Wir müssen uns mit den tieferen Ursachen unserer Krise auseinandersetzen. Dafür können wir aber nicht erstmal ein Jahr in uns gehen, um uns dann wieder zurück zum Dienst zu melden. Wir müssen sofort wirkungsvolle Oppositionsarbeit leisten. Denn ohne rebellische LINKE kann und wird es die notwendigen sozialen, ökologischen und demokratischen Wendepunkte in der deutschen Politik nicht geben. 

Sofort wirksame soziale, ökologische und demokratische Opposition sein

Völlig verfehlt wäre es, wenn wir uns dabei auf einen einzelnen „Markenkern“ beschränken würden. SPD und Grüne dürften die Ansprüche eines Teils ihrer eigenen Wähler*innen und derjenigen, die von der LINKEN zu SPD oder Grünen wanderten, enttäuschen. Wir können in den nächsten vier Jahren an vier gesellschaftlichen Problemen ansetzen, um zu sammeln.

Erstens an der sozialen Krise: Die Ampel wird einige moderate Reformen durchführen. Einen wirklichen Zeitenwechsel wird es aber nicht geben ( Händel 2021). Das grundlegende Verteilungsproblem, Armut, Rentenarmut, Unterbeschäftigung oder Prekarität, wird die Ampel nicht angehen. 

Zweitens an der ökologischen Krise: Die Ampel wird sich als ökologische Modernisierungskoalition profilieren, aber sie wird dafür zu wenig tun und das zu langsam. Sie wird auch zu wenig für die soziale Absicherung tun. Ganz sicher wird sich die Verteilungsfrage stellen: Wer zahlt was? 

Drittens an der demokratischen Krise: Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der sich von „der Politik“ verlassen fühlt. Zuletzt ist es den Kräften rechtsaußen gelungen, sich als Vertretung der Ungehörten in Szene zu setzen – wir müssen das korrigieren. Ein zuspitzender Linkspopulismus ist notwendig, der die Rückeroberung und Ausweitung unserer Demokratie als Ziel ausgibt (vgl. Bussemer et al. 2021). 

Viertens können wir die Bedrohung der Repulik aufgreifen: Das nationalradikale politische Lager, das sich um die AfD gruppiert, wird die Klimaschutzpolitik und die versprochenen gesellschaftspolitischen Fortschritte der Ampelkoalition hart bekämpfen. Einen Showdown, bei dem Grüne und SPD als Garanten des Fortschritts, AfD & Co. als Bedrohung gelten, müssen wir verhindern. Das geht nur, wenn wir in dieser Auseinandersetzung nicht am Rand stehen, sondern den Kampf gegen die Rechte hoch gewichten.

Krisenursachen bekämpfen, nicht Genoss*innen

Wir müssen einen schmerzhaften, wenngleich solidarischen Klärungsprozess durchmachen, um einen wirklichen Neubeginn zu ermöglichen. Wird eine Krise nicht gelöst, verändert sie ihr Erscheinungsbild, sie kehrt wieder. Aus einer Mücke (z.B. einem Ausschussvorsitz) wird ein Elefant (eine große Auseinandersetzung, ein Stellvertreterkonflikt). Eine verschleppte Krise führt zu Niederlagenstimmung, zur Zersetzung der innerparteilichen Kultur. Wir haben drei Krisen in einer:

Eine Krise der strategischen Linie: Die von einer Mehrheit des Parteivorstands entwickelte Politik hat zur Herausbildung einer der Linie des Parteivorstands widersprechenden Minderheitenlinie geführt. Als „sozialkonservative Politik“ wird sie am schärfsten von Sahra Wagenknecht entworfen. Würde dieser Politikansatz führend in der LINKEN, so der Soziologe Klaus Dörre, wäre das das Ende der LINKEN in ihrer heutigen Form, dann „hätte die große Mehrheit der aktiven Parteimitglieder (…) keinen Platz (Dörre 2021).“ Selbstredend müssen in einer pluralistischen Partei Streitigkeiten einen Raum haben, aber die permanente öffentliche Kritik beschädigt die Partei nachhaltig. 

Wir haben zweitens eine Krise der Repräsentation bzw. sozialen Verankerung: Es ist uns nicht gelungen uns schnell genug in Westdeutschland organisch in der Gesellschaft zu verankern. Im Osten verlieren wir – schon aufgrund der demografischen Entwicklung, aber auch aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen – rasant an Rückhalt. An falschen Leitlinien des Parteivorstandes liegt das meiner Ansicht nach nicht, eher an ihrer noch geringen Umsetzung in konkrete Politik. Natürlich gibt es Kreisverbände, die dem Ideal einer „aktiven Mitgliederpartei“ recht nahekommen, die einladende Kampagnenarbeit macht, deren Mitglieder als Teil ihres Parteilebens in Bewegungen aktiv sind, die eigene kommunalpolitische Anliegen durch außerparlamentarische Initiativen ergänzt und die eine zuspitzende Öffentlichkeitsarbeit macht. Aber ganz sicher ist das nicht die Regel.

Wir müssen systematisch daran arbeiten, den isolierenden Ring zu sprengen, der unsere Partei umgibt, und der uns von denen trennt, für und mit denen wir politisch arbeiten wollen. Der Ring nährt sich aus verschiedenen Quellen, aus den Angriffen und Verleumdungen unserer Gegner, aus Vorurteilen, aus unseren eigenen Fehlern, teilweise aus einer Nicht-Erlebbarkeit unserer Partei, aus eigener Tatenlosigkeit, manchmal aus Sektierertum und Opportunismus, zuweilen durch unsere Zerstrittenheit: Dafür brauchen wir eine gemeinsame Auswertung dessen, was gut läuft und was schlecht läuft. Wir müssen uns dringend eingehender mit Leuchttürmen der Parteientwicklung und mit Gliederungen beschäftigen, in denen die Partei stagniert oder besonders an Rückhalt verliert. Was tun Kreis- oder Landesverbände, in denen ein aktives Mitgliederleben entsteht, ein Mitgliederplus entsteht und im mittellangen Blick zurück sich auch die Wahlergebnisse gut entwickelt haben? 

Wir brauchen außerdem dringend einen Ostratschlag, in dem in erster Linie ostdeutsche Genoss*innen mit dem Parteivorstand darüber beraten, wie eine Wende in der Mitgliederentwicklung, eine Wiederbelebung des Parteilebens möglich wäre. Und wir brauchen eine Task-Force NRW, die daran mitwirkt, den Landesverband im bevölkerungsstärksten Bundesland zu stabilisieren und aufzubauen.

Wir sollten mit konkreter Solidaritätsarbeit experimentieren, wie sie etwa von der belgischen Arbeiter*innenpartei (PTB) oder der KPÖ Graz vorgemacht wird. Menschen erleben ihren Alltag oft vereinzelt und in Wettbewerb zueinander, insbesondere die ärmeren Schichten sind damit beschäftigt, „über die Runden zu kommen“. Lohnend wäre es, die eigenen Erfahrungen der LINKEN mit konkreter Solidaritätsarbeit aufzubereiten – und zu überlegen, was von der „Kümmererpartei PDS“ gelernt werden kann. 

Drittens haben wir eine Krise der Führung und Vertretung unserer Partei. In einer demokratischen Partei sollten die Mitglieder darüber entscheiden, was die Partei tut, indem sie an der Willensbildung teilnehmen. Parteitage legen die Ausrichtung und Marschrichtung fest, die Parteiführung muss diese im Alltagsgeschäft umsetzen, die Parlamentsfraktionen sollten Sprachrohre sein. Aber zwischen der Mehrheit unserer Bundestagsfraktion und der Mehrheit des Parteivorstandes (und nachweislich: der Partei) ist ein tiefer Vertrauensbruch entstanden. Gemeinsame Politik wird nicht entwickelt. Einladungen und Aufforderungen des Parteivorstandes an die Fraktionsvorsitzenden, in einer gemeinsamen Klausur die politische und strategische Ausrichtung zu entwickeln, wurden nicht beantwortet. Kurz: Die Bundestagsfraktion ist zu wenig Sprachrohr der Partei, zu sehr ist sie sogar gelegentliche Opposition gegen sie. Wir müssen die Opposition der Bundestagsfraktion, ihre Verselbständigung gegenüber dem Parteivorstand beenden.

Das bedeutet, dass die Partei in den nächsten vier Jahren zweigleisig vorgehen muss. Wir müssen in der Partei beraten, welches Verhältnis wir zwischen Fraktionen und Vorständen wollen und auf der Grundlage dieser gemeinsamen Beratung in vier Jahren neue Wahllisten in den einzelnen Ländern aufstellen (Gleis 1). Im Rahmen des zu wahrenden innerparteilichen Pluralismus brauchen wir Kandidat*innen, die ihre eigene Meinung nicht herunterschlucken, aber bereit sind, Mehrheitsentscheidungen der Partei zu akzeptieren und zur Basis ihrer Parlamentsarbeit zu machen. In der Zwischenzeit darf der Streit in der Öffentlichkeit nicht weiter eskalieren. Da es aber kaum Bereitschaft der Fraktionsführung gibt, die eigene Politik im Rahmen der Parteivorstandsentscheidungen zu entwickeln, wird es kein Ende der öffentlichen Reibungen geben. In den kommenden vier Jahren den Streit zwischen Bundestagsfraktion und Parteiführung öffentlich weiterzuführen ist aber kein gangbarer Weg. Das würde das Bild einer handlungsunfähigen und zerstrittenen Partei in der Öffentlichkeit zementieren, ohne zu einer Auflösung der Frontstellung beizutragen. Daraus entstünde kein Rücken-, sondern Gegenwind für die Erneuerung unserer Partei. Sinnvoll ist es deshalb, die Zeit zu nutzen, um der Partei eine gemeinsame Handlungsperspektive zu geben, also ein verbindendes politisches Projekt zu entwickeln , das auch in Kampagnen übersetzt wird und das ich im Folgenden ausführlicher darstellen werde (Gleis 2). Dafür muss der Parteivorstand stärker als bisher Initiativen ergreifen und „Gesichter der Partei“ in der Öffentlichkeit ausbilden. Dazu gehört durchaus auch, dass Alleingänge aus der Bundestagsfraktion zurückgewiesen und parteiintern diskutiert werden.

Strategische Entscheidungen: für eine linkssozialistische Partei

Wenn wir als Partei in Zukunft eine Rolle spielen möchten, müssen wir unser Profil als linkssozialistische Kraft schärfen. Wir wollen eine Partei sein, die gesellschaftliche Opposition stärkt und den Widerstand organisiert; eine Partei, die den demokratischen Sozialismus anstrebt und die eigene Tagespolitik als Weg dorthin begreift. Eine Partei, die deshalb auch – im Dialog und im Bündnis mit Bewegungen, Gewerkschaften, Basisinitiativen – im Hier und Jetzt gestalten will. „Die LINKE könnte diese eindeutig sozialistische Partei sein, die einerseits die Krisen beschreiben und verstehen kann. Und die anderseits mit einer Idee der Veränderung und Transformation auch dazu imstande ist, Hoffnung zu wecken. Die Partei, die die Alltagssorgen begreift und dabei den Horizont nicht aus dem Blickfeld verliert.“ (Ypsilanti 2021
Das wird nicht gehen, wenn wir als Ziel ausgeben, „die Mehrheit der Lohnabhängigen“ zu gewinnen, deren „breitgeteilte Interessen“ wir vertreten. Das wäre vielleicht schön, ist aber unrealistisch, und es führt zu falschen Akzentsetzungen in der Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit. Dasselbe gilt für die Idee, wir müssten insbesondere das untere Drittel der Gesellschaft ansprechen. Beide Vorschläge verkennen nicht, dass es immense ideologische und politische Unterschiede in allen Schichten der Arbeiter*innen- und Mittelklasse gibt. Im Gegenteil, Genoss*innen, die diese Vorschläge machen, sind häufig der Meinung, dass gerade die Sozialpolitik dazu in der Lage ist, die Leute über diese Unterschiede hinweg zusammenzubringen. Viele sehen jedoch andere Themen  als potenzielle Störgrößen, die Unterschiede verstärken. In besonders rückschrittlichen Versionen dieser Vorschläge wird dann auch harte Kante gegen fortschrittliche soziale Bewegungen gezeigt. Diese Strategie setzt voraus, dass nur die soziale Frage wahlentscheidend ist oder bestimmt, an welcher Partei sich Menschen orientieren, welche sie unterstützen. Dem ist aber nicht so. 

Eine soziale Koalition aus Deklassierten, Arbeitnehmer*innenmitte und Hochqualifizierten schaffen

Natürlich müssen wir die Interessen der unteren Klassen vertreten. Wissenschaftlich solide Untersuchungen legen nahe, dass es insbesondere drei Milieus innerhalb der Arbeiter*innen- und Mittelklasse sind, die für uns offen sind: Erstens, das Milieu der eher angelernten, oft prekär lebenden Arbeiter*innen. Hier dominiert das Begehren nach sozialem Schutz, außerdem ist das Gefühl politischer Ohnmacht verbreitet. Das zweite uns gegenüber prinzipiell aufgeschlossene Milieu ist das der fortschrittlichen Arbeitnehmermitte. Hierzu werden eher gut qualifizierte Arbeiter*innen und Angestellte gezählt. Den wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge steht den Menschen in diesem Milieu der Sinn nach sozialer Gerechtigkeit, aber auch nach Mitbestimmung und Demokratie. Sie sind offen gegenüber Umweltschutz und Geschlechtergerechtigkeit. Offen für unsere Politik ist schließlich drittens das Milieu akademisch qualifizierter Lohnabhängiger, das zunehmend an Bedeutung gewinnt, weil die Zahl der Abiturient*innen und Studierenden enorm gestiegen ist. Hier ist die Übereinstimmung mit den linkssozialistischen Elementen unseres Programms besonders groß. 

Um die Angelernten und Prekären konkurrieren wir insbesondere mit der AfD, um die fortschrittliche Arbeitnehmermitte vor allem mit der SPD (aber auch ein wenig mit den Grünen), um die fortschrittlichen Hochqualifizierten insbesondere mit den Grünen (aber auch mit der SPD). Wir sollten versuchen, alle diese drei Klassenmilieus für uns zu gewinnen, um ausreichend Anziehungskraft zu entwickeln. Dann ist es auch möglich, um Schwankende und Unentschiedene zu kämpfen.

Die Neugründung des Sozialstaats: Ein verbindendes Projekt

Gemeinsam ist allen drei Klassenmilieus ein Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit und nach einem starken Sozialstaat. Aus diversen Studien wissen wir außerdem, dass das Gefühl, in der Bundesrepublik würden sich eher die Interessen von Reichen und Konzernen durchsetzen als die der gewöhnlichen Leute, weit verbreitet ist. Nur wenige glauben, dass unsere Demokratie reine Fassade sei, aber viele meinen, dass Unternehmen und Vermögende „den Ton angeben“.

Ein zentrales politisches Projekt, dass wir in das Zentrum unserer politischen Erzählung rücken, sollte deshalb die Neugründung unseres Sozialstaates sein – eines Sozialstaates, der Ungleichheit abbauen, Freiheit fördern und das Lebensglück maximieren soll. Da der Sozialstaat das Ergebnis von Klassenauseinandersetzungen ist, muss das Herzstück linker Sozialstaatspolitik deshalb sein, die Macht der abhängig Beschäftigten zu vergrößern, um die der Unternehmen zu verringern. Unser politisches Projekt darf dabei nicht nur ein „anti-neoliberales Zurück“ sein, sondern muss ein offensiver Vorschlag zur Neugründung des Sozialstaates sein. Diese Neugründung wäre auch ein Zwischenschritt auf dem demokratischen Weg zum Sozialismus und in unserer Öffentlichkeitsarbeit auf jeden Fall als „Bruch“ oder „Zäsur“ gegenüber dem Vorherigen anzulegen.

Um den Charakter des neuen Sozialstaates zu verdeutlichen sind drei Ergänzungen unserer „Sozialstaatserzählung“ wichtig:

Der Sozialstaat der Zukunft muss Klimaschutzstaat sein. In der heutigen Zeit, in der die Klimakatastrophe keine abstrakte Möglichkeit mehr ist, sondern greifbarer wird, muss die Neugründung des Sozialstaates mit stärkeren ökologischen Zielsetzungen verbunden werden. „Angesichts der Folgen des Klimawandels für „die da unten“ ist es ein soziales Thema per se.“ (Händel 2021) Der Sozialstaat muss einen Schutzschirm für die Beschäftigten schaffen und ein Motor für den Umbau der Wirtschaft sein – wer fordert, dass massiv in klimafreundliche Bereiche investiert wird, die den Menschen nützen wie etwa Pflege, Bildung oder Nahverkehr, fordert faktisch den staatlichen Ausbau einer Gemeinwohlökonomie.

Der Sozialstaat soll die Freiheit der Menschen fördern. Ich kann „frei von“ etwas, und „frei zu“ etwas sein. Der Sozialstaat soll beides leisten, die Freiheit von sozialen Nöten vergrößern, zudem aber die „Freiheit zu“ stärken. In diesem Sinne soll der Sozialstaat „Freiheitsgüter“[1] zur Verfügung stellen, die die Entfaltungsmöglichkeiten der Einzelnen fördern: Dabei kann es um die Freiheit der Bewegung gehen (indem wir Mobilität durch ausgebauten Nahverkehr und gute Straßen fördern), um Bildung (indem wir gleiche Entwicklungsmöglichkeiten durch ein gutes Schulsystem fördern) oder gute Renten. 

Der Sozialstaat kann die Macht der abhängig Beschäftigten stärken – oder die Macht der Unternehmer*innen. Wenn der Staat Leiharbeit und Befristungen fördert, macht er Beschäftigte verletzlicher. Er stärkt die Macht des Kapitals. Gelingt es uns, die Mitbestimmung zu stärken, dann stärkt das die Macht der Beschäftigten. Um Freiheit und Lebensglück für die Mehrheit und mehr Gleichheit zu erreichen, ist die Stärkung von Lohnabhängigenmacht gegen die Macht der Lobbys und Konzerne entscheidend. 

Der Kampf für eine solche Neugründung könnte nicht nur verschiedenen Teilen der Partei ein gemeinsames Projekt bieten, sondern auch die drei Klassenmilieus, die wir für uns gewinnen wollen, ansprechen und möglicherweise verbinden. Die Strategie, soziale, demokratische und ökologische Forderungen miteinander zu einer Kette zu verbinden, sollten wir deshalb konsequenter verfolgen als es in Wahlkämpfen bisher der Fall war. Denn Harald Wolf hat recht, wenn er bemerkt, dass unser erarbeitetes programmatisches Selbstverständnis eines Ökosozialismus „trotzdem nicht profibestimmend für die Partei und ihr öffentliches Erscheinungsbild“ (Wolf 2021, 2-6) waren.

Fähig werden, im Konflikt zu regieren

Die LINKE muss Widerstands- und Oppositionspartei sein, nicht allein, um Verschlechterungen zu verhindern, sondern auch, damit Lust und Energie für einen wirklichen politischen Aufbruch entstehen. Aber wir brauchen auch eine echte Machtoption, und das heißt: Wir müssen deutlich machen, dass wir dieses Land regieren wollen. Das Ziel einer linken Regierung, einer Regierung der Solidarität, muss Teil unserer Erneuerung sein.

Das gilt jedenfalls so lange kein neuer Sozialkahlschlag gemacht wird: Warum sollten uns Menschen wählen, wenn nicht zumindest die theoretische Möglichkeit besteht, dass ihre Anliegen auch in einer Regierung umgesetzt werden? Sie dürften dann eher beim Spatz in der Hand bleiben, also weiterhin SPD oder Grüne wählen. Oder sie werden weiterhin gar nicht zur Wahl gehen.

Die Bundestagswahl hat zwei Dinge sehr deutlich gezeigt. Eine zu starke Anbiederung an SPD und Grüne funktioniert nicht, weil die LINKE dann nicht mehr deutlich machen kann, weshalb uns Menschen, die Veränderung wollen, wählen sollten. Zu viel Harmonie lässt leicht den Eindruck entstehen, die Unterschiede seien nicht so groß. Aber genauso verkehrt ist die von anderen Teilen der Partei vertretene Haltung, die LINKE dürfe nicht regieren, müsse Oppositionspartei bleiben. Menschen, die einen Regierungswechsel wollen, wählen dann diejenigen, die den auch garantieren. Zwischen beiden Extremen, die beide dazu beitragen, die Wähler*innen von uns wegzumobilisieren, müssen wir einen realistischen Weg finden.

Im realistischen Szenario zeigen wir Regierungswillen und das auf offensive Art und Weise und nicht in der „Wenns-denn-sein-muss-„Version. Wir verbinden diesen Anspruch aber klar mit politischen Wendepunkten, durch die das Leben unserer Anhänger*innen wirklich verbessert würde. Nur wenn diese Wendepunkte in einer Regierung umsetzbar sind, sind wir bereit zu regieren. „Drunter machen wir es nicht“ (Gohlke/Müller/Seppelt 2021). Der Spagat besteht dabei darin, dass wir uns weder zum Steigbügelhalter für SPD und Grüne degradieren dürfen nach dem Motto „wenn SPD und Grüne ihr Programm umsetzen wollen, brauchen sie uns“, noch eine Regierungsbildung daran binden können, dass SPD und Grüne unser gesamtes Programm übernehmen. 

Regierungsfähig zu werden bedeutet vor allen Dingen, die Bedingungen dafür zu schaffen, auch gegen Angriffe und Gegenwehr zu bestehen. Dafür brauchen wir natürlich konkrete Reformprogramme, die wir umsetzen wollen, etwa im Sinne der oben beworbenen Idee einer Neugründung des Sozialstaates. 

Ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, ist aber die Fähigkeit der Partei, Konflikte zu organisieren und auch durchzustehen – sowohl als Partei in der Regierung, als auch gleichzeitig in den Parlamenten und in der Gesellschaft. 

Dafür braucht es eine Art „Plan to win“, einen eigenen Schlachtplan, der den erwartbaren Gegenwind der Rechten und Unternehmensverbände einkalkuliert. 

Wir brauchen ein entwickeltes Netzwerk zwischen der Partei, Teilen der Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen, mit dessen Hilfe nicht nur gemeinsam für Reformen gekämpft werden kann, sondern durch das unsere Bündnispartner*innen auf die regierende LINKE auch Druck ausüben können. 

Und wir brauchen Personal, das nicht nur fachpolitisches Wissen, sondern auch strategische Kompetenzen und Konfliktfähigkeit erworben hat, um in einer Regierung ein rebellischer Garant sozialer und ökologischer Fortschritte zu sein.

Unsere Zukunft ist offen, unsere Probleme beinhalten auch Chancen. Um sie zu nutzen, müssen wir über die Schützengräben der Strömungen, die Animositäten der Netzwerke und die Beharrungskräfte der eingeschliffenen Gewohnheiten hinweg miteinander um unseren gemeinsamen Weg ringen. In diesem Sinne: „Bewegt euch, denn wir brauchen eure ganze Begeisterung. Organisiert euch, denn wir brauchen eure ganze Kraft.“ (Antonio Gramsci)