Debatten über schulische Bildung drehen sich seit Monaten um fehlende Raumluftfilter, Hygienekonzepte und digitale Endgeräte. In der Pandemie wurden Schüler*innen und Lehrer*innen von den Verantwortlichen weitgehend im Stich gelassen. Wie gut oder schlecht sie durch diese Zeit gekommen sind, unterscheidet sich jedoch erheblich. Während manche Schulen alles daransetzten, den Lehrplan abzuarbeiten und die Durchführung von Prüfungen sicherzustellen, gelang es anderen, die Ausnahmesituation einmal mehr zum Anlass zu nehmen, um Bildung ganz anders zu denken und kooperativ zu gestalten. Die Green Gesamtschule – ehemals Gesamtschule Körnerplatz – ist ein solcher Fall.

Seit der Gründung im Schuljahr 2015/16 arbeiten wir mit lokalen Akteur*innen zusammen, um Lernangebote zu erweitern und die starre Anordnung schulischen Lernens aufzubrechen. Die Schule beheimatet zurzeit 1 080 Schüler*innen in elf Klassenstufen, darunter viele Kinder und Jugendliche mit Migrations-und Fluchterfahrung, manche gehören der Volksgruppe der Sinti oder Roma an. Viele Familien leiden unter schlechten und engen Wohnverhältnissen, Armut und Rassismus.

Die Lage der Schule und die Zusammensetzung der Schüler*innenschaft bilden den Hintergrund für den transformativen Anspruch der Schule, der herkömmliche Lernkonzepte sprengt – und sprengen muss. Hier werden Kooperation und ganzheitliches Lernen im sozialen Raum der Schule zusammengedacht, um die Selektionsmechanismen von Bildung und Schule zumindest teilweise zu durchbrechen.

Auch in der Pandemie haben wir versucht, diesem Anspruch gerecht zu werden und unsere Schüler*innen bestmöglich zu unterstützen. Direkt nach dem ersten Lockdown haben alle Lehrer*innen mehrmals mit den Kindern telefoniert – zunächst um einen Eindruck der technischen Voraussetzungen in den Familien zu gewinnen und gegebenenfalls Unterstützung zu organisieren. Im Fokus dieser ersten Kontaktaufnahme stand aber vor allem die Frage, wie es den Schüler*innen ergeht, wie sie klarkommen, ob sie die Möglichkeit haben, zu Hause zu arbeiten, und was dafür zu tun wäre. Bis Ende März ist es uns gelungen, alle Schüler*innen, bis auf wenige Ausnahmen, auf eine virtuelle Lernplattform zu führen. Teilweise gab es dazu auch Telefonkonferenzen, bei denen wir Schüler*innen, die beispielsweise Deutsch und Rumänisch sprechen, mit Schüler*innen zusammenbrachten, die noch nicht Deutsch sprechen konnten. Vor dem Lockdown waren Fragen der Digitalisierung kein Thema bei uns, da in der Schule keinerlei Ausstattung vorhanden war.

Lernen in Kooperation

Als Menschen konnten wir nur überleben, weil wir gelernt haben, zu kooperieren. Doch in der Schule, in dem Raum, der nicht zuletzt Fähigkeiten vermitteln soll, die unser Gemeinwesen weiter sichern sollen, existieren kaum kooperative Strukturen. Der Frontalunterricht mit einer allwissend sprechenden Lehrkraft ist das vorherrschende Unterrichtssetting. Wenn ich andere Schulen besuche, sind die Tische noch immer überwiegend in »Busreihen« angeordnet. Und selbst wenn es Tischgruppen gibt, wird deutlich, dass der Unterricht wenig Platz lässt für die eigenständige Beteiligung der Schüler*innen. Am Lernmodell der 1950er Jahre hat sich erschreckend wenig verändert.

Vor diesem Hintergrund sind für die Green Gesamtschule kooperatives Lernen und die Zusammenarbeit mit anderen auf allen Ebenen zentral: im Unterricht, aufseiten der Lehrer*innen, mit der Zivilgesellschaft im Stadtteil und mit den Eltern und Erziehungsberechtigten unserer Schüler*innen.

Im Unterricht sieht das konkret so aus: In allen Klassen finden sich Tischgruppen mit jeweils vier Schüler*innen. Alle Mitglieder dieser Gruppe stehen in einem engen Austausch, bei der Bearbeitung von Aufgaben haben sie festgelegte Rollen und erfahren so, dass sie nur gemeinsam ihr Ziel – ein Problem zu lösen – erreichen können. Hier wird das Konzept der »positiven Abhängigkeit« von Norm und Kathy Green in der Praxis erprobt. Den Schüler*innen kann auf diese Weise klarwerden, dass die Anstrengungen jedes und jeder Einzelnen unabdingbar sind für den Gruppenerfolg und dass jedes Mitglied einen einzigartigen Beitrag zum gemeinsamen Erfolg leisten kann.

Die Kinder lesen in der Körnerschule beispielsweise grundsätzlich mithilfe der Methode des »reziproken Lesens«.1 Dabei wird der zu lesende Text von der Lehrkraft in gleichgroße Abschnitte eingeteilt und über einen Aufgabenkreis jedem Kind eine konkrete Aufgabe zugeteilt, die es beim Lesen erledigen muss. Wenn Kinder im 5. Schuljahr ein Märchen lesen, sieht das beispielsweise so aus: Nr. 1 am Tisch liest den ersten Abschnitt, Nr. 2 fragt nach schwierigen Worten im Abschnitt, Nr. 3 nennt die im Abschnitt vorhandenen Märchenmerkmale und Nr. 4 stellt Vermutungen an, wie das Märchen weitergehen könnte. Beim Wechsel zum nächsten Abschnitt dreht sich der Aufgabenkreis und aus der alten 
Nr. 2 wird die neue Nr. 1. So kann sichergestellt werden, dass alle Schüler*innen aktiv an der Erschließung eines Textes beteiligt sind und dass sie eine aktive Vorstellung von dem zu lesenden Text entwickeln.

Ein weiterer zentraler Baustein des kooperativen Lernens ist die »akademische Kontroverse«. Hier erhalten Schüler*innen die Aufgabe, über bestimmte Themen nachzudenken, Argumente zu entwickeln, diese miteinander abzugleichen und untereinander auszutauschen. Zentral ist dabei, dass den Schüler*innen Positionen zugewiesen werden, aus denen heraus sie argumentieren müssen. Im Laufe der Kontroverse wechseln auch hier die Rollen, sodass sie im zweiten Schritt die Gegenposition einnehmen und nun aus dieser heraus argumentieren lernen. Erst am Ende werden sie aufgefordert, ihre eigene Meinung begründet zu äußern. Diese Debatten hat Norm Green einmal als das Herzstück des kooperativen Lernens bezeichnet – sie fördern das Denken, die Ambiguitätstoleranz, die Kooperation und sie holen die Schüler*innen aus demokratiefeindlichen »Blasen« heraus. Sie sind also ein Gegenentwurf zu herrschenden gesellschaftlichen Entwicklungen und zeigen Schüler*innen, wie es sich anfühlt, wenn sich der Erkenntnisraum weitet. Hier erfahren sie auch, dass sie die anderen brauchen, um Erkenntnisse zu gewinnen, die im besten Fall den Boden bereiten, auf dem auch die Aktion, dass gesellschaftliche Eingreifen, stattfinden kann.

Auch Lehrer*innen müssen 
Kooperation lernen

Um Schüler*innen ein Lernen in Kooperation zu ermöglichen, braucht es Kenntnisse und Strukturen auch aufseiten der Lehrer*innen. Schule zu verändern, Bausteine des kooperativen Lernens auszuprobieren, für sich zu bewerten und gemeinsam Überlegungen anzustrengen, wie diese in den Unterricht einzuplanen sind, braucht Zeit. Doch all das ist im schulischen Alltag nicht verankert und findet folglich nicht statt. Kooperatives Lernen ist also auf Teamstrukturen der Lehrenden angewiesen. Diese Strukturen existieren in der Regel nicht. In der Green Gesamtschule sind jedoch genau diese kooperativen Strukturen zentral und speisen sich aus zahlreichen Erfahrungen der Akteur*innen in der Schule, die sie im Laufe ihres Lebens, in Gewerkschaften, Verbänden, Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft machen konnten. In diesem Sinn bilden wir unsere Lehrer*innen fortwährend weiter. Wir haben elf Moderator*innen für kooperatives Lernen an der Schule, die die Teams in wöchentlichen Sitzungen fortbilden. So erreichen wir, dass das kooperative Lernen in allen Klassenstufen verankert ist. Für dieses Modell haben wir 2021 auch den Deutschen Schulpreis bekommen.

Dieses Beispiel zeigt auch, dass die Arbeitszeit von Lehrer*innen dringend anders bemessen werden muss. Andere Länder haben längst realisiert, dass der Unterricht nur ein Teilbereich ist, der das Lehrerberufsbild ausmacht. Teamzeiten, Beratungs- und Fortbildungszeiten müssen dringend in die Arbeitszeit der Lehrer*innen aufgenommen werden, damit schulische Veränderungen nicht ins ehrenamtliche Engagement oder in Bereiche der Selbsthilfe ausgelagert werden (vgl. Dehne in diesem Heft). Lehrer*innen dürfen keine Einzelkämpfer*innen sein, sondern müssen in ihren Schulen unterstützt und aufgefangen werden.

Gegen das Curriculum! 
Fächerübergreifend lernen

Wir wollen nicht nur verändern, wie, sondern auch, was Kindern und Jugendlichen vermittelt wird. Für gewöhnlich wird im deutschen Schulsystem noch immer in Fächern gelernt, deren Inhalte unverbunden nebeneinander existieren. Kernlehrpläne suggerieren bis heute einen vermeintlich definierbaren Wissenskanon, dessen zentrale Funktion darin besteht, Lehrenden eine vermeintliche Sicherheit zu vermitteln, indem sie vorgaukeln, Schüler*innen auf der Grundlage abprüfbaren Wissens als Ergebnis von Unterricht »gerecht« beurteilen zu können. Die Kompetenzorientierung der Lehrpläne ermöglicht es beispielsweise, zu überprüfen, ob Schüler*innen die Kompetenz erworben haben, einen Bericht zu schreiben. Welchen Inhalt dieser Bericht hat, ist dabei irrelevant. Sie werden dahingehend trainiert, bestimmte Operatoren zu erkennen und Ergebnisse abzuliefern, die nur wenig mit Denkleistungen oder Werturteilen zu tun haben. Eine Lehrerin formulierte in diesem Zusammenhang einmal, das Unterrichten sei mit der Kompetenzorientierung wirklich leicht, denn man müsse den Schüler*innen nur die entsprechenden Operatoren eintrichtern, dann liefe der Abituraufsatz wie ein Backrezept. Die Kolleg*innen hätten außerdem ein gutes Gefühl, da sie hinter jedem umgesetzten Operator ein »gerechtes« Häkchen machen können. Auch in der diesjährigen zentralen Abschlussprüfung machten Lehrer*innen die Erfahrungen, dass Schüler*innen wunderbare Aufsätze schrieben, aber die entscheidenden Operatoren nicht kannten. Ergebnis: 
0 Punkte – Thema verfehlt. Die besten Aufsätze, die wir gelesen haben, erreichten uns in der Pandemie – teilweise wurden sie spät abends oder in der Früh hochgeladen.

Wird Schule nicht genutzt, um das Denken in seiner ganzen Breite zu trainieren und die Horizonte zu weiten, werden Schüler*innen auch nicht mit den wesentlichen Fragen unserer Zeit konfrontiert. Gesellschaftlich zentrale Themen wie Armut, Ökologie, Geschlechterdiversität oder Krieg werden gar nicht oder selten ganzheitlich behandelt. So fällt es schwer, neue Perspektiven zu entwickeln, die doch so zentral wären angesichts der existenzbedrohenden Herausforderungen, denen die Menschheit aktuell gegenübersteht.

Wir versuchen Schüler*innen für wesentliche Fragestellungen zu gewinnen. Im bestehenden Schulalltag, der von Noten und Fächern gekennzeichnet ist, ist das nicht leicht, und so behandeln wir, wo immer es möglich ist, die herkömmlichen Fächer nicht einzeln, sondern arbeiten in fächerübergreifenden Projekten. Diese finden oft außerhalb des Schulgebäudes statt wie etwa das »Stolperstein-Projekt« oder die »Tour de Ruhr« zur Erforschung des Strukturwandels im Ruhrgebiet. So kann fach- und raumübergreifend gelernt werden.3

Schule als Lebens- und Lernraum

Um unsere Lernziele zu erreichen, um kooperatives Lernen zu ermöglichen, müssen wir den Ort Schule an und für sich neu denken. Schule muss als sozialer Raum funktionieren. Entgegen dem propagierten meritokratischen Ideal, nach dem jede und jeder es im Bildungssystem schaffen kann, sofern er oder sie sich genug anstrengt, ist die Schule aktuell ein Ort der Reproduktion gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Kinder mit akademischem Hintergrund sind meist erfolgreich, Kinder, die zu Hause keine Unterstützung erfahren, können schwer mithalten, denn Denkleistungen und Werturteile, also Fähigkeiten, bei denen es nicht nur darum geht, Operatoren anzuwenden, werden in der Schule nicht vermittelt. Den Kindern, die aus begüterten Elternhäusern kommen, macht das wenig. Sie lernen trotz Schule. Eine anregungsreiche Umgebung kompensiert die Versäumnisse des Bildungssystems und sichert herrschende Werthaltungen auch ohne Schule.

Im Alltag wird Kindern generell kaum vermittelt, wie kooperatives Handeln aussehen kann und wozu es gut ist. Viele Schüler*innen an der Green Gesamtschule haben außerdem Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen gemacht, die das Vertrauen in andere, besonders in staatliche Institutionen erschüttern. Trotz widriger Ausgangsbedingungen versuchen wir aber, die Kinder zu kooperativem Lernen und Verhalten anzuregen und ihnen die nötigen Fertigkeiten an die Hand zu geben. Wenn dies gelingt, ist die Freude der Lehrer*innen riesengroß. Auf den Gruppentischen stehen die sogenannten Schatzkästchen. Darin befinden sich Zettel mit Sätzen wie: »Kannst du mir bitte Unterstützung geben?«, »Ich freue mich, dass du mir hier geholfen hast«, »Ich bin da anderer Meinung als du« oder »Kannst du mir das bitte genauer erklären?«. Die Kinder nutzen sie in dieser Lernphase als Kommunikationshilfe.

Ein weiteres Element, um die zergliederte Lehrplankultur der Schule zu überwinden, ist unsere internationale Kinder- und Jugendbühne Bahtalo. Sie bildet ein Herzstück der Schule. Hier stehen die Kinder im wahrsten Sinne des Wortes auf der Bühne, damit sie nicht mehr zu übersehen sind. Wir folgen in der Theaterarbeit der Erkenntnis, dass wir vorrangig über Emotionen lernen und im besten Fall über positive Erfahrungen.

Mit all dem schafft unsere Schule einen Freiraum im bestehenden System. Doch unsere Vision ist größer. Gemeinsam mit den Berliner Baupiloten (vgl. »Raum schaffen« in diesem Heft) haben wir in zahlreichen Workshops eine Schule der Zukunft geplant, ein Konzept zum Umbau von Schule, das wahrscheinlich nie umgesetzt werden wird, weil Duisburg eine bettelarme Kommune ist. In dieser Schule gibt es Gärten, eine große Mensa, Ruheräume, Räume für mehr Kooperation, eine Theaterbühne, Instruktionsräume, Werkstätten, Küchen, einen Parlamentsraum. Es finden sich dort keine Klassenräume mehr, denn das Lernen wird an unserer Schule in Zukunft jahrgangs- und fachübergreifend und ganzheitlich gedacht.

Die diesjährige Biennale nimmt das Wohnen in der Stadt der Zukunft in den Blick. Städte werden dort unter anderem als Orte gezeigt, in denen substanziell neu über das Leben in der Natur, die Nahrungsgewinnung sowie das kulturelle und soziale Miteinander nachgedacht werden muss. Warum sollen Schulen nicht zu Zentren einer neuen städtebaulichen Konzeption werden? Schulen als Quartiersschulen, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang geöffnet sind, in denen Naturerlebnisse und Begegnungen (in Gärten, mit Tieren etc.) möglich sind, in denen Theater gespielt, Dinge repariert werden, in denen an Projekten gearbeitet wird, in denen sich Werkzeuge und Unterrichtsgegenstände in Beziehung setzen lassen zu den Aufgaben, zu deren Bewältigung und Lösung sie beitragen sollen. Warum nicht Schulen zu Orten machen, die sowohl Arztpraxen als Cafés oder Beratungsstellen beherbergen? Wir brauchen Schulen, in denen der Genuss, den ein selbst zubereitetes Essen bereiten kann, genauso wichtig ist wie der, den die Schönheit der Mathematik bietet. Der in der schuleigenen Imkerei hergestellte Honig würde an eine Partnerschule im Ausland verschickt, mit der dann in der Landessprache kommuniziert werden kann. Solche Konzepte wären zukunftsweisend und es gibt viel mehr Schulen, als man denkt, die das eine oder andere Element dieser Vision bereits umsetzen (vgl. Lulu in diesem Heft).

Green Gesamtschule everywhere?

Die Green Gesamtschule ist eine davon. Sie ist kooperativ, versucht fächerübergreifend zu lehren und die Schule als Ort selbst neu zu strukturieren. Es geht hierbei jedoch nicht um die bessere Verwaltung des Elends. Es geht nicht darum, eine bespuckte Suppe ein bisschen verträglicher zu machen und freundlich auszulöffeln. Es geht auch darum, zu erkennen, wer für die bestehenden Probleme verantwortlich ist, was die Ursache ist, wer als Bündnispartner*in zu gewinnen ist und welche Forderungen aufzustellen wären, um Zwischenziele zu erreichen.

Wir versuchen uns an praktischer Politik im Konkreten, die Spielräume ausweitet und das transformatorische Ziel im Blick behält. Wir geben Schüler*innen Handlungsspielräume und Fähigkeiten, um die großen Fragen gemeinsam zu bearbeiten. Doch mehr Kinder müssen die Möglichkeit bekommen, über den Tellerrand hinauszuschauen: Die Schule muss raus aus ihrem engen Korsett. In der Bundesrepublik gibt es da noch eine Menge zu tun: Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!