Präsident Evo Morales (Partei Bewegung zum Sozialismus – MAS) kandidiert erneut, obwohl die Verfassung laut Artikel 168 nur eine einmalige Wiederwahl zulässt. Die Regierung argumentiert, dass  lediglich seine Wiederwahl 2009 anzurechnen sei, da die Verfassung erst 2009 in Kraft getreten ist. Die Gegenseite fordert dagegen auch die Wiederwahl von 2005 mitzuzählen. Es wäre möglich gewesen, eine rasche und klare Lösung herbeizuführen – eine partielle Verfassungsänderung wäre anhand einer Volksinitiative oder einer Zweidrittelmehrheit im Parlament  möglich gewesen. Stattdessen setzte die Regierung auf die Taktik des vorgezogenen Wahlkampfes. Es scheint, als vergebe sich das Land momentan die Gelegenheit, ein paar für seine Zukunft entscheidende Debatten breit zu führen. Dazu gehören etwa die sich intensivierenden Proteste gegen das extraktivistische Entwicklungsmodell und die Ausgestaltung der Demokratie.[2] Soziale und v.a. indigene Organisationen und gesellschaftspolitische Gruppen kritisieren, dass einseitig extraktivistische Aktivitäten intensiviert werden und die lokale Bevölkerung zu wenig Rechte über ihr Territorium hat. Sie fordern das Recht auf Selbstregierung und eine demokratische Staatsveränderung. An diesen Konflikten spalten sich allerdings auch gesellschaftspolitische Akteure und soziale Organisationen.

Weihnachtsgeld für Wirtschaftswachstum

Wie sehr sich die bolivianische Politik auf den Wahlkampf einengt, zeigt sich auch an dem  obersten Dekret 1802 vom 20. November 2013, mit dem der Präsident zwei zusätzliche Weihnachtsgehälter einführt. Im ersten Satz dieses Dekretes wird erläutert, dass es sich auf Artikel 316 (Abschnitt 7) der Verfassung bezieht und in diesem Sinne eine gerechtere Reichtumsverteilung anstrebt. Allerdings betrifft diese Maßnahme ausschließlich den formellen Wirtschaftssektor. Davon ausgenommen aber sind die informell Beschäftigten, die 74 Prozent ausmachen – insgesamt 3,7 Millionen Personen (nach Daten der internationalen Arbeitsorganisation von 2010[3]). Weiter orientiert sich das Dekret am Guten Leben[4], wobei aber auch ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum hergestellt wird: Dieses zusätzliche Weihnachtsgehalt soll in Zukunft nur dann an alle öffentlichen Bediensteten und ArbeiterInnen im öffentlichen sowie privaten Sektor ausgezahlt werden, wenn das jährliche Wachstum des Bruttoinlandsproduktes über 4,5 Prozent beträgt. RentnerInnen sind davon ausgeschlossen, was der bolivianische Wirtschaftsminister Luis Arce damit erklärt, dass es ein Bonus für die Produktivität ist, also nur für all jene, die zum Wirtschaftswachstum beitragen. Die Beiträge von RentnerInnen würden durch andere Programme wie die universelle Altersrente Renta Dignidad gewürdigt.[5] Kritik am Erlass kommt nicht nur von der Opposition, sondern auch aus den Regierungsreihen. Rebeca Delgado etwa, ehemalige Präsidentin der Abgeordnetenkammer des Parlaments und noch Abgeordnete der Regierungspartei MAS[6], argumentiert nicht nur, dass die Regierung dem Parlament ein Gesetz hätte vorlegen sollen, anstatt ein Dekret zu erlassen, sondern auch, dass die Maßnahme dem Kauf von Wählerstimmen diene. Nachdem Morales 2005 54 Prozent und 2009 64 Prozent der Wählerstimmen erhielt, strebt er nach eigenen Aussagen in diesem Jahr 74 Prozent an. Umfragen zufolge sprechen sich jedoch bisher lediglich 31 Prozent  für ihn aus.[7]

Soziale Basis der Regierung verändert sich

Präsident Evo Morales scheint in den letzten Jahren deutlich an Zustimmung verloren zu haben. Und auch die Beziehung zu seiner sozialen Basis hat sich verändert. Unmut wird laut. Die bolivianische ArbeiterInnenzentrale COB rief im Mai 2013 zu Protesten um höhere Löhne sowie Pensionen im Bergbausektor und im öffentlichen Dienst auf. Mit dem Dekret zum doppelten Weihnachtsgeld jedoch setzte ein plötzlicher Sinneswandel ein, die COB gab sich damit zufrieden. Die zwei indigenen Dachorganisationen, Consejo Nacional de Ayllus y Markas del Qullasuyu CONAMAQ und Confederación de Pueblos Indígenas del Oriente Boliviano CIDOB, sind auf nationaler Ebene gespalten, und der Regierung wird vorgeworfen, diese Spaltungen (mit) induziert und logistisch und finanziell unterstützt zu haben. Im Falle der CIDOB stehen sich die dirigentes Melva Hurtado (von der Regierung unterstützt) und Adolfo Chávez gegenüber; in jenem der CONAMAQ Gregorio Choque (gemeinsam mit Hilarión Mamani, beide von der Regierung unterstützt) und Freddy Bernabé, der mit Rafael Quispe zusammenarbeitet.[8] Auch Organisationen wie die für Menschenrechte, Asamblea Permanente de Derechos Humanos de Bolivia (APDHB), sind uneins, und innerhalb der drei bäuerlichen Organisationen Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia (CSUTCB), Confederación de Comunidades Interculturales de Bolivia, und Federación de Mujeres Bartolina Sisa existieren Konfliktlinien. Seit der Jahrtausendwende kam es zu intensiven Protesten. Im Zentrum der Auseinandersetzungen stehen seit geraumer Zeit das ökonomische Entwicklungsmodell und der Umgang mit den natürlichen Ressourcen sowie die Umsetzung des plurinationalen Demokratisierungsprozesses.

Kritische Debatte auch in der Regierung

Heute wird selbst innerhalb der Regierungsreihen eine nur partielle Umsetzung dieser Ziele bemängelt, wie etwa von Rebeca Delgado oder ehemaligen Regierungsfunktionären, die das Positionspapier Por la recuperación del proceso de cambio para el pueblo y con el pueblo (»Für die Rückgewinnung des Prozesses des Wandels für und mit der Bevölkerung«) unterzeichneten.[9] Auch soziale Bewegungen und AkademikerInnen kritisieren zunehmend, dass das derzeit praktizierte extraktivistische Entwicklungsmodell [10], welches auf der Ausbeutung und dem Export von Primärgüterressourcen beruht, am Ziel eines plurinationalen Staates vorbeigehe, wie es in der Verfassung festgeschriebenen ist. Demnach soll der Staat auf einer pluralen Wirtschaft beruhen und die unterschiedliche Wirtschaftsformen –  private, sozial-kooperative und kommunitär-gemeinschaftliche – respektieren und schützen. Die sozial-kooperativen produktiven Aktivitäten sind zu fördern, speziell aber die indigen-kommunitäre Form, welche auf den Prinzipien und Visionen der indigenen originären bäuerlichen Bevölkerungsgruppen gründet. Es kann daher festgehalten werden, dass eine einseitige Förderung des extraktivistischen Sektors und folglich der Primärgüterexporte der bolivianischen Verfassung widerspricht.

Prinizipien eines Plurinationalen Staates

Der plurinationale Staat ist ein Konzept, das von den sozialen und insbesondere indigenen Organisationen[11] in Bolivien ausging und sich zu einem gesamtgesellschaftlichen Vorschlag entwickelte. Nach diesem akzeptiert ein solcher Staat die gesellschaftliche Vielfalt und lässt sich von ihr formen. Leitende Prinzipien sind Gleichheit und Selbstregierung. Dabei sollen die territorialen Einheiten, auf denen diese Organisationsformen angesiedelt sind, gestärkt werden. Verfassungsmäßig wurden diese als Autonomien der Bundesländer, Regionen, Kommunen und indigenen Gemeinschaften  festgeschrieben. Diese Staatsform gründet darauf, dass indigene Völker selbst als Nationen verstanden und anerkannt werden mit Anspruch auf eigene soziale, spirituelle, politische, wirtschaftliche und juristische Formen. Der Begriff der Nation wird somit doppelt besetzt, da auch die bolivianische Nation, welche dem Staatsterritorium entspricht, weiterhin existieren soll. Angestrebt wird eine Demokratisierung und gleichberechtigte Koexistenz der unterschiedlichen de facto vorhandenen Lebens- und Organisationsformen. Dazu bedarf es eines neuen Fiskalpaktes, und damit auch Einflusses der territorialen bzw. ethnischen Autonomiestrukturen auf die staatliche Einnahmen- und Ausgabenpolitik. Grundlegend dafür ist, dass der erste (und bisher umfassendste) Nationale Entwicklungsplan der Regierung Morales von 2007 sich zum Ziel setzt, ein wirtschaftlich diversifiziertes integrales Entwicklungsmodell zu schaffen. Und dies in zwei Stufen: Erstens soll Mehrwert in extraktiven Sektoren geschaffen werden, welche Erdöl, Erdgas, Bergbau, Elektrizität und andere Umweltressourcen wie Biodiversität, Wasser, Wälder etc. umfassen. In einer zweiten Stufe sollen Einkommen und Arbeitsplätze geschaffen und dabei die Wirtschaft diversifiziert werden, und zwar in den Bereichen der Industrie, Manufaktur, des Kunsthandwerks, Tourismus, Landwirtschaft, Viehzucht, Wohnen, Handel, Transport u.a. Dieses Modell orientiert sich am Guten Leben, welches in diesem Plan als Zugang zu materiellen Gütern und die subjektive und spirituelle Verwirklichung des Menschen in Harmonie mit der Natur und der Gemeinschaft beschrieben wird (vgl. Ministerio de Planificación del Desarrollo 2007, 3).

Ökonomische Entwicklung des Plurinationalen Staates

Die materielle Basis dieses sich im Aufbau befindenden plurinationalen Staates liegt in den Staatsfinanzen. Das bolivianische Staatsbudget hat sich von 2001 bis 2011 mehr als vervierfacht von vier Milliarden[12] (2001) auf 16,9 Milliarden US-Dollar (USD) (2011)[13]. Das Verhältnis des Staatsbudgets zum Bruttoinlandsprodukt ist von 48,3 Prozent (2004) auf 81,9 Prozent (2011) deutlich gestiegen, was vor allem durch die Verstaatlichungen im Erdgasbereich[14] unter der Regierung Evo Morales erreicht wurde. In diesem Zusammenhang wurden auch die Exportpreise mit den Regierungen dieser Länder neu verhandelt, von 1,7 USD/MMBTU[15] (1999-2005) auf 5,5 USD (2008) mit Brasilien, und von 2,1 USD auf 7,9 USD nach Argentinien. Ebenso wurde die Produktion gesteigert, nach Angaben des bolivianischen Wirtschaftsministeriums von 8,92 Millionen m3  (2000) auf 37,93 Millionen m3 (2007) und 56 Millionen m3 (2013); für 2025 werden 103 Millionen m3 projiziert.[16] Die steigende Bedeutung des Erdgasssektors spiegelt sich im Staatsbudget klar wider[17]. Während sich das Budget 2005 zu 17,5  Prozent aus den Einnahmen durch die öffentlichen Unternehmen und zu 67,3  Prozent durch das nationale Schatzamt (u.a. Steuern) finanzierte, so beträgt dieses Verhältnis 2011 48,4  Prozent: 43,1  Prozent. Die Mehrwertsteuern, die Steuer auf den Erdöl- und Erdgassektor sowie die Gewinnsteuer machen zusammen über 80 Prozent der Steuereinnahmen aus; letztere beide sind eng mit dem Erdgassektor verbunden. Allerdings gibt es keine direkte Lohn- und Einkommenssteuer, d. h., dass die hohen Einkommen steuerlich nicht (stärker) belastet werden. Außerdem muss die bolivianische Regierung mit starken Einnahmeschwankungen durch schnell wechselnde Preise auf dem internationalen Markt umgehen: Betrug die de facto eingenommene direkte Steuer auf Erdöl und Erdgas 2006 und 2010 ca. 150  Prozent des Voranschlages, und die Lizenzgebühren (Royalties) 2008 155,2  Prozent; waren es 2009 hingegen krisenbedingt lediglich 78,3  Prozent. Ähnliche Tendenzen sind bei der indirekten Steuer auf Erdöl und Erdgas zu beobachten. Die größte Differenz findet sich im Bergbausektor, mit 394,3 Prozent (2006). Auch auf der Ausgabenseite zeigt sich die hohe fiskalische Abhängigkeit vom Extraktivismus: 2011 gingen 35 Prozent des gesamten Staatsbudgets an öffentliche Unternehmen (2001 waren es nur 4 Prozent). Davon 89,9 Prozent an den Erdöl- und Erdgassektor, gefolgt vom Bergbausektor, der 2011 6,2  Prozent ausmachte. Die Ausgaben im Wasser- und Umweltsektor fielen prozentual von 25,8 Prozent im Jahre 2002 auf gerade einmal 1,1 Prozent 2011.[18] Der sogenannte produktive Sektor (vor allem Nahrungs- und Genussmittelerzeugung sowie Verpackungs- und Baustoffproduktion) hingegen erhält gerade einmal 1,2 Prozent der finanziellen Mittel.[19] Die Investitionen[20] zeigen ähnliche Tendenzen: Im Jahr 2011 flossen 42,2 Prozent in die Infrastruktur, und in diesem Rahmen 33,1 Prozent (am gesamten Staatsbudget gemessen) in den Transport[21]. Der Anteil der Investitionen in den produktiven Sektor stieg von 10,5 Prozent (2000) auf 22,8 Prozent (2011) an, wobei im Gegensatz zu den oben erläuterten laufenden Kosten diese hier neben Landwirtschaft und Viehzucht auch extraktivistische Bereiche, wie den Erdöl- und Erdgassektor, umfassen. Von diesen 22,8 Prozent gehen 13 Prozent an den Erdöl- und Erdgassektor und 6,4 Prozent an jenen der Landwirtschaft; ein Verhältnis, das sich seit 2005 umgedreht hat[22]. Die Investitionen in den sozialen Sektor fallen hingegen prozentual von 48,8 auf 30,2 Prozent. Verhältnismäßig bekommt das erdgasreiche Bundesland Tarija am meisten finanzielle Mittel von allen Ländern.  Darüberhinaus lässt sich eine hohe Konzentration der Entscheidungen über die finanziellen Mittel feststellen: Die direkte Steuer auf Erdöl und Erdgas wurde in den letzten Jahren zwar zunehmend dezentralisiert.[23] Zählt man jedoch die zentralen Einkünfte zusammen –direkte und indirekte Steuer auf Erdöl und Erdgas, die Royalties vom Erdöl-, Erdgas-, Bergbau- und Forstsektor, die steuerliche Kopartizipation (tax sharing[24]) und der Kompensationsfonds –, so wurden 2011 mit 56 Prozent mehr als die Hälfte dieser Einnahmen auf nationaler Ebene verwaltet (vgl. Ministerio de Economía y Finanzas Públicas/Viceministerio de Presupuestos y Contabilidad Fiscal 2011).

Weniger Armut, mehr Arbeit

Diese Verteilungspolitik zeigt, dass die staatliche (und mit ihr verbundene private) extraktivistische Ökonomie im Gegensatz zu den anderen Wirtschaftsformen (wie oben erwähnt die indigen-gemeinschaftliche und sozial-kooperative) überproportional gefördert wird. Auch eine rechtliche, sozial- und verteilungspolitische Untersuchung zeigt, dass indigene Rechte seit 2005 zwar verstärkt anerkannt wurden, jedoch dem vorherrschenden Entwicklungsmodell untergeordnet sind. Artikel 367 der Verfassung bekräftigt, dass sich die Erdgasaktivitäten nicht nur explizit den Entwicklungszielen des Landes, sondern auch den konsumorientierten Zielen unterordnen müssen. Und das Konsummuster ist wiederum eng mit dem extraktivistischen Regime verwoben. Einige Einnahmen aus der Erdgaspolitik werden umverteilt, wie Sozialboni an Schulkinder, an Menschen im Pensionsalter und Frauen von der Schwangerschaft bis zum ersten vollendeten Lebensjahr ihres Kindes. Diese drei Maßnahmen umfassten 2010 eine geschätzte Investition von 313 Millionen USD. Zudem gibt es das aus u.a. venezolanischen Zuschüssen finanzierte Programm Evo Cumple mit Investitionen in die Bereiche Sport, Bildung und Kommunenausstattung. Und 2010 wurden Kleinkreditprogramme der Produktiven Entwicklungsbank von 4,2 Millionen USD vergeben. Außerdem wurden Maßnahmen zur Reduzierung der Kosten für Strom, Telekommunikation sowie die Gesundheitskampagne Operación Milagro und  eine (bereits abgeschlossene) Abphabetisierungskampagne durchgeführt. In diesem Zusammenhang konnte die Armut deutlich verringert werden. Nach Daten der Regierungsinstanz Unidad de Análisis de Políticas Sociales y Económicas (UDAPE) konnte die relative Armut im ländlichen Raum von 62,9 Prozent (2005) auf 40,9 Prozent (2012), im städtischen Raum von 24,3 Prozent (2005) auf 12,2 Prozent (2012) und die extreme Armut insgesamt von 38,2 Prozent (2005) auf 21,6 Prozent (2012) verringert werden.[25] Damit ist Bolivien nicht mehr das ärmste Land des Kontinents, sondern steht an zweiter Stelle, nach Paraguay. Nach Daten der Weltbank existiert auch ein direkter Zusammenhang zwischen »indigen sein« und »arm sein«. Zahlen von 2005 zeigen, dass das Arbeitseinkommen von Nicht-Indigenen ca. 2,2-mal höher ist als jenes von Indigenen. Die durchschnittliche Schulbildung liegt mit  5,9 Jahren bei Indigenen deutlich unter dem Schnitt der Nicht-Indigenen (9,6 Jahre).[26]

Ursachen der Ungleichheit bleiben

Die Arbeitslosenrate in den Städten verringerte sich nach Angaben der bolivianischen Medien und des Wirtschaftsministeriums von 8,7 Prozent (2004) auf unter 3,2 Prozent  2013. Der Mindestlohn wurde im Zeitraum von 2005 bis 2013 von 54 USD auf ca. 172 USD angehoben.[27] Diese sozialpolitischen Maßnahmen tasten aber nur begrenzt die Ursachen der Ungleichheit an, denn diese konnte nach Angaben von UNDP in den letzten 40 Jahren (1970-2007) nicht verringert werden.[28] Hingegen verringerte sich seit 2007 der Gini-Koeffizienz, welcher die Einkommensverteilung von 0 (am gleichsten) bis 1 (am ungleichsten) misst; der lateinamerikanische Durchschnitt liegt 2010 bei 0,506, 2012 bei 0,496 und fällt in Bolivien von 0,565 (2007) auf 0,472 (2011).[29] Es zeigt sich also, dass die intensiven sozialen Mobilisierungen seit der Jahrtausendwende zwar teilweise zu Erfolgen geführt haben: Es wurden Verstaatlichungsprozesse v.a. im Erdgassektor initiiert und aus den generierten Einnahmen auch in einzelne sozialpolitische Programme umverteilt. Eine Diversifizierung der Wirtschaft jedoch ist bisher ausgeblieben, und somit konnte einer pluralen Wirtschaft und vor allem der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates, die indigen-gemeinschaftliche Wirtschafts- und damit auch Lebensform zu stärken, nur in geringem Maße nachgekommen werden. Dies fördert zusehends Unmut in der Bevölkerung, wie sich auch in den seit 2009 andauernden Auseinandersetzungen um ein neues Bergbaugesetz zeigt. In Interviews mit indigenen Organisationen, MinenarbeiterInnen und ParlamentarierInnen wird kritisiert, dass indigene Gemeinschaften und ihr kommunitär organisierter Bergbau nicht als produktive Akteure anerkannt werden. Diese umfassen laut des neuen, am 29. Mai angenommenen, Gesetzes[30] nur die staatliche, private und Kooperativenarbeit. Der langwierige und konfliktreiche Weg zum Erlass dieses neuen Bergbaugesetzes, und dass im traditionell zentralen Bergbausektor bis heute keine umfassende Verstaatlichung durchgesetzt wurde,  zeigt die Schwierigkeiten auf, mit diesen strukturellen – und nicht lediglich konjunkturellen und auf Wahlstimmen abzielenden – Themen umzugehen. Insgesamt werden verschiedene politische Projekte auf unterschiedlichen Ebenen deutlich: Das extraktivistische Modell ist in einem globalen Akkumulationsregime verankert und mit speziellen Nord-Süd-Beziehungen und Konsummustern (v.a. auch im Norden bzw. weiter gefasst in zentralen Ländern) verbunden; die Verstaatlichungsforderungen seit der Jahrtausendwende beziehen sich auf die nationale Ebene, und das plurinationale Staatsprojekt fordert eine staatliche Anerkennung und Stärkung der bestehenden territorialen Strukturen entsprechend der existierenden gesellschaftlichen Organisationsformen. Gemessen am Zweistufenmodell im Entwicklungsplan der bolivianischen Regierung ist eine zeitliche Verschiebung festzustellen, da der erste Schritt (die Intensivierung des extraktiven Sektors) bereits klare Konturen angenommen hat, der zweite (die Diversifizierung der Wirtschaft)  jedoch nicht. Kurz gefasst: Die globale Ebene konnte bisher wesentlich mehr Druck ausüben als die innergesellschaftlichen Forderungen nach einer Demokratisierung mithilfe eines plurinationalen Staatsmodells. Es ist an der Zeit, diese zentralen strukturellen Probleme zu thematisieren und zu fragen, wie die gesellschaftlichen – nicht nur staatlichen – Akteure in diesen transformativen Prozess stärker einbezogen werden können.

Literatur

Arze Vargas, Carlos und Javier Gómez, 2013: Bolivia: El »proceso de cambio« nos conduce al Vivir Bien?, in: dies.,  Promesas en su laberinto. Cambios y continuidades en los gobiernos progresistas de América Latina, La Paz

Estado Plurinacional de Bolivia, 2013: Informe de Gestión 2013, www.presidencia.gob.bo/documentos/mensaje_22-01-2014.pdf

Manifiesto 22 de junio, 2012:  Por la recuperación del proceso de cambio para el pueblo y con el pueblo Ministerio de Economía y Finanzas Públicas/Viceministerio de Presupuestos y Contabilidad Fiscal, 2011: Presupuesto General de la Nación 2001-2011. Angefragte Daten, La Paz

Ministerio de Hidrocarburos y Energía, 2008: Estrategia Boliviana de Hidrocarburos. La Paz: ZOON, Estudio de Diseño Gráfico

Ministerio de Planificación del Desarrollo, 2007: Plan Nacional de Desarrollo »Bolivia Digna, Soberana, Productiva y Democrática para Vivir Bien«. Lineamientos Estratégicos 2006-2011, La Paz, www.herramienta.com.ar/herramienta-web-9/bolivia-manifiesto-22-de-junio


[1] Die dänische NGO IBIS wurde am 20.3.2013 aus Bolivien ausgewiesen. Die bolivianische Regierung begründet ihre Entscheidung  mit politischer Einmischung, weil die NGO mit indigenen Organisationen zusammenarbeitete und die der Regierung gegenüber kritisch eingestellten Fraktionen unterstützte. Mehr dazu siehe dazu http://la-razon.com/nacional/Gobierno-Bolivia-ONG-IBIS-injerencia_0_1964803571.html.
[2] Große Wellen schlagen seit 2011 die intensiven Proteste der lokalen Bevölkerung und ihrer Aliierten gegen den geplanten Bau einer Schnellstraße quer durch das indigene Territorium und den Nationalpark Isoboro Sécure (TIPNIS). Zuvor, im von der CIDOB im Juni 2010 initiierten Protestmarsch für die Verteidigung des Territoriums, der Autonomie und für die Rechte der indigenen Völker forderten CIDOB und CONAMAQ die Kontinuität der Agrarreform, das Recht auf Konsultationen, die indigene Autonomie, die indigenen Wahlkreise und die direkte Repräsentation; 2011, 2012 und 2013 folgten weitere Protestmärsche.
[3] Nach Daten der Regierungsinstanz Unidad de Análisis de Políticas Sociales y Económicas (UDAPE) ist der Prozentsatz der formellen Anstellungen von 38,3 Prozent 2005 auf 33,8 Prozent 2010 gefallen und jener der informellen Anstellungen im selben Zeitraum von 57,8 Prozent auf 63,5 Prozent angestiegen (vgl. Vargas/Gómez, 2013, 132).
[4] Bisher hat sich im deutschsprachigen Raum der Begriff »Gutes Leben« durchgesetzt, obwohl die korrekte Übersetzung »gut lebend« wäre. Obgleich dieser Begriff (noch) nicht endgültig definiert und – je nach den unterschiedlichen Lebensformen – Gegenstand von Debatten ist, so gibt es doch einen Konsens darüber, dass er sich auf das gute Zusammenleben in der Gesellschaft mit geringer sozialer Ungleichheit und ein würdevolles Leben aller Menschen, sowie auf eine harmonische Beziehung zwischen Mensch und Umwelt bezieht. In Ecuador wird vom buen vivir gesprochen, während in Bolivien der Begriff vivir bien, bzw. sumak kawsay auf Quechua und suma qamaña auf Aymara verwendet wird.
[6] Rebeca Delgado hat sich bereits von der MAS distanziert und nun ein wahlpolitisches Abkommen unterzeichnet, zwischen ihrer Organisation (Organización Librepensantes para Bolivia) und der Partei MSM (Movimiento Sin Miedo), siehe dazu: http://www.laprensa.com.bo/diario/actualidad/panorama/20140604/rebeca-delgado-y-su-grupo-se-unen-al-msm_57860_95336.html..
[7] Siehe dazu: www.paginasiete.bo/nacional/2013/11/17/sabe-quien-votar-elecciones-2014-6235.html. Zwischen Redaktion und Publikation dieses Beitrages wurden erneut Ergebnisse (diesmal von Ipsos) veröffentlicht, nach denen Morales im Juni 2014 73 Prozent Zustimmung hätte. Siehe dazu: www.pagina12.com.ar/diario/elmundo/4-249661-2014-06-29.html.
[8] Das Büro der CIDOB wurde im Juli 2012 von der regierungsnahen Fraktion eingenommen (siehe dazu: http://eldia.com.bo/index.php?cat=1&pla=3&id_articulo=95943), das Büro der CONAMAQ im Januar 2014 von regierungsnahen Gruppen besetzt (siehe dazu die kritische Stellungnahme: http://www.bolpress.com/art.php?Cod=2014012703).
[9] Dieses 2011 verfasste Positionspapier wurde von zahlreichen ehemaligen Regierungsbeamten formuliert und unterzeichnet, u.a. vom ehemaligen Land- und Umweltminister, Minister für strategische Planung und bolivianischen Botschafter in den USA. Es kritisiert das extraktivistische Wirtschaftsmodell und die Vernachlässigung des politischen Projektes des plurinationalen Staates (vgl.Manifiesto 22 de junio 2012).
[10] Ein extraktivistisches Modell gründet auf einer übermäßigen und expansiven Ausbeutung von immer selteneren und meist nicht erneuerbaren natürlichen Ressourcen. Dabei geht es nicht nur um Bergbau und Erdöl- bzw. Erggasförderung, sondern auch um Bereiche wie den Holzabbau, Agrobusiness und Agrartreibstoffe. Hier wird außerdem die Wasserkraft dazu gezählt, wenn es um eine übermäßige Ausbeutung zum Export von Elektrizität geht. Kritisiert wird neben dem dem Naturverbrauch auch, dass dabei generell ein Gewinntransfer von peripheren in zentrale Länder stattfindet. Das vermutlich prominenteste Werk zum jahrhundertelangen Raubbau in Lateinamerika, der seit der Kolonialzeit andauert, ist »Die offenen Adern Lateinamerikas« von Eduardo Galeano aus den 1970er Jahren. Heute intensivieren sich die Debatten zu diesem Thema erneut im lateinamerikanischen Kontext. Dabei werden sowohl die sozialökologischen Folgen für die lokale Bevölkerung diskutiert – für die indigene Bevölkerung stellt das Territorium meist die Lebensgrundlage dar – als auch politische und wirtschaftliche Folgen, die sich aus der starken Abhängigkeit der Einnahmen aus diesen Sektoren ergeben. Diese können politische Machtbeziehungen wie klientelistische und paternalistische ebenso wie eine wirtschaftliche Fokussierung auf extraktivistische Produktion und Vernachlässigung anderer traditioneller Bereiche betreffen.
[11] Nach Angaben des Nationalen Statistikinstituts Boliviens, die bei einer Volkszählung 2001 erhoben wurden, identifizieren sich 62,2 Prozent mit einer indigenen Kultur. In der 2012 durchgeführten Volkszählung wurde die Frage anders gestellt, nämlich nach der Zugehörigkeit zu einer indigenen Gemeinschaft. Dabei taten 69 Prozent kund, dass sie keiner indigenen Gemeinschaft angehören. Da die kulturelle Identität aber stets hybride und überlagernd ist, wird die Autoidentifikation als passendere Kategorie angesehen als die ethnische Zugehörigkeit.
[12] Der Originalwert war als 27.598 Millionen Bolivianos (BOB) angegeben. Der Wechselkurs des Boliviano (BOB) entspricht laut der bolivianischen Zentralbank 5,65 USD (1998), 6 USD (1999), 6,4 USD (2000), 6,83 USD (2001), 7,5 USD (2002), 7,84 USD (2003), 8,06 USD (2004), 8,08 USD (2005), 8,03 USD (2006), 7,67 USD (2007), 7,07 USD (2008 und 2009), 7,04 USD (2010) und geschätzte 7,07 USD (2011).
[13] Der Originalwert war als 119.471,3 Millionen BOB angegeben.
[14] Im Erdgasbereich fand 2005/2006 eine umfassende Nationalisierung statt, was dahingehend kritisiert wird, dass keine staatliche Kontrolle über alle Bereiche, sondern ›nur‹ eine staatliche Partizipation in der gesamten Produktionskette erlangt wurde.
[15] Million British Thermal Unit – Energieeinheit.

[16]Vgl. Ministerio de Hidrocarburos y Energía (2008) und Estado Plurinacional de Bolivia (2013).

[17] In diesem Abschnitt werden Daten vom bolivianischen Wirtschaftsministerium herangezogen, die für die Analyse eigens erarbeitet und von der Autorin weiterentwickelt wurden.
[18] Obwohl diese Kategorie Wasser- und Umweltunternehmen umfasst, scheinen im untersuchten Zeitraum keine Umwelt-, sondern nur Wasserunternehmen auf, unter denen wiederum große Wasserkraftwerksprojekte.
[19] Der als solcher bezeichnete produktive Sektor umfasst hier die Unternehmen zur Produktion von Zucker, Milch, Nuss, generell Nahrungsmittel, Papier, Karton und Zement.
[20] Das Staatsbudget teilt sich in laufende Kosten und Investitionen, in einem ungefähren Verhältnis von 9:1. Im ersten Teil dieses Absatzes wird auf die laufenden Kosten Bezug genommen.
[21] Der Infrastruktur- und Transportbereich ist eng mit extraktivistischen Projekten verwoben, wie an zahlreichen Projekten der Initiative zur Integration der regionalen Infrastruktur Südamerikas (Iniciativa para la Integración de la Infraestructura Regional Sudamericana I.I.R.S.A) erkennbar ist.
[22] Auch auf der Ebene der Länder und Kommunen wird nur ein geringer Teil der Investitionen von 2005 bis 2008 in den produktiven Bereich investiert, mit 8,25 Prozent (Länder) und 7,8 Prozent (Kommunen). Der Großteil wird nach Guzmán, Crespo, Genuzio und Gadea in die Bereiche der Basisinfrastruktur und in den sozialen Bereich investiert.
[23] Die Kommunen erhielten 2005 12 Prozent und 2011 35 Prozent, während an das nationale Schatzamt 48 Prozent bzw. 19 Prozent und an die Länder 38 Prozent bzw. 10 Prozent gingen.
[24] Dieses Konzept bezieht sich darauf, dass die politische Instanz, welche die Steuern einhebt, die eingenommenen Mittel mit anderen politischen (territorial-geographischen) Ebenen teilt.
[25] Siehe Estado plurinacional de Bolivia (2013).
[26] Allerdings werden auch vermehrt Stimmen laut, die anmerken, dass Armut und Wohlstand nicht allein an Einkommen gemessen werden sollten, sondern auch an der Möglichkeit, die eigenen Lebensformen auszuüben, die eigenen Organisationsformen zu praktizieren und auf den eigenen Territorien zu leben.
[27] Nach Angaben der Regierung kann gar ein Anstieg der Löhne generell, besonders in den Bereichen Bildung und Gesundheit, und der Investitionen in Infrastruktur – beispielsweise in Schulen, Straßenbau und neue Krankenhäuser – sowie eine Steigerung der Sparquote angeführt werden.
[28] Ebenso wie im Jahr 1970 verfügen 2007 die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung über ca. 60 Prozent der Einkommen. Im Human Development Index (1975-2005) steht Bolivien hinter Guatemala, Haiti und Nicaragua und beim Gini-Index gehört es 2007 zu den fünf Ländern mit der größten Ungleichheit Lateinamerikas, gemeinsam mit Brasilien, Guatemala, Kolumbien und Honduras.