keine Worthülse geblieben. Angetrieben von der Überzeugung, dass Gesundheit nur von unten und nicht im Rahmen einer von außen übergestülpten Hilfe entsteht, hat GK auf eine Entmystifizierung von medizinischem Handeln im Alltag gesetzt. Die Entfaltung eigenen Wissens und schließlich der Aufbau eigener solidarischer Ökonomien sind die Grundlage einer Autonomie, die darum weiß, etwas nicht nur selbst tun zu müssen, sondern es auch selbst tun zu können. Dies gilt auch für die solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgungsmodelle, die GK fördert. Beispielsweise im Nordwesten Bangladeschs, wo mit und für ca. 50 Dörfer ein noch rudimentäres Versicherungssystem entstanden ist, in dem diejenigen, die ein wenig mehr haben, auch für die Gesundheitsbedürfnisse der Ärmeren und gänzlich Mittellosen aufkommen. Auch wenn mit solchen Selbsthilfeprojekten, die an die Erfahrungen europäischer Arbeitervereine im 19. Jahrhundert erinnern, nur punktuelle Verbesserungen zu erreichen sind, weisen sie doch in die richtige Richtung. Sie institutionalisieren das Prinzip der Solidarität und sorgen über Umverteilungsprozesse für die Bildung sozialen Eigentums.
Beyond Aid – Paradigmenwechsel in der internationalen Kooperation
Noch braucht GK die Unterstützung aus dem Ausland, beispielsweise von medico international. Doch wird deutlich, dass der Zugang zu Gesundheit weniger eine Frage von Wohltätigkeit ist als von politischen Kämpfen, die Sozialpolitik im Kontext von Rechtsansprüchen und der Schaffung solidarischer Ökonomien begreifen. In der Arbeit des PHM-Netzes zeigt sich exemplarisch die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels für die internationale Zusammenarbeit. Statt über Hilfen den Status quo zu sichern, gilt es die gesellschaftlichen Ursachen der Hilfsbedürftigkeit anzugehen.
Ohne eine starke Öffentlichkeit und ohne soziale Auseinandersetzungen kann dies jedoch nicht gelingen, und angesichts der globalen Verflechtungen sind weltweite Anstrengungen erforderlich. Auch die Erfolge von GK werden sich nur halten lassen, wenn sie ins Globale ausgeweitet werden. Gleiches gilt für die noch existenten Formen einer solidarischen Gesundheitsversorgung im Norden.
Nicht ohne Grund haben Gesundheitsinitiativen begonnen, sich transnational zu vernetzen. Während hierzulande der Widerstand gegen Privatisierungen wächst, drängen AktivistInnen im Süden auf die Schaffung von Gesundheitseinrichtungen, die einen Zugang jenseits von privater Kaufkraft und Eigentumsrechten ermöglichen. So unterschiedlich die Lebensumstände sind, so verfolgen Initiativen wie GK doch die gleichen Ziele wie kritische Ärzteorganisationen, Sozialverbände und Gewerkschaften hierzulande. Weder in Deutschland noch anderswo wird das Recht auf Gesundheit und soziale Sicherung von oben gewährt. Es muss von unten erkämpft und verteidigt werden. Die Welt braucht nicht mehr wohltätige Hilfe, sondern demokratisch verfasste und öffentlich kontrollierte Institutionen, die für Ausgleich und ein solidarisches Miteinander sorgen – über alle Grenzen hinweg.