Wer bei den Klimaprotesten dieser Tage und Monate Augen und Ohren aufsperrt – sei es bei Straßenblockaden, beim Brückensperren, bei Waldspaziergängen oder Tagebaubesetzungen – bekommt in Sprechchören, auf Transparenten und in Gesprächen immer wieder die eine Botschaft zu hören: »System change, not climate change – Systemwende statt Klimawandel«. Ende Gelände, Extinction Rebellion und Fridays for Future, die als aktivistische Speerspitze der Bewegung Mitte September über 1,4 Millionen Menschen in Deutschland auf die Straßen brachten, sie alle verknüpfen die Frage des Klimaschutzes zunehmend mit der Frage nach sozialer Gerechtigkeit in Deutschland und im Rest der Welt. Die einen bringen ihre Forderung nach einer klimagerechten Gesellschaft breit und anschlussfähig vor, die anderen laut und aktivistisch, die einen analytisch und ideologisch gefestigt, die anderen apokalyptisch mit Yoga und Tanzeinlagen.
Linke Politisierung in den Klimakämpfen
Ein Verdacht bricht sich in den Köpfen von immer mehr Menschen Bahn: Das »Weiter so« in Wirtschaft und Gesellschaft kann die Klimakrise nicht aufhalten. Die kapitalistischen Scheinlösungen, die Politiker*innen und Wirtschaftsvertreter*innen propagieren, verlieren augenscheinlich an Überzeugungskraft. Unser System des profitorientierten und wachstumsabhängigen Wirtschaftens selbst rückt als Problem in den Fokus. Zugleich artikulieren sich die Bewegungen auf der Straße, in den Schulen und Universitäten, im Netz und im Alltag zunehmend rebellisch, feministisch, antirassistisch, kapitalismuskritisch und basisdemokratisch. »Es gibt keine Alternative« – diese neoliberale Losung ist spätestens jetzt Geschichte. Dieser Linksruck, der die neue Klimabewegung erfasst hat, ist mitnichten eine illusorische Innenschau oder fernes Wunschdenken. Die schriller werdenden Warnungen von AfD und FDP über die konservativen Polizeigewerkschaften bis hin zu Springer & Co. vor einer »Ökodiktatur«, »Planwirtschaft« oder einem »antidemokratischen Linksextremismus« sind durchaus ein Gradmesser für den politischen Horizont, der innerhalb der Proteste sichtbar geworden ist und auf ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zielt.
Der nicht unmittelbar eingängige Begriff der Klimagerechtigkeit wird in den Debatten und der Praxis der Bewegungen immer mehr mit Inhalt gefüllt. Der Einsatz für sichere Fluchtwege und Seenotrettung wird zunehmend mit Klimaschutzkämpfen verbunden. Sea-Watch-Kapitänin und Extinction-Rebellion-Aktivistin Carola Rackete tritt – stellvertretend für viele – öffentlich dafür ein, Flucht und Klimawandel als krisenhafte Folgen kapitalistischer Verwüstungen zusammenzudenken, und fordert Alternativen zu diesem System. Nach dem rassistischen Mordanschlag in Halle legten die Extinction-Rebellion-Aktiven umgehend eine Schweigeminute für die Opfer menschenfeindlicher Gewalt ein. Auch der zeitgleiche Angriff der türkischen Armee auf die kurdische Selbstverwaltung in Syrien wurde in der Klimabewegung breit verurteilt. In der Bewegung sehen viele den historischen Scheideweg, an dem wir stehen: Klimagerechtigkeit oder Barbarei? Um den damit verbundenen Forderungen nach einer grundlegenden gesellschaftlichen Transformation noch mehr Gehör zu verschaffen und sie stärker zu verankern, braucht es auch die LINKE. Sie ist die einzige Partei, die das Klima retten will und nicht den Kapitalismus.
Die LINKE braucht einen Klimawandel
In der Partei die LINKE stößt die Klimabewegung bei einigen aber weiterhin auf distanzierte Skepsis oder gar Ablehnung: »Wir können nicht grüner sein als die Grünen.« Die Klimafrage wird als »Lifestyle-Thema« der bürgerlichen Eliten, als Luxus, als Wohlfühlthema der neoliberalen Gewinner*innen gebrandmarkt, das man sich leisten können muss. Wer die grüne Fahne ausrolle, verrate die Arbeiterklasse und damit den historischen Auftrag der Linken. Diese Abspaltung spiegelt sich in Umfragen und Wahlergebnissen wider: Während die Grünen einen demoskopischen Dauerhöhenflug erleben, steht die LINKE am Rand der Party, kratzt sich den Kopf und fragt sich, warum niemand mit ihr tanzen will.
Doch auch wenn die Gründe für die schwachen Umfrageergebnisse der Linken vielfältig sind, an einer Tatsache kommt niemand vorbei: Ausnahmslos jede Wählerbefragung der letzten Jahre belegt, dass der Schutz des Klimas und der Lebensgrundlagen die Themen sind, die den LINKE-Wähler*innen am meisten auf den Nägeln brennen. Nur den Grünen-Anhänger*innen sind sie noch wichtiger. Zugleich wurden bei der Mehrheit der Wähler*innen, auch bei denen der LINKEN, große Wissenslücken über die Klimaschutz-Programmatik der Partei festgestellt. Mit anderen Worten: Diejenigen, die die LINKE wählen, wollen das Klima retten, und sie wollen dieses Ziel mit sozialer Gerechtigkeit verbinden. Die Partei ihres Vertrauens gibt ihnen jedoch keine linke Anleitung an die Hand. Der LINKEN wird in der Klimapolitik keine Problemlösungskompetenz zugetraut, auch das zeigen die Umfragen.
Die soziale Frage unserer Zeit
Ohne Zweifel ist Klimagerechtigkeit die soziale Frage unserer Zeit und kein Modethema, das sich bis zur nächsten Wahl wieder in Luft auflöst. Nun ist es nicht so, dass Klimapolitik in der LINKEN bisher nicht stattgefunden hätte: In der Parteizentrale, im Bundestag, in Bundesarbeitsgemeinschaften, in den Landesparlamenten und auf kommunaler Ebene hat es schon immer Öko-Sozialist*innen gegeben. Die LINKE war bei allen Klimaprotesten der letzten Jahre von Beginn an dabei, sei es über persönliche Kontakte, über Solidaritätsarbeit oder über parlamentarische Beobachtungen von Polizeieinsätzen gegen Aktivist*innen. Die Glaubwürdigkeit auf der Straße ist nicht das Problem. Es fehlt auch nicht an Inhalten und Positionen: In allen Partei- und Wahlprogrammen finden sich umfassende Forderungen, vom Kohleausstieg über die Verstaatlichung der Energiekonzerne bis zum Ende des Verbrennungsmotors. Oft ist die LINKE viel näher an den Forderungen der Umweltbewegung als die grüne Konkurrenz.
Doch jede Botschaft ist nur so stark wie ihre Verbreitung. Will die Partei die LINKE mit ihrer starken Programmatik künftig erkennbar sein und diese in Erfolge an den Wahlurnen und in praktische Politik umsetzen, dann braucht es nicht weniger, sondern mehr offensive Botschaften zu Klima und Umwelt, eine Erzählung von Klimagerechtigkeit, die laut und selbstbewusst vorgebracht wird. Diese linke Erzählung muss klarmachen, dass Soziales und Ökologie zusammengehören und dass die Klimafrage nicht von der Klassenfrage, der Geschlechterfrage, der Frage nach der Zukunft der Arbeit und einer gerechten globalen Gesellschaft zu trennen ist. Diese Erzählung muss vor allem auch die Verantwortlichen der Krise benennen und Anknüpfungspunkte für eine gegenhegemoniale Politik aufzeigen.
Die doppelte Ausbeutung sichtbar machen
So wie der Kapitalismus einige wenige Jackpot-Gewinner auf Kosten vieler Verlierer hervorbringt, so sind auch die Nieten in der Klimakrise ungleich verteilt. Es ist nicht die Kleinbäuerin in Mali, die für die Temperaturen von über 50 Grad in ihrem Land verantwortlich ist. Es sind die Industriestaaten und ihre Konzerne, die hierfür die Verantwortung tragen und die ihr Entwicklungs- und Wohlstandskonzept gewaltvoll in der ganzen Welt durchgesetzt haben. Schuld trägt nicht der türkische Uber-Fahrer in Berlin mit drei Kindern, der einen Dieselmotor mit Schummelsoftware fährt, sondern die Autohersteller, die an ihrem tödlichen Geschäftsmodell festhalten. Nicht die Nachbarin mit Ölheizung im Keller ist verantwortlich dafür, dass Heizöl billig und Ökostrom teuer ist. Auch der Kohlekumpel kann nichts dafür, dass er im Bergwerk mehr Cash verdient als ein radelnder Essenskurier. Die Lehrerin trägt keine Schuld daran, dass ihr Flug in den wohlverdienten Ibiza-Urlaub billiger ist als die Bahnfahrt nach Rügen. Es gibt kein ökologisch korrektes Leben in einem System, das Mensch und Natur gleichermaßen ausquetscht. Vor genau dieser Schlussfolgerung haben die Reichen und Mächtigen Angst: Dass die Klimakrise diese doppelte Ausbeutung sichtbar macht. Was wäre denn, wenn die Mehrheit keine Lust mehr hätte auf schlecht bezahlte Arbeit und Umweltzerstörung? Was, wenn sie nicht mehr bereit wäre, für die Schäden der anderen zu haften, für die Schäden derjenigen, die weiter SUV fahren, ihre Klimaanlagen anwerfen und den Armen vorhalten, sie seien nicht öko genug? An diesen sozialen Bruchlinien der Klimakrise muss eine linke Erzählung von Klimagerechtigkeit ansetzen.
Eine linke Erzählung der Klimagerechtigkeit
Eine solche Erzählung kann nur dann öffentliche Wirkung entfalten, wenn sie von allen Akteuren der Partei überzeugt und überzeugend vorgetragen wird: Nicht die Gipsindustrie ist wichtiger als Klimaschutz, nicht die Stahlindustrie, nicht die Agrarlobby, nicht die Autokonzerne. Nie wieder dürfen LINKE das freie Rasen auf deutschen Autobahnen verteidigen, für staatliche Subventionen klimaschädlicher Industrien eintreten, Jobs in der Kohle- und Autoindustrie verteidigen oder den Klimaschutz im Gebäudebereich abbremsen. Das durchschaubare Spiel der Wirtschafts-, Industrie- und Finanzakteure, die ihre eigenen Profitinteressen hinter den berechtigten Ängsten der Menschen vor einem Jobverlust verstecken, dürfen LINKE nicht mehr mitspielen. Statt den Status quo zu bewahren, wird die LINKE klare Antworten geben müssen, die auch diejenigen verstehen, die bei Amazon ausliefern, Handwerker*innen sind, Kohlebagger fahren oder bei VW am Fließband stehen. Gerade weil die radikale Rechte in diesen Zeiten der neoliberalen Restauration triumphiert, muss das Projekt eines demokratischen Ökosozialismus dringend Land gewinnen. Die Chancen stehen nicht schlecht: Immer mehr Menschen lechzen nach Alternativen zum Bestehenden. Die Klimabewegung hat das Fenster weit aufgestoßen. Seien wir die, die den frischen Wind hineinpusten. Erzählen wir von unseren linken Alternativen, selbstbewusst und nach vorne gerichtet!