Du hast die Berliner Kampagne „Schule muss anders“ mitgegründet. Wie bist du dazu gekommen?
Ich habe mehrere Jahre sehr gerne als Lehrer gearbeitet. Aber immer häufiger habe ich mich gefragt, was ich hier eigentlich mache: Gute Bildungs- und Beziehungsarbeit oder strukturellen Missstand verwalten? Mir ist klar geworden, dass sich die grundlegenden Probleme des Bildungssystems nicht individualisiert im Klassenraum lösen lassen. Das war der Grund, zu kündigen und zu überlegen, wie wir uns schulübergreifend organisieren können.
Wer genau ist Teil der Kampagne?
Wir bringen Eltern, Beschäftigte und Schüler*innen zusammen. Das ist eine einfache, aber schlagkräftige Idee, die in den letzten Jahrzehnten in Berlin jedoch bislang noch niemand wirksam verfolgt hat. Gestartet wurde die Kampagne von der Initiative „Schule in Not“, in der ich aktiv bin, dem „Berliner Bündnis für schulische Inklusion“ und den „Berliner Bürgerplattformen“. Dann haben sich weitere Akteure wie die GEW Berlin oder die studentische Lehramtsinitiative „Kreidestaub“ angeschlossen (vgl. Sagasser/Zielke in diesem Heft) und seit Kurzem auch der Landesverband der Kita- und Schulfördervereine Berlin-Brandenburg und der Landesschüler*innenausschuss Berlin. Aber die Mehrheit der Aktiven sind Einzelpersonen, die auf die eine oder andere Art mit Schule zu tun haben, bisher nicht organisiert waren und etwas verändern wollen.
Was sind eure Anliegen?
Uns geht es um gute Lern- und Arbeitsbedingungen. Wir kämpfen für eine gerechte und inklusive Schule für alle. Das deutsche Schulsystem ist von starker Segregation, einem eklatanten Personal- und Ausstattungsmangel und einem oft altbackenen, defizitorientierten Blick auf die Schüler*innen geprägt. Jugendliche berichten uns von großem Leistungsdruck und „Bulimielernen“. Unter dem Personalmangel leiden vor allem diejenigen, die bereits benachteiligt sind, was die Bildungsungleichheit weiter verschärft. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass im Alltag zu oft keine Zeit ist, auf jedes Kind nach seinen Bedürfnissen einzugehen. Auch Themen wie Inklusion, Antidiskriminierung und der Aufbau einer demokratischen Schulkultur fallen meist hinten runter. Dabei sind das keine Sahnehäubchen, sondern Grundpfeiler einer Bildung, wie unsere Gesellschaft sie braucht (vgl. Seifert in diesem Heft).
Welche genauen Forderungen habt ihr?
Wir haben uns auf vier Punkte verständigt: Erstens brauchen wir mehr Zeit für Beziehungsarbeit mit Schüler*innen und Eltern und für Teamarbeit untereinander. Das ist bisher im Stundenkontingent von Lehrer*innen zu wenig vorgesehen. Es geht also um Entlastung und darum, Druck rauszunehmen. Zweitens: Schulen brauchen neben einem besseren Personalschlüssel bei den Lehrkräften mehr Erzieher*innen, Ergotherapeut*innen, Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Gesundheitsfachkräfte etc. – je nach Bedarf der Schule. Viele Probleme, mit denen die Kids in die Schule kommen und die durch die Institution verstärkt werden, lassen sich im Unterricht allein nicht bearbeiten. Das ist aber eine Voraussetzung, damit sie überhaupt lernen können.Drittens: Wir müssen unbedingt mehr Lehrer*innen ausbilden. Es gibt schon jetzt einen eklatanten Personalmangel. Zudem werden in Berlin in den nächsten acht Jahren etwa 40 Prozent der Lehrkräfte in Rente gehen. Um das auszugleichen, müssten wir jährlich mindestens 3 000 Lehrkräfte einstellen. Berlin bildet aber nur 900 Lehrkräfte im Jahr aus, obwohl das Interesse an Lehramtsstudiengängen groß ist. Für Erzieher*innen und Sozialarbeiter*innen ist die Situation ähnlich. Und viertens brauchen wir außerdem qualitative Veränderungen. Wir müssen uns viel mehr mit Antidiskriminierung und Teilhabe beschäftigen. Dafür sind beispielsweise Beratungs- und Beschwerdestellen nötig, die personell gut ausgestattet sind und auch Durchsetzungsbefugnisse haben.
Was treibt dich persönlich an?
Ich finde es absurd, was wir Kindern und Jugendlichen, aber auch unserer Gesellschaft mit diesem Schulsystem antun. Es folgt einer Fließbandlogik: Wir ballern Schüler*innen mit 45-Minuten-Bausteinen zu und je mehr sie davon kriegen, desto „besser“ kommen sie hinten raus. Viele Kolleg*innen gestalten ihren Unterricht längst anders, aber in dem Korsett aus überfrachteten Lehrplänen, Ressourcenmangel und einer Angst vor Sanktionen ist das nicht so leicht. Am schlimmsten finde ich, dass das Schulsystem so vielen Kindern und Jugendlichen einfach nichts anzubieten hat. Sie fallen durch die Maschen, niemand hat die Kapazitäten, sie aufzufangen, und das nimmt ihnen Chancen für das weitere Leben. All das trifft vor allem Kinder aus ärmeren Familien.
Angefangen habt ihr mit der Initiative „Schule in Not“. Da ging es um die Rekommunalisierung der Schulreinigung. Wieso habt ihr da angesetzt?
Es ging uns auch da schon um bessere Lern- und Arbeitsbedingungen. Nur waren wir anfangs eine kleine Runde und mussten ein Thema wählen, das wir auch bearbeiten konnten. Ziel war aber immer, eine größere Kampagne nachzuschieben. Außerdem sind die verdreckten Schulen ein Symbol: In einem der reichsten Länder der Welt lassen wir die Kommunen so verarmen, dass sie noch nicht mal halbwegs saubere Schulen garantieren können. Allein das ist doch ein Sinnbild dafür, wie wenig Schule den politisch Verantwortlichen wert ist. Uns geht es aber auch um die Daseinsvorsorge allgemein. Durch die Privatisierungen sind Tausende prekäre Arbeitsplätze entstanden. Durch das Outsourcing von öffentlichen Aufgaben werden Steuergelder an Firmen durchgereicht, die sich ihre Taschen dadurch füllen, dass sie ihre Mitarbeiter*innen unbezahlte Überstunden machen lassen. Im öffentlichen Auftrag. Und keiner kontrolliert’s.
Wie weit seid ihr damit gekommen?
Wir haben durchgesetzt, dass acht von zwölf Berliner Bezirken beschlossen haben, die Schulreinigung in die öffentliche Verantwortung zurückzuholen. Die Umsetzung zieht sich nun, aber es ist ein großer Erfolg, das Thema so gesetzt zu haben.
Ökonomisierung betrifft ja nicht nur die Reinigung. Schulen sind insgesamt gehalten, sich in einem Wettbewerb zu profilieren und in Schulrankings durch gute „Kennzahlen“, beispielsweise Abiturschnitte, zu punkten.
Ja, das ist ein krasser Stress für alle. Bildung soll eigentlich Teilhabe an Gesellschaft ermöglichen. Stattdessen herrscht Konkurrenz auf allen Ebenen: Zwischen den Schulen, um gute oder schlechte Lehrer*innen und um Schüler*innen, die gute Durchschnitte liefern; aber auch unter den Eltern um die vermeintlich „guten“ Schulplätze, für die sich viele sogar ummelden, umziehen oder klagen – und dann natürlich unter den Kindern um gute Noten und Zukunftschancen. Dieser Konkurrenzkampf individualisiert alle Beteiligten und führt zu einer Entsolidarisierung in der Schule und in der Gesellschaft.
Dieses Regime trifft alle, ist aber natürlich von Klassenverhältnissen durchzogen.
Ja, es sind meist bildungsbürgerliche Eltern, die sich gezielt informieren, welche Schulen welchen Ruf haben. Ein Drittel der Berliner Eltern versucht, ihr Kind nicht an der Schule in ihrem Einzugsgebiet anzumelden. Nicht alle schaffen es, aber das verschärft die Segregation. Natürlich leiden Eltern darunter, dass sie immer stärker für den „Schulerfolg“ ihrer Kinder in die Verantwortung genommen werden. Aber diese Strategien führen letztlich dazu, dass der Druck nach unten durchgereicht wird (vgl. Kollender in diesem Heft). Deshalb brauchen wir eine ernsthafte Diskussion, die sich mit Strukturen statt mit Fragen „persönlicher Schuld“ beschäftigt.
Wie ist es für Lehrer*innen?
Auch sie stehen unter enormem Druck und stecken in dem Dilemma, sich über die Notengebung an diesem Irrsinn beteiligen zu müssen. Junge Menschen werden in ein Regime gezwungen, das sie nach vermeintlich angeborenen Fähigkeiten sortiert, ihnen einen späteren Platz in der Gesellschaft zuweist und dann auch noch behauptet, es hätte auch anders kommen können, wenn sie sich mehr angestrengt hätten. Lehrer*innen wissen, dass sie Kinder mit ungleichen Voraussetzungen mit demselben Maßstab messen und dass das unlauter ist. Aber das Schulsystem nötigt sie, es so zu machen.
Viele legen ihre Hoffnung in Reformschulen mit engagiertem Kollegium.
Kleine Veränderungen reichen leider nicht – erst recht nicht, wenn sie immer nur eine Schule betreffen. Das ist ja genau der Unsinn, der in Berlin von den Schulen verlangt wird: „Schreibt noch dieses Konzept, macht bessere Werbung, damit sich mehr Schüler*innen bei euch bewerben usw.“ Ich bin für schulische Autonomie, aber wenn sie benutzt wird, um Schulen zu Komplizen bei der Mängelverwaltung zu machen, ist das verantwortungslos.
Natürlich gibt es tolle Ansätze, die vielerorts ausprobiert werden, und das sind auch wichtige Impulse für ein anderes Schulsystem. Aber wer glaubt, dass wir dadurch mehr Chancengleichheit erreichen, hat meiner Meinung nach eine falsche Machtanalyse. Wir müssen Schule grundlegend umgestalten, und zwar gemeinsam und schulübergreifend, solidarisch mit Eltern, Schüler*innen, Lehrkräften, Erzieher*innen und Sozialarbeiter*innen.
Beschränkt das von dir beschriebene Konkurrenzregime diese Möglichkeiten, gemeinsam etwas zu ändern?
Einerseits ja, aber immer mehr Leute kriegen mit, dass das System schlicht dysfunktional ist und es so nicht mehr weitergehen kann. Inzwischen gibt es auch an „guten Schulen“ so viele Defizite, dass sich dort Unmut regt. Vielen reicht es nicht mehr, nur für sich und ihre Kinder zu kämpfen, sie wollen grundsätzlicher etwas verändern. Das merken wir in der Kampagne. Wir müssen jetzt umsteuern.
Wie macht ihr das?
In Berlin wird ja am 26. September das Abgeordnetenhaus neu gewählt. Unser konkretes Ziel ist es, mit den vier Kampagnenforderungen in den Koalitionsvertrag reinzukommen. Dazu müssen wir möglichst viel Druck aufbauen. Ein Element ist eine sogenannte Mehrheitspetition, über die sich die Kolleg*innen mit einer Unterschrift hinter unsere Forderungen stellen können. Am Ende geht es darum, an möglichst vielen Schulen die Mehrheit der Beschäftigten zu gewinnen. Es ist also auch ein Organisierungs-Tool. Die Petition soll am 6. November auf unserer nächsten Demo übergeben werden. Ähnliche Beteiligungsmöglichkeiten gibt es für Eltern und Schüler*innen – offene Briefe und Videoformate. Außerdem bauen wir eine dezentrale Struktur mit lokalen Gruppen in den Bezirken auf. Das läuft in manchen Bezirken bereits ganz gut, in anderen läuft es gerade erst an.
Wie gut läuft die Zusammenarbeit mit Eltern und Schüler*innen?
Ich habe mal gehört, Eltern seien die am schwierigsten zu organisierende Gruppe. Da machen wir aber eine ganz andere Erfahrung. Ich bin beeindruckt, wie viele Eltern neben ihrer Lohnarbeit und der Care-Arbeit in der Familie noch Zeit in die Kampagne stecken. Und auch, wie viele Eltern neben dem Wunsch nach einer besseren Bildung für das eigene Kind ganz klar solidarisch sind und sagen: Jedes Kind hat das Recht auf gute Bildung. Das ist für mich eine sehr ermutigende Erfahrung. Schwierig ist es, Termine zu finden, die zu den unterschiedlichen Familienzeiten passen.
Bei den Schüler*innen ist logischerweise die Fluktuation hoch. Die, die letztes Jahr sehr aktiv waren, machen jetzt zum Teil Abi und stecken im Lernstress. Andere finden die Kampagne cool, machen dann aber doch nicht aktiv mit. Da müssen wir noch weitere Formate entwickeln, um Schüler*innen insgesamt besser einzubinden und ihnen mehr Raum zu geben.
Von außen macht es den Anschein, dass die GEW eher zögerlich agiert. Ist das richtig?
Die Gewerkschaften sind absolut zentral, sie sind diejenigen, die das Streikrecht haben und darüber Macht aufbauen können. Und die GEW Berlin hat sich direkt zum Start der Kampagne angeschlossen, die Kooperation läuft meistens gut. Was wir allerdings merken, ist, dass der organisierende und beteiligungsorientierte Ansatz, den wir als Kampagne verfolgen, innerhalb der Gewerkschaft nicht so stark ausgeprägt ist. Lange gab es die Denke, Tarifkampf sei nur Lohnkampf. Das ist aber nicht mehr aktuell, wie man auch in der Pflege sieht. Lohnforderungen sind für Erzieher*innen wichtig, für Lehrkräfte weniger. Kolleg*innen sagen mir, bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal seien ihnen momentan wichtiger als zwei Prozent mehr Lohn.
Hat es auch etwas damit zu tun, dass Lehrer*innen lange Beamte waren und in anderen Bundesländern mehrheitlich noch sind?
Sicherlich. In anderen Ländern gibt es andere Traditionen von konflikt- und beteiligungsorientierter Gewerkschaftsarbeit. Andererseits hat es auch hier schon Beamtenstreiks gegeben. Die Kernfrage ist, wie gut und stark wir uns organisieren. Das hat man auch bei den Bildungsprotesten in den USA gesehen. Trotz Streikverbot haben die Leute ihre Arbeit niedergelegt und ihre Forderungen durchsetzen können, da sie sich mehrheitlich organisiert haben. Ein anderer Punkt ist, dass ein Streik wie in anderen Care-Bereichen zunächst die Schwächsten, hier die Schüler*innen, trifft und nicht diejenigen, die für die Bildungsmisere verantwortlich sind. Das erhöht bei manchen Kolleg*innen die Hemmschwelle, zu streiken. Langfristig bringt ein harter Streik aber mehr für die Bildungsqualität, als durch einige ausgefallene Unterrichtsstunden verloren geht. Ob Bildung oder Pflege: Das Problem ist der Normalzustand, nicht der Streik. Wichtig ist hier auch, Eltern und Schüler*innen für die öffentliche Unterstützung mit ins Boot zu kriegen.
Wie zum Beispiel?
Im Rahmen einer Aktionswoche könnten auch Eltern und Schüler*innen sich mit dem Streik auseinandersetzen und ihn unterstützen. Als Kampagne haben wir die Möglichkeit das Thema über ein berufsständisches Anliegen hinaus gesellschaftspolitisch formulieren. Das ist wichtig, weil ja nicht nur die Bedingungen von Schule verändert werden müssen, sondern auch die Frage, was und wofür dort eigentlich gelernt wird (vgl. Demirović in diesem Heft).
Obwohl das Bildungssystem eine wichtige Säule für die Zementierung von Klassenverhältnissen ist, ist Bildung kein zentrales Thema für die LINKE. Warum?
Es wird wichtiger werden – da bin ich sicher. Oft wird Bildung für ein eher bürgerliches Thema gehalten, das sehe ich aber anders. Über das Bildungssystem werden wir zwar nicht die Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaftsordnung lösen, aber es kann dazu beitragen, ein paar Grundlagen für eine gerechtere Gesellschaft zu legen.
Die LINKE wird bisher zurecht mit dem wichtigen Thema Gemeinschaftsschulen, aber auch mit dem Projekt kostenloses Mittagessen für alle Schüler*innen verbunden. Letzteres ist gut und wichtig, trifft aber nicht den Kern der Bildungsmisere. Genau da müssen wir aber ran, und das passiert noch zu wenig. Auch in der gesellschaftlichen Linken scheinen andere Themen wie zum Beispiel Klima oder Antirassismus interessanter als Bildungspolitik. Wer aber Klimabildung und Antirassismus stärken will und für eine andere, gerechte Gesellschaft streitet, muss auch Bildungspolitik als zentrales Politikfeld anerkennen.
Das Gespräch führte Barbara Fried.