Der hier vorliegende Text von Mario Candeias widmet sich der Problematik des analytischen Herangehen einflussreicher soziologischer Arbeiten von Bourdieu, Walquant oder Castell über das »Prekariat«. Candeias kritisiert deren brillante, aber einseitige Analyse, da nur die Dekonstruktion der Arbeiterklasse in den Blick genommen wird, nicht aber Elemente ihre Neuzusammensetzung in einem permanenten Prozess des Unmaking und Remaking. Ergänzend stellt er Elemente einer möglichen Formierung des »Prekariats« als neues Klassenfraktion im Werden dar. Diese Arbeit lag bisher nur englischsprachig vor und erscheint hier erstmalig auf Deutsch.
„Das Prekariat ist eine Art unmöglicher Gruppe, deren Geburt notwendigerweise unvollendet bleibt“, es „verharrt im Zustand eines einfachen zusammengesetzten Konglomerats“, so eine Schlussfolgerung Loïc Wacquants. Inzwischen sind die damit angesprochenen Desintegrationsprozesse und sozialen Spaltungen, vorwiegend unter dem Stichwort ›Unterschicht‹, nach der französischen auch in der deutschen politischen und wissenschaftlichen Debatte angekommen: „Die Gesellschaft zerfällt“ in Lebenslagen, die von den Einzelnen „als so instabil erlebt werden, dass keine dauerhafte Identifikation mit einer Rolle und Gruppe mehr gelingt.“ (Lessenich/Nullmeier 2006, 18). Hier sieht Franz Schultheis das „radikal Neue“ der sich zuspitzenden sozialen Frage: „Der schrittweise Abbau sozialer Sicherung […] trifft nunmehr hochgradig individualisierte Individuen, die dem kalten Wind einer radikalen Marktvergesellschaftung schutzlos ausgeliefert sind, weil ihr Habitus […] an ein Mindestmaß an Schutz […] gewöhnt ist“ (2005, 583).
Im Folgenden soll anhand einiger Arbeiten von Loïc Wacquant, Pierre Bourdieu und Robert Castel, auf die sich soziologische Analysen der Prekarität in Deutschland in der Regel berufen, die Kritik an einem Blick auf das Prekariat entwickelt werden, der in den Umbrüchen nur Verelendung und Zersetzung sieht und dadurch blind wird für die Entstehung von Neuem und Widerständigem z.B. in den Pariser Banlieues. Dieser Blick ist einem analytischen Standpunkt geschuldet, der von ›außen‹ und von ›oben‹ mit Maßstäben der Vergangenheit misst und so die Neuzusammensetzung der Klassen verfehlt.
Dekonstruktion ohne Rekonstruktion?
So treffend diese Arbeiten Prozesse der Zersetzung fordistischer Vergesellschaftungsformen beschreiben, so berücksichtigen sie doch nicht die Neukonstitution der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die fordistische Integrationsweise bleibt der Maßstab, die Abweichung wird als Verelendung begriffen (vgl. Haug 2003, 143; Candeias 2006, 11). Die enge Kohärenz zwischen Kapitalverwertung und Reproduktion der Arbeiterklasse, zwischen Produktivitätsfortschritten und Lohnsteigerungen, wie sie im Fordismus teilweise zu finden war, ist eine in der historischen Entwicklung des Kapitalismus seltene Konstellation – und doch bildet sie die Folie, vor der das Neue bislang kategorisiert wurde. Festgehalten wird an „integrierter Gesellschaftlichkeit“, wie sie sich – blutige Auseinandersetzungen und Faschismus vergessend – seit dem 19. Jh. entwickelte und ihren Höhepunkt in der „nivellierten Mittelschichtsgesellschaft“ (Schelsky) der Nachkriegszeit fand. Natürlich weiß ein informierter linker Diskurs, dass auch dieser Kapitalismus ein in Klassengegensätze gespaltener war, doch waren diese Gegensätze durch historische Kompromisse entschärft und in institutionalisierte Bahnen der Konfliktaustragung gelenkt worden. Klassen sind in dieser Perspektive einheitliche Subjekte, heute abgelöst durch eine Vielfalt von Ungleichheitslinien. Es gibt kein „eindeutig-eindimensionales Muster“ gesellschaftlicher Ungleichheiten mehr; „Konzepte wie ›Klassen‹ […] wirken heute hohl“ (Schultheis 2005, 576). Vor dem Hintergrund dieser Konstruktion einer hübsch geordneten Vergangenheit wird das Neue nur als beliebige und unübersichtliche Pluralität von Differenzen (vgl. Lessenich/Nullmeier 2006, 15) sichtbar. Unbegriffen bleibt, wie Klasse, Rasse, Geschlecht, Alter, Qualifikation usw. in einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise unter neoliberaler Hegemonie auf neue Art und Weise verwoben werden.
Auch bei Wacquant geht es um die Auflösung von Klassen als Gegenbewegung zur „proletarischen Vereinheitlichung“, die in der alten Form auch nicht mehr erstrebenswert sein kann. Vielfältige Ungleichheiten stehen bei ihm nicht nebeneinander, sondern verdichten sich im Prekariat bzw. in den Banlieues zu einer unentrinnbaren Zwangsjacke (Wacquant 2004). Verfehlt wird in dieser Neuauflage des Verelendungsdiskurses, wie die Zersetzung der Klassen zugleich mit ihrer Neuzusammensetzung einhergeht. Es besteht nur eine Ahnung von der „Vereinheitlichung von Konfliktlinien“: alle, „auch tiefgreifende kulturelle Differenzen“ oder Altersunterschiede, werden „in ökonomische Verteilungsprobleme übersetzt“. Ergebnis ist die „Zersplitterung einer von Konkurrenzen durchzogenen Gesellschaft“, ein „Zerfalls- und Spaltprodukt der Krise“ (Lessenich/Nullmeier 2006, 17 bzw. 21), wobei übersehen wird, wie seit 30 Jahren wirkende neoliberale Integrationsmodi den transnationalen Umbau der Gesellschaft forcieren (Candeias 2004b).
Tatsächlich kommt es vermehrt zu Unsicherheiten und Unzufriedenheit, die im Zuge einer Repräsentationskrise und mangelnder Artikulationsmöglichkeiten (vgl. Candeias 2004b, 334ff) zu Autoritarismus und Entsolidarisierung führen: Die Bedrohung der gesellschaftlichen Positionen und das Schwinden von Perspektiven bis tief in die sog. Mittelklasse der ehemals gut abgesicherten Facharbeiter und der urbanen bürgerlichen Angestelltenheere verstärken die Abgrenzungen nach ›unten‹ (vgl. auch Wacquant 2004, 164). Es kommt zu Distinktions- und Anerkennungskämpfen, zu Trennlinien der ›Respektabilität‹, die Vertrauen, Kommunikation und übergreifende oder auch nur lokale Solidarität erschweren. Die individuelle Bearbeitung der Widersprüche überwiegt, die Benachteiligten scheinen unfähig, die „kollektive Natur des Dilemmas anzuerkennen“ (165). Sicher: In der Bewegungsphase „wird tendenziell Desolidarisierung überwiegen“ (W.F.Haug 2003, 172). Doch bleibt die Analyse dort stehen, führt das zur Blockierung von Handlungsfähigkeit: wo wäre dann noch anzusetzen?
Subjektivierung vom Standpunkt der Reproduktion
Für Robert Castel, wie nun auch für Wacquant, ist das Prekariat gesellschaftlich atomisiert, anomisch und resigniert – kurz: nicht organisierbar. Castel sieht eine Tendenz zum „Sich-Einrichten in der Prekarität“, gekennzeichnet durch die habitualisierte Mobilität eines „provisorischen Durchwursteln“ und der Entwicklung eines „Realismus der Hoffnungslosigkeit“, der von Reintegrationsversuchen Abschied nimmt und zu Resignation sowie sporadischen Gewaltausbrüchen mit selbstzerstörerischen Merkmalen führt (2000, 357f). Für Castel sind diese Überzähligen „nicht integriert und zweifelsohne auch nicht integrierbar“, da ihnen das Hauptmoment gesellschaftlicher Integration, eine positive Identität durch Arbeit, verloren gegangen sei (359). Sie sind für ihn keine sozialen Akteure, sondern „soziale Nicht-Kräfte“ (ebd.), eine Nichtklasse der Marginalisierten, die sich resignativ ihrem Schicksal unterwirft, oder, wie Wacquant es ausdrückt, „abgekoppelt“ von den etablierten Gruppen und „entsprechend einer Sprache, einem Repertoire gemeinsamer Bilder und Zeichen zum Entwurf eines kollektiven Schicksals“ beraubt.
Erstaunen wird formuliert angesichts des dennoch vorhandenen „Selbstbewusstseins der Abgehängten, das sich gegen eine völlige Marginalisierung sperrt und zur Ausbildung eigener Subkulturen und Taktiken des Durchhaltens und Durchkommens“ (Lessnich/Nullmeier 2006, 20), also eigener Praxen und Sprache führt, auch zum Aufbau „reziproker Netzwerke“ und ethno-nationale Grenzen überschreitender, funktionierender „communities“ (Wacquant 2004, 171 u. 193); dies selbst in den amerikanischen Großstadt-Ghettos, in denen ein unvergleichbar höherer Grad an physischer Unsicherheit herrscht (176). Woher diese Phänomene kommen, bleibt unerklärt. Die aufkeimenden Organisationen der „Habenichtse“, wie die Arbeitsloseninitiativen, die Organisationen gegen Obdachlosigkeit oder gegen Illegalisierung von Migranten (Sans Papiers) seien „sehr fragil“ –- damit hat Wacquant wohl recht, und doch erklärt es nicht ihr Zustandekommen.
Castel wie Lessenich/Nullmeier reproduzieren den Blick auf die Betroffenen von ›oben‹, neigen dabei zur Entsubjektivierung bzw. verbleiben auf der Ebene der Analyse sozialstaatlicher Institutionen. Wacquant hingegen widmet sich den subjektiven Verarbeitungsformen und zeigt, wie die Einzelnen sich selbst in die prekären Verhältnisse einbauen. Subjektivität wird hier jedoch nur vom Standpunkt der Reproduktion herrschender Verhältnisse betrachtet, quasi als affekthafter Reaktionismus. Das Problem dabei ist, dass den Subjekten zwar Eigenaktivität zugestanden, jedoch die Kompetenz oder Fähigkeit abgesprochen wird, die Verhältnisse zu verändern (vgl. auch Dörre 2005). Dieses Verfangen in einer Art reproduktiven Schleife (auch bei Castel) ist dem bourdieuschen Erbe eines latenten Strukturalismus geschuldet (kritisch dazu Willis 1990, 13).
Mit seinem Konzept des Habitus liefert Bourdieu ein konkret-geschichtliches Vermittlungsverhältnis von gesellschaftlicher und individueller Reproduktion. Kern des ursprünglichen Entwurfs ist eine „allgemeine Theorie der Ökonomie von Handlungen“, die in einer Art „verallgemeinertem Materialismus“ (Bourdieu 1986, 173) das „ökonomische Kalkül“ auf alle sozialen Äußerungen anwendet. Er reduziert Handeln damit auf Nutzenerwägungen der Akteure (dem rational choice-Ansatz nicht unähnlich) (vgl. Mahnkopf 1988, 13). Die funktionale Übereinstimmung von Habitus und Struktur drängt sich auf. Der Habitus bilde, so Bourdieu, ein System relativ „dauerhafter und übertragbarer Dispositionen“ (Bourdieu 1987, 98), in welchem „Praktiken und Vorstellungen“ der handelnden Akteure „objektiv an ihr Ziel angepasst sein können, ohne jedoch bewusstes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen, die objektiv ›geregelt‹ und ›regelmäßig‹ sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein“ (88f).
Allerdings weist Bourdieu frühzeitig darauf hin, dass die Angepasstheit des Habitus an die objektiven Bedingungen nicht zirkulär als vollkommene Reproduktion zu interpretieren sei (1987, 117; vgl. 1976). Der Begriff diene in seiner entwickelten Form vielmehr dazu „Dauerhaftigkeit im Wandel“ zu gewährleisten und die „Praktiken relativ unabhängig von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart zu machen“ (105): Der Habitus ist dann „ein Produkt der Konditionierungen, das die objektive Logik der Konditionierung tendenziell reproduziert, sie dabei aber einer Veränderung unterwirft; er ist eine Art Transformationsmaschine, die dafür sorgt, dass wir die sozialen Bedingungen unserer eigenen Produktion ›reproduzieren‹, aber auf eine relativ unvorhersehbare Art, auf eine Art, dass man nicht mechanisch von der Kenntnis der Produktionsbedingungen zur Kenntnis der Produkte gelangt“ (1993, 128). Er steht zu den ihn erzeugenden Bedingungen im Verhältnis der Entsprechung. Zwischen Handeln und Struktur besteht quasi Homologie zumindest solange, wie der Habitus „mit Verhältnissen konfrontiert ist, die den Verhältnissen, deren Produkt er ist, objektiv gleich oder ähnlich sind“, kann man durchaus sagen, „dass der Effekt des Habitus und der Effekt des Feldes [der Struktur] in gewisser Weise redundant sind“ (Bourdieu/Waquant 1996, 163). Das relational-redundante Verhältnis schließt konzeptionell einen mechanischen Determinismus aus, ohne die historisch-gesellschaftliche Vor-Strukturiertheit des Handelns der gesellschaftlichen Akteure in Frage zu stellen. Doch es bedarf großer Anstrengungen aus der Homologie nicht in die strukturelle Determinierung zurück zu fallen. Beispielhaft für einen Rückfall in einen hermetischen Determinismus steht Castel, wenn er zustimmend Bourdieu in einer Weise interpretiert, „dass am Anfang der Zwang steht, dass die Gesellschaft aus einem Zwang hervorgegangen ist und sie zuallererst aus Zwängen besteht“ (2003, 348). Doch auch ein weniger deterministisches Verständnis der Habitus-Theorie sagt noch nichts über die Ursachen ›abweichenden Verhaltens‹ oder verändernder Praxis.[1]