Die politische Situation in Italien ist nicht zu verstehen, wenn man die gelb-grüne Regierung aus Movimento 5 Stelle und Lega  als faschistisch und autoritär auffasst oder abtut. Nach der Wahl am 4. März 2018 waren die zwei Siegerparteien dazu gezwungen, eine Koalition einzugehen, um eine Rückkehr der Besiegten zu vermeiden, das heißt eine Rückkehr der Partito Democratico (Demokratische Partei/PD) und der Partei Berlusconis, denen die Wähler*innen eine heftige Absage erteilt hatten. Diese Koalition hat sich indes nicht nur aus einer politischen Notwendigkeit ergeben, sondern auch aus einer sozialen: Sie ist Ausdruck eines instabilen Bündnisses zwischen der nationalen Bourgeoisie (kleine und mittlere Unternehmen mit Fokus auf den italienischen Binnenmarkt) und Teilen des Proletariats und Halbproletariats, also zwischen jenen, die am meisten unter der Globalisierung und der Europäischen Union gelitten haben und heute eine grundlegende Veränderung fordern. 

Dieses Bündnis hätte von links kommen müssen. Aber der größte Teil der Sozialdemokratie spricht die Sprache der Globalisierung und wird von der wachsenden Anzahl der Unzufriedenen gehasst oder als abgehoben empfunden. Die radikale Linke jenseits der PD hat sich als unfähig erwiesen, ein populäres Projekt zu formulieren und zu organisieren, ist heute zersplittert und wird nicht als durchsetzungsfähige Alternative wahrgenommen. So fiel diese Aufgabe der Lega (sie vertritt einen Mix aus Liberalismus und Protektionismus) und den Fünf-Sterne-Bewegung (sie steht für Liberalismus und Umverteilung) zu, weshalb in der Koalition nicht Arbeiter*innen dominieren, sondern Vertreter*innen eines nationalen Kapitalismus. Sie zielen vor allem auf die Senkung der Steuern und die Lockerung des Fiskalpakts, der die staatliche Handlungsfähigkeit zugunsten der Unternehmen zu sehr einschränkt. Um regieren zu können, müssen zumindest einige Forderungen der subalternen, in den letzten Jahren erheblich verarmten Klassen aufgenommen werden. Aus diesem Grund hat die Regierung eine Senkung des Renteneintrittsalters, eine Erhöhung der niedrigsten Renten sowie eine Arbeitslosenunterstützung (fälschlicherweise Bürgereinkommen genannt) versprochen. Deswegen ist die aktuelle italienische Regierung vielleicht die erste, die nach Maastricht auf gewisse Weise die Bedürfnisse des Volkes vertritt, die sich bemüht, »zu geben«statt »zu nehmen«. Wenn man bedenkt, dass die linkeste Regierung der vergangenen Jahre (die zweite Amtszeit Prodis unter der Beteiligung von Rifondazione Comunista) den Italiener*innen damals ein strengeres Finanzgesetz verordnet hat, als von Brüssel verlangt, dann versteht man, warum die Linke dabei ist zu verschwinden und ihr Platz von rechten Kräften (Lega) und ambivalenten Kräften (M5S) besetzt wird. Natürlich sind die Ziele der gegenwärtigen Regierung stark zu kritisieren. Das Abkommen mit der EU kann als Nachgeben gesehen werden. Die höhere Zahl an Rentner*innen kann für die Unternehmen als Rechtfertigung für schlechtere Vertragskonditionen gegenüber jungen Arbeitnehmer*innen dienen. Die Arbeitslosenunterstützung ist mit Workfare-Ansätzen zu vergleichen, hinzu kommt das harte Vorgehen der neuen Regierung gegen Geflüchtete und Migrant*innen, was sich negativ auf den Arbeitsmarkt und somit auf alle Arbeiter*innen auswirkt. Es gibt aber auf jeden Fall eine Umverteilung des Vermögens zugunsten der sozial schwächeren Schichten. Die Maßnahmen gegen Einwanderer (sowie eine oft reaktionäre Einstellung gegenüber Persönlichkeitsrechten) tun dem Zuspruch der Bevölkerung zur Regierung jedoch keinen Abbruch, und zwar nicht weil die Italiener*innen auf einmal rassistisch und homophob sind (auch wenn diese Tendenzen zunehmen), sondern weil die Forderung nach «offenen Grenzen» und »politische Korrektheit« einer globalistisch-neoliberalen Elite zugeordnet werden, die einen wachsenden Anteil der Bevölkerung ins Elend gestürzt hat, die aber nun zum ersten Mal Schwierigkeiten zu bekommen scheint. Aus all diesen Gründen ist ein Vergleich mit dem Faschismus nicht angemessen. Nach einer langen Phase von Arbeiterkämpfen besiegelte der Faschismus den Zerfall proletarischer Organisationen, verfolgte eine extrem liberale Wirtschaftspolitik (basierend auf Währungsstabilität) und schuf einen totalitären Staat. Die gelb-grüne Regierung ist der erste politische Ausdruck einer unzufriedenen Fraktion der Arbeiterklasse nach jahrzehntelanger Unterwerfung unter den liberalen, proeuropäischen Gedanken. Es besteht sicherlich das Risiko, dass die reaktionäre Seite der Lega und der »Justizialismus«[1] der 5 Stelle zusammen mit einer Kommunikation, bei der die sozialen Medien oft die Institutionen übergehen, langsam aber stetig die Substanz der italienischen Demokratie untergraben wird. 

Doch die Form dieser Demokratie ist bereits verändert und geschwächt worden, und das in erster Linie von der liberalen Sozialdemokratie. Sie war es, die das Solidarprinzip der italienischen Verfassung sabotierte, indem sie vor Jahren (und unter Zustimmung der Lega) den Föderalismus und die Subsidiarität einführte. Die Sozialdemokratie hat die Demokratie ausgehöhlt, indem sie Richtlinien in die Verfassung aufnahm, die den Italiener*innen die deflatorische Politik der EU aufgezwungen haben. Sie hat der Verfassung also jedenfalls bisher mehr Schaden zugefügt als die Tweets der jeweiligen Vorsitzenden von Lega und 5 Stelle, Matteo Salvini und Luigi Di Maio. Wer also die jetzige Regierung mit einer Politik für die Arbeiterklasse und zum Schutze der Demokratie ablösen möchte, dem muss klar sein, dass diese Devise der «antifaschistischen Front» aus Liberalen und Sozialdemokratie (die heute mit Silvio Berlusconi, dem vormaligen Monster, dem «Faschisten» verbündet ist) sowie radikaler Linken und der «Zivilgesellschaft» auf wenig Akzeptanz stoßen wird. Jene Front würde lediglich die PD wieder auferstehen lassen und erneut eine liberale Programmatik vertreten, die ja der Hauptgrund für den Sieg von Gelb-Grün war. Es ist also sinnlos, die Regierung zu beschimpfen. Es muss vielmehr deren Wesen verstanden werden.

Die Ambivalenz der Regierung

Auf den ersten Blick scheint das gelb-grüne Programm lediglich eine Version aus den Reihen der Defizit-Befürworter*innen zu sein, die in Italien seit jeher den Verfechter*innen des Sparens gegenüberstehen. Die Defizit-Befürworter*innen wollen, was den gängigen Forderungen des Mitte-rechts-Spektrums entspricht, das Land durch Steuersenkungen, die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen und eine (moderate) Ausweitung der öffentlichen Ausgaben zugunsten privater Einkünfte wieder ankurbeln. Sie stehen der EU skeptisch gegenüber, wollen diese aber nicht unbedingt verlassen. Sie tendieren zu einer relativ autonomen Außenpolitik und sind gegenüber Russland, China und dem Iran wirtschaftlich aufgeschlossen, aber immer auf der Grundlage eines engeren Verhältnisses mit Washington. Heute gibt es jedoch in Bezug auf dieses Modell drei wichtige Unterschiede, die den Konflikt zwischen Italien und der EU verschärfen: Erstens ist Donald Trump, mit dem Italien nun die Bündnispartnerschaft vertieft, der erste US-amerikanische Präsident, der der EU offen feindlich gegenübersteht. Zweitens zwingt die Verarmung der Arbeiterklasse die Regierung zur Verletzung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts. Und drittens: Die jetzige italienische Regierung strebt den Italexit zwar nicht an, sie ist aber die erste, die diese Option nicht ausschließt. Zum ersten Mal scheint nun allen der Konflikt zwischen zwischen der Austeritätspolitik der EU und einer nationalen Politik, die auf Umverteilung setzt, auch wenn sie begrenzt ist, offensichtlich. An diesem Punkt wäre eine Niederlage der italienischen Regierung im Streit um die Defizitfrage nur eine Bestätigung dafür, dass der «europäische Traum» für die subalternen Klassen zum Albtraum geworden ist und dafür, dass das italienische Establishment auf der Seite von Brüssel steht und nicht auf der Seite der meisten Wähler*innen. Das machte auch Staatspräsident Sergio Mattarella deutlich, als er gleich nach den Wahlen ankündigte – was ein grober Verstoß gegen die Verfassungspraxis war –, dass er keinen gelb-grünen Wirtschaftsminister akzeptieren würde. Und zwar nicht wie in der Vergangenheit aus moralischen Gründen, sondern aus rein politischen Gründen, da er einen harten Konfrontationskurs mit der EU fürchtete. Deshalb spielt die gelb-grüne Regierung, zumindest für diejenigen, die eine Überwindung der EU für die subalternen Klassen in Italien für notwendig (wenn auch nicht für ausreichend) halten, trotz allem eine positive Rolle. Das ist nicht alles. Auch wenn die politischen Organisationen der radikalen Linken sich immer und in jedem Fall gegen die Regierung aussprechen, sind die wichtigsten Gewerkschaften und großen Anti-Establishment-Bewegungen zu einer pragmatischeren Haltung gezwungen. So hat sich beispielsweise die Gewerkschaft Unione Sindacale di Base/USB (deren Leitung der radikalen Linken nahesteht, deren Mitglieder aber zu großen Teilen 5 Stelle gewählt haben) nicht offen gegen Maßnahmen zur Begrenzung prekärer Arbeit oder gegen die dauerhaften Öffnung großer Einkaufszentren gestellt, die von Arbeitsminister Luigi Di Maio beschlossen bzw. angekündigt wurden, genauso wenig wie gegen die Rentenreformvorschläge der Lega. Außerdem haben die 5 Stelle nach dem tragischen Einsturz der Morandi-Brücke in Genua sehr scharf gegen die Privatisierung der Autobahnen polemisiert (und damit gegen die PD, aber auch gegen die Lega). Dies wiederum nutzte die USB, um der von ihr gewünschten Betonung des öffentlichen Sektors Nachdruck zu verleihen. Auch wenn die 5-Sterne-Bewegung die No-TAP-Bewegung, die gegen eine Gaspipeline in Apulien kämpft, schwer enttäuscht hat, so hat sie der No-TAV-Bewegung, die sich seit 20 Jahren gegen den Bau der Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke Turin-Lyon einsetzt, neue Möglichkeiten eröffnet. Ein Scheitern der gelb-grünen Regierung hätte in diesem Moment viele negative Konsequenzen, sowohl für Teile der Gewerkschaften als auch für Teile der radikalen Bewegungen.

Einige Widersprüche

Italien befindet sich also in einer paradoxen Situation. Sollte die gelb-grüne Regierung fallen, wird sich die Situation für die Arbeiterbewegungen verschlechtern, da eine andere Regierung weitere Arbeitsmarktflexibilisierungen mit sich brächte. Sollte sie indes standhalten und wenigstens einen Teil ihrer Versprechen einlösen, wird der Zuspruch der Bevölkerung wachsen und in einer Strategie münden, die zu einigen konkreten Ergebnissen führen kann, aber zur Überwindung der Krise in Italien nicht ausreichen wird. Statt die Regierung also als faschistisch zu bezeichnen (und damit nicht nur die gelb-grüne Koalition, sondern vor allem deren Wähler*innen zu diffamieren), sollte eine «rationale» Linke sie zu einer radikaleren Haltung gegenüber Brüssel anhalten, sie bei den Modalitäten der Umverteilung unterstützen, Kritik an ihrer reaktionären Politik üben und gleichzeitig an den Widersprüchen in der Koalition arbeiten, die, wie wir sehen werden, erheblich sind.

  • Italien hat ein offensichtliches Interesse an einer friedlichen Beziehung und einem intensiveren Austausch mit Russland, China und dem Iran. Die Verbindung zu Trump hilft der Regierung zwar einerseits gegen Brüssel, macht aber eine Öffnung des Landes gegenüber Moskau, Peking und Teheran schwieriger. Außerdem hat die übertriebene Identifikation mit den USA Salvini kürzlich zu stark proisraelischen Äußerungen bewogen, die Italiens Politik im Nahen Osten und seiner Sicherheitsstrategie geschadet haben. Schließlich führt die ideologische Allianz von Salvini und Orbán zu einer Isolierung Italiens, die ein gemeinsames Vorgehen Südeuropas gegen die Austeritätspolitik
  • Sowohl die Lega als auch die 5 Stelle sind im Innern gespalten, da in beiden Parteien Unternehmer*innen wie Arbeiter*innen vertreten sind. In der Lega haben die Unternehmer*innen mehr Gewicht und kleine und mittlere Unternehmen (die sich vor allem im Norden und im Zentrum Italiens befinden) wollen weder eine harte Konfrontation mit der EU noch zu viele Zugeständnisse an die Wählerschaft der 5 Stelle, die sich hauptsächlich aus süditalienischen Arbeiter*innen oder Arbeitslosen zusammensetzt sowie aus Umweltaktivist*innen, die gegen die grandi opere, die großen Bauvorhaben, kämpfen. Außerdem gibt es im Movimento 5 Stelle einen Teil, der die reaktionärsten Positionen der Lega nur schwer ertragen kann, der aber vor allem der EU gegenüber sehr vorsichtig ist und immer das Bündnis mit dem PD bzw. mit dem, was von der italienischen Linken übrig geblieben ist, gesucht hat.
  • All das macht das Bündnis zwischen Lega und Movimento 5 Stelle kompliziert. Viele meinen, dass Salvini nach den Europawahlen versuchen könnte, seine wachsende Popularität zu nutzen, um die jetzige Regierung zu stürzen und Parlamentswahlen vorzuziehen, um sowohl die Wähler*innen von Berlusconi als auch einen Teil der Wähler*innen vom Movimento 5 Stelle für sich und seine Partei zu gewinnen. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Taktik aufgeht. Allerdings wäre eine Regierung unter Salvini ohne das Movimento 5 Stelle viel schwächer als die aktuelle. Auf der anderen Seite würde die 5-Sterne-Bewegung durch einen Bruch der gelb-grünen Koalition unweigerlich nach links rücken, was zweierlei bedeuten kann: Entweder wird das Movimento 5 Stelle von der Linken in eine neue breite liberal left absorbiert oder das Gegenteil passiert und die Bewegung definiert sich als eine neue radikale, weniger elitäre und globalistische Linke.

Es braucht eine Revolutionierung der Linken

Eine echte Linke müsste an diesen Widersprüchen mit einer Strategie arbeiten, mit der sie sich sowohl vom globalistischen «großen Kapitalismus» als auch vom nationalen «kleinen Kapitalismus» absetzt. Diese Strategie könnte gestärkt werden, sollte sich die Regierung am Ende doch Brüssel oder den Interessen des nationalen Kapitalismus beugen und ihre jetzigen Anhänger*innen aus der Arbeiterklasse enttäuscht hinterlassen. Vollkommen falsch wäre es hingegen, sich allein auf Themen wie Einwanderung, Persönlichkeitsrechte, sexuelle Selbstbestimmung etc. zu konzentrieren. Die Linke muss wieder eine sozialistische Linke werden, was keinesfalls bedeutet, libertäre oder antirassistische Anliegen zu vernachlässigen. Sie muss für eine neue Zentralität von Staat und öffentlichen Unternehmen im Dienste der Vollbeschäftigung eintreten. Sie muss die Überwindung der autoritär-neoliberalen europäischen Institutionen zum Ziel haben und den Nationen des alten Kontinents die Perspektive eines Bundes souveräner Staaten aufzeigen, der Frieden und ein Gleichgewicht zwischen den geopolitischen Blöcken verfolgt. Gegenüber einer zunehmend desorientierten Bevölkerung muss sie als wahre «Partei der Sicherheit» auftreten, einer Sicherheit, die für Frieden, Arbeit und den Schutz der Umwelt vor klimatischen Veränderungen steht sowie für ein gesellschaftliches Zusammenleben aller, ausgehend von den sozialen Rechten der Ärmsten und der Legalisierung von Migrant*innen. Es gilt, sichere Fluchtwege zu schaffen und die Bedingungen der Migration zu verbessern. Eine echte Linke muss schließlich ganz anders mit den Menschen in Kontakt treten als mit den mehrheitlich «gebildeten» und «bürgerlichen» Aktivist*innen der Anti-Globalisierungs-Bewegungen, damit sie die neuen Kämpfe der «Gelbwesten» aufnehmen kann, die heute in Italien noch durch das Movimento 5 Stelle sprechen, aber morgen direkt das Wort ergreifen könnten. Dafür wäre aber eine wirkliche kulturelle Revolution der italienischen Linken nötig, die die Klassenfrage wieder ernst nimmt und mit den popularen Klassen ins Gespräch kommt, ohne Rückfall in Debatten um Haupt- und Nebenwiderspruch. 

Aus dem Italienischen von  Henrieke Markert und Johanna Montanari

[1] Gemeint ist eine unreflektierte und undifferenzierte Rechtsauffassung und -anwendung, eine Justiz nach Schema F (Anm. d. Ü.).

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