Um Punkt 8 Uhr hieß es bei uns in der Schule immer »Mund zu, Ohren gespitzt«. Bei euch beginnt der Tag anders. Manche quatschen, eine Gruppe blättert in einer Zeitschrift, zwei Kinder üben Tanzschritte.
Wir beginnen den Tag mit einer Eingangsphase. Die Kinder kommen alle zur selben Zeit in die Schule, haben aber dann erst mal einen Moment, um im Klassenzimmer anzukommen. Die Schule und auch das Klassenzimmer sind ein sozialer Raum, schließlich spielt sich hier der Großteil ihres Alltags ab. Eine anregende Lernumgebung, in der man als Schüler*in das Zusammenleben selbst gestalten kann und sich wohlfühlt, weckt Freude am Lernen und Ausprobieren. Außerdem hat die Eingangsphase den Vorteil, dass die Kinder dann bei Unterrichtsbeginn wach sind und die dringendsten Infos schon losgeworden sind, sodass sie sich auf den Unterricht konzentrieren können.
Wenn es dann langsam vorne losgeht, haben manche Schüler*innen anscheinend noch andere Dinge zu tun. Auf die fällt dein Blick nicht.
Ja, mit Absicht. Wir nennen das »positive Verstärkung«. Nicht die Kinder, die stören, werden aufgerufen, sondern wir betonen das, was gut läuft. Toll, dass Tom sein Heft schon offen hat. Oder schön, dass Pia schon auf ihrem Platz sitzt.
Kurz nachdem du den Stundenplan vorgestellt hast, sind alle wieder im Klassenzimmer unterwegs.
Wir versuchen in der Max-Brauer-Schule möglichst wenig Frontalunterricht zu machen, den nennen wir übrigens »Kino«. Uns geht es darum, dass die Schüler*innen möglichst selbstständig sind: Sie sollen ihr eigenes Lerntempo finden, selbst aussuchen können, wann sie welches Fach lernen wollen, selbst planen, wie viel sie in einer Woche schaffen und machen können. Dafür haben wir freie Arbeitszeiten, das sogenannte Lernbüro. Hier können die Schüler*innen selbst entscheiden, ob sie lieber an ihren Matheaufgaben sitzen wollen, Englisch lernen oder ihr Deutschziel verfolgen wollen.
Und woher weiß ich, was zu tun ist? Früher habe ich Hausaufgaben bis zur nächsten Stunde bekommen, da war die Sache recht klar.
Hausaufgaben gibt es bei uns nicht. An den meisten Tagen bleiben die Kinder bis 16 Uhr bei uns in der Schule. Wir arbeiten mit Checklisten und sogenannten Kompetenzrastern. Die Checklisten geben bestimmte Aufgaben für die einzelnen Fächer vor. Wann du sie erledigst und wie viel Zeit du dafür brauchst, darüber entscheiden in den meisten Fällen die Schüler*innen selbst. Die Kompetenzraster sind dafür da, gemeinsam mit ihnen und ihren Eltern Ziele für die individuelle Entwicklung festzuhalten. Wir beraten uns also mit den Schüler*innen und ihren Eltern, welche Schritte als nächstes sinnvoll wären, wo es Schwierigkeiten gibt und welche Ziele als nächstes verfolgt werden sollten.
Wie wichtig ist der Kontakt zu den Eltern?
Ich sag es mal so: Wenn Kinder neu zu uns kommen, kenne ich nicht sofort ihre Geschichte, sehe sie dafür aber erst mal als Menschen, die ganz viel mitbringen und die vor allem mutig und neugierig die Welt kennenlernen wollen. Die Welt der Erwachsenen ist dagegen ja häufig sehr ernst und kompliziert. Die individuelle Geschichte und familiäre Situation von den Kindern zu kennen, mit den Eltern im Austausch zu stehen, ist für die individuelle Lernentwicklung der Schüler*innen aber total entscheidend. Nur so verstehe ich, warum ein Kind bei bestimmten Fragen oder Formen des Unterrichts beispielsweise blockiert oder besonders sensibel reagiert. Nur so kann ich auf Besonderheiten Rücksicht nehmen und das Kind so in seiner Persönlichkeitsentwicklung stärken, wie es ihm guttut.
Sicher werden sie dir, der Lehrer*in, nicht alles erzählen wollen.
Ja, meine Rolle ist es auch nicht, alles zu wissen, sondern ein Gefühl für die Umstände zu bekommen. Jede Klasse arbeitet deswegen nicht nur mit zwei Klassenlehrer*innen, sondern auch mit Sozialpädagog*innen zusammen. Die Sozialpädagog*innen und die Kolleg*innen vom Beratungsteam hören zu und die Kinder können sich ihnen anvertrauen, ohne dass sie befürchten müssen, dass sich ihr Kummer oder ihre Sorgen auf ihre schulischen Bewertungen auswirken.
Und das klappt?
Ja. Besonders dann, wenn wir im Team früh merken, dass etwas nicht stimmt. Wenn Kinder plötzlich nicht mehr Teil der Peergroup sein dürfen, die Pause allein verbringen oder wenn Kinder ihre Kapuze nicht absetzen wollen. Das kann alles unbedeutend sein, es können aber auch Zeichen einer Krise sein. Wir überlegen dann im Team, was hilfreich wäre: Ob sich die Sozialpädagogin mit dem Kind verabreden soll, mit ihm spazieren geht oder sich mit ihm zu Tee und Keksen im »Wohnzimmer«, einer Art Schutzraum, trifft. Dieser Support bewirkt manchmal kleine Wunder. Wenn Kinder im pubertären Alter vor unangenehmen Situationen geschützt werden, man ihnen mit minimalem Aufwand Gefühle von Scham oder Enttäuschung ersparen kann, wenn wir ihre Konflikte und Sorgen ernstnehmen und ihnen im Kleinen helfen, dann hat das oft positive Auswirkungen auf ihren ganzen späteren Lebensweg.
An die Max-Brauer-Schule gehen 1 550 Schüler*innen, 64 Schüler*innen haben keinen deutschen Pass. Insgesamt legt ihr Wert auf kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt. Hat dich dein Beruf politisiert?
Auf jeden Fall. Vom Standpunkt der Schule auf die Gesellschaft zu schauen, verrät sehr viel. Du lernst so viele Menschen und Familien kennen, mit ihren jeweiligen Normen und Ansprüchen an das eigene Leben. Du siehst, wie unterschiedlich die Startbedingungen der Kinder sind, wie sie ungerecht bleiben, wenn niemand interveniert. Du merkst, dass schon wenig viel helfen kann, aber du begreifst auch sofort, dass Bildungsgerechtigkeit nur verwirklicht werden kann, wenn sie auch stadt-, sozial- und gesundheitspolitisch vorangetrieben wird.
Wie setzt du euren Leitgedanken »Vielfalt ist Reichtum« konkret um?
Wenn wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der alle mit ihren Unterschiedlichkeiten existieren dürfen, dann ist das ja erst mal ein guter Gedanke. Aber so etwas funktioniert nur, wenn du die Unterschiedlichkeiten auch wirklich kennst, wenn du siehst und spürst, dass es eine Vielfalt gibt. Mir hilft im Unterricht ein pädagogischer Leitgedanke: Immer wenn du mit deiner vertrauten Praxis an Grenzen stößt, wenn du in eine Situation kommst, die nicht deinen gewohnten Vorstellungen entspricht, dann gibt es im Prinzip zwei Wege: Entweder du bist gehemmt und versuchst dich der Situation zu entziehen. Das bedeutet aber im Grunde zu scheitern, weil die Person nun keine Teilhabe mehr an der Handlung hat. Die andere Möglichkeit ist, kreativ mit der situativen Überforderung umzugehen. Dazu musst du Toleranz erlernen, und das geht nur praktisch, in öffentlichen Institutionen, wo der Querschnitt der Gesellschaft abgebildet ist. Die Schulklassen müssen so zusammengesetzt sein, dass sie diese Unterschiedlichkeiten abbilden, möglichst auf allen Ebenen. Wir erziehen nicht zu Toleranz, sondern wir helfen dabei, dass sie sich diese bei unseren Schüler*innen von selbst herausbildet.