Die »autogerechte Stadt« ist eine Untote. Als Leitbild ist sie beerdigt, als gesellschaftliche Realität jedoch quicklebendig. Alle, die Alltagswege zu Fuß oder per Fahrrad zurücklegen, können ein Lied von den Zumutungen singen: zugeparkte Wege, Angst vor Lastwagen, Rasern und bedrohlicher Enge, Ärger über Wartezeiten an lauten und stinkenden Straßen. Stress und Streit sind keine Seltenheit. Wer kennt nicht das Gefühl, als Fußgänger ausgebremst zu werden, als Radfahrerin ihr Leben zu riskieren, als Mensch an den Rand gedrängt zu sein? Wer nicht im Auto sitzt, ist auf der Straße Einwohner*in zweiter Klasse. Eine Klassenfrage der anderen Art? Nicht ganz, denn wer wenig Einkommen hat, hat auch wenig Auto: Fast die Hälfte aller Haushalte, die zu den 20 Prozent der Ärmsten zählen, besitzt gar kein Auto. Bei den einkommensstarken oberen 40 Prozent leben weniger als 10 Prozent autofrei, aber etwa die Hälfte dieser Haushalte hat zwei oder sogar drei Autos (Nobis/Kuhnimhof 2019). Ärmere Menschen wohnen außerdem häufiger an vielbefahrenen Straßen, in Quartieren ohne Grünanlagen und in kleinen Wohnungen ohne Balkon. Sie sind umso mehr auf einen erholsamen öffentlichen Raum angewiesen. Die Last des motorisierten Individualverkehrs ist ungleich verteilt. Auch volkswirtschaftlich ist er ein Desaster: Jeder gefahrene Autokilometer verursacht »externe Kosten« von etwa 15 Cent. In der Summe sind das über 110 Milliarden Euro pro Jahr, die nicht von den Autofahrer*innen getragen werden, sondern von allen (Bieler/Sutter 2019). In den vergangenen 30 Jahren stiegen die Auto-Personenkilometer pro Jahr um etwa ein Drittel an (BMUB/Umweltbundesamt 2020). Und trotz Abgasbetrug hat der VW-Konzern auch 2018 wieder Milliardengewinne eingefahren.
Die Macht und die Gewohnheit
Jahrzehnte autogerechte Investitions- und Infrastrukturpolitik prägen das Antlitz unserer Städte und Landschaften. Trotz Club of Rome und Klimakonferenzen (die erste fand 1979 in Genf statt) wurde das Autobahnnetz seit 1990 um 2 100 Kilometer vergrößert, das Schienennetz jedoch um 6 500 Kilometer gekappt. Die Länder und Kommunen bauten seither über 250 000 Kilometer neue Straßen, ließen aber nur 5 000 Kilometer Bahngleise verlegen. Entsprechend schwoll der motorisierte Individualverkehr von 30 Millionen auf 41 Millionen Pkw an (2010) und erreichte 2019 die Rekordzahl von 47 Millionen. Diese »Stehzeuge« brauchen Parkplätze. Plätze, die keine Spielplätze, keine Sitzplätze, keine Baumplätze, keine Steh- und Gehplätze, keine Fahrrad(abstell)plätze und keine ÖPNV-Plätze sein können. Im Durchschnitt wird ein Auto aber nur etwas mehr als eine Stunde pro Tag als Transportmittel genutzt. Fast 23 Stunden steht es und blockiert Alternativen (Randelhoff 2016).
Das heutige Verkehrsrecht privilegiert den Autoverkehr. Die Grundlage dafür wurde schon Anfang des letzten Jahrhunderts mit dem »Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen« gelegt. Die Nationalsozialisten bauten es zur »Reichs-Straßenverkehrs-Ordnung« aus, welche in der BRD bis in die 1970er Jahre weitgehend gültig blieb. Eine Säule dieses Verkehrsunrechts ist die sogenannte Stellplatzverordnung. Mit der Reichsgaragenordnung wurde 1939 zu jeder neuen Wohnung eine Garage angeordnet. Heute ist dies Ländersache und die jeweilige Handhabung lässt tief blicken: Brandenburg hat die Verpflichtung zum Bau von Stellplätzen beispielsweise aufgehoben und überlässt die Regelung den Gemeinden. In manchen Städten wird die Zahl der Parkplätze nun gedeckelt, um den Verkehr zu verringern. Die Bayerische Bauordnung hingegen untersagt den Gemeinden eine Reduzierung, ermöglicht aber höhere Mindestvorgaben, sodass in Taufkirchen 2⅓ Stellplätze pro Wohnung ab 41 Quadratmeter erforderlich sind. Der Wunsch nach »Parken vor der Haustür« lässt oft alle anderen Bedürfnisse verschwinden. Auch die Gebührenordnung trägt zum Verkehrsunrecht bei: Bundesrecht begrenzt die Kosten eines Anwohnerparkausweises beispielsweise auf 30,70 Euro pro Jahr. Im Verhältnis zu Miet- und Bodenpreisen in Großstädten ist das lächerlich. Und während falsches Parken zwischen 10 und 20 Euro kostet, beträgt das Bußgeld im ÖPNV zwischen 60 bis 120 Euro.
Ein zweites Standbein der herrschenden Verkehrsordnung ist das Prinzip einer »Flüssigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs« – gemeint ist selbstverständlich nur der Autoverkehr. Zusätzliche Fußwege, Verkehrsberuhigung oder fahrradfreundliche Ampelschaltungen scheitern häufig nicht nur an der Borniertheit von Gemeinderäten und Stadtverwaltungen, sondern auch an den Klagen autoverliebter Anwohner*innen, oft pensionierter Jurist*innen, die sich auf dieses Prinzip berufen. Die Straßenverkehrsordnung (StVO), die der Maxime einer autogerechten Stadt folgt, muss deshalb durch eine neue »Straßennutzungsordnung« ersetzt werden.
Neustart nötig: für ein sozial-ökologisches Straßennutzungsrecht
Die Prioritäten müssen sich grundlegend ändern: Mobilität für alle, Barrierefreiheit, Umwelt- und Klimaschutz, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit aller Bewohner*innen. Die Nutzung der öffentlichen Straßenräume muss von den Füßen aus völlig neu gedacht und unter Beteiligung aller relevanten Akteure aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft neu gemacht werden. Die Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE (2019) hat dazu ein Positionspapier verfasst, in dem eine Reihe konkreter Forderungen genannt wird.
Damit es schnell gerechter zugeht, sind Veränderungen an einigen Knackpunkten besonders dringend:
- Die Kommune ist kein Abstellplatz für Autos! Damit Spielraum für alle entsteht, sollen Autos nur dort abgestellt werden können, wo Parkplätze ausgewiesen sind. So werden Quartiere autofreier und der Weg zur Haltestelle oder zum (kommunalen) Car-Sharing-Stellplatz wird reizvoll. Derzeit ist die Umwidmung von Parkplatzflächen in andere Nutzungsformen für Kommunen mit viel bürokratischem Aufwand verbunden. Das muss geändert werden, damit zu schmale Geh- oder Radwege ausgeweitet, Bänke aufgestellt, oder Bäume gepflanzt werden können, und damit freier Raum für Veranstaltungen nutzbar wird. Fuß- und Radverkehrsanlagen müssen Vorrang haben vor Kfz-Stellplätzen, und Parkraumbewirtschaftung muss auch zur Verkehrssteuerung erlaubt werden. Niemand sollte mit dem Auto in die Stadt fahren, weil das Parken preiswerter ist als das Busticket. Und Anwohnerparken sollte in der Regel nicht billiger sein, als ein ÖPNV-Jahresabo. Insgesamt geht es darum, die Masse der Autos zu reduzieren. Wenn ein gutes ÖPNV-Angebot besteht, sollten Kommunen die Möglichkeit haben, Zulassungen und Fahrerlaubnisse zu reglementieren. Nur aus guten Gründen ist ein privates Auto vonnöten; dagegen sind städtische Car-Sharing-Pools in den Quartieren sinnvoll und gerecht. Auch der Lieferverkehr muss eingeschränkt und koordiniert werden.
- Mehr Bewegungsfreiheit für Fuß und Fahrrad Sichere Radwege und Schutzstreifen, fahrradfreundliche Ampelschaltungen und ausreichend gesicherte Abstellanlagen sollten selbstverständlich sein. Erst wenn die 80-jährige Oma und das achtjährige Kind ohne Angst mit dem Fahrrad unterwegs sein können, ist es gut. Dasselbe gilt für Fußwege, die barrierefrei sein müssen und auch für Menschen im Rollstuhl, am Rollator oder für Blinde geeignet. Und: Das Überqueren von Fahrbahnen muss erleichtert werden, damit wir gehen statt stehen.
- Runter vom Gas! Tempo 30 als Basisgeschwindigkeit bringt schnell ein paar Vorteile: weniger Lärm- und Abgasemissionen, der Verkehrsfluss wird langsamer, gleichmäßiger und braucht weniger breite Fahrspuren. Außerdem sinkt die Gefahr tödlicher Verletzungen bei Unfällen erheblich.
- Gerechte Strafen Wichtig sind höhere Bußgelder für Parksünder*innen (am besten abhängig vom Einkommen), nur so lohnen sich Kontrollen und der Verwaltungsaufwand für die Kommunen. Falsch parkende Fahrzeuge sollten leichter abgeschleppt werden können, Geschwindigkeitskontrollen müssen zur Routine gehören. Und damit sich Leute mit dickem Geldbeutel nicht »freikaufen«, soll die Fahrerlaubnis leichter und gerne auch mal für zwei Wochen entzogen werden können. Je größer die Gefährdung anderer ist, desto härter sollte die Strafe sein.
Die herrschende Verkehrspolitik bleibt autofixiert
Die gerade erfolgte Änderung der StVO zum 1. Januar 2020 nimmt sich dagegen recht kümmerlich aus. Halteverbote und höhere Bußgelder für Pkw oder Lkw auf Fahrradwegen sind überfällige Anpassungen. Im Gegenzug hat der Verkehrsminister jedoch durchgesetzt, dass Autos ab drei Insassen auf reservierten Busspuren fahren dürfen. Und: Ungebremst lassen GroKo und Bundesregierung jedes Jahr Milliarden Euro in den Aus- und Neubau von Bundesstraßen fließen. Allen Klimazielen zum Trotz gilt der »Finanzierungskreislauf Straße«, der die Einnahmen aus der Lkw-Maut dem Straßenbau zukommen lässt –, obwohl dringend viel mehr Geld für den Ausbau von Bahn und Bus benötigt wird. Keine der milliardenschweren Subventionen für den motorisierten Individualverkehr wird angetastet. Im Gegenteil: Die »Elektrifizierung der Straße« soll die Autogesellschaft fortschreiben, auch wenn die profitträchtigen SUV-Offensiven der Autokonzerne sich erschöpft haben (vgl. Wolf in diesem Heft). Dabei betrachteten schon 2014 über 80 Prozent der Bevölkerung die Abkehr vom Auto und die Stärkung des öffentlichen Nah- und Fahrradverkehrs sowie attraktiver Fußwege als einen positiven Beitrag zur Lebensqualität (BMUB/Umweltbundesamt 2015, 12 u. 34f.).
Es geht auch anders
Auch der Kommunalverband Deutscher Städtetag hat das realisiert und will weg von der »autogerechten Stadt« (Deutscher Städtetag 2018). In einem Positionspapier mit der Überschrift »Was wir bis 2030 erreichen wollen« skizziert er ein Szenario, in dem die Verkehrsflächen zugunsten von Fuß- und Radverkehr gerechter aufgeteilt werden. Ein regional übergreifendes Ticket für alle öffentlichen Verkehrsmittel ist vorgesehen, und der Individualverkehr in den Ballungsräumen soll überwiegend auf Sharing-Angeboten basieren. Es geht um integrierte Verkehrskonzepte und darum, Verkehrswege nicht mehr nur für Autos, sondern für Menschen zu gestalten. Klingt gut und funktioniert: Wien, Oslo, Gent, und Kopenhagen sind hier Vorreiter: Wien hat mit der Beseitigung von Parkplätzen mehr Raum für alle geschaffen und das 365-Euro-Jahresticket für den ÖPNV erfunden. Oslo will ab 2019 die gesamte Innenstadt für den Automobilverkehr sperren und Barcelona führt sogenannte Super-Blocks ein (vgl. S 92 in diesem Heft). In der belgischen Stadt Gent ist die autorfreie Innenstadt schon seit dem Frühjahr 2017 Realität. Einige Straßen dürfen dort lediglich Anwohner*innen und Handwerker*innen noch mit dem Auto befahren, andere sind nur noch für Rettungsdienste und Taxen freigegeben. Lastenräder, auch für kleinere Lieferungen und von Handwerker*innen genutzt, boomen (vgl. Behrensen in diesem Heft) und das Leben auf der Straße wird ruhiger, sauberer und geselliger. Die Wortschöpfung Kopenhagenisierung versinnbildlicht diese Entwicklung. In Kopenhagen wird mittlerweile fast die Hälfte aller Wege mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurückgelegt (City of Copenhagen 2017).
Changing Cities – Bewegung gegen betonierte Verkehrsverhältnisse
Auch hierzulande beginnt sich der Wind zu drehen. 2016 spielte das Fahrradvolksbegehren Berlin einen Ball ins Feld: Die zehn Ziele für ein Radgesetz hatten nach kurzer Zeit über 100 000 Unterstützungsunterschriften (vgl. Petri in diesem Heft). Im Berliner Landtagswahlkampf 2016 war Radverkehr eines der wichtigen Themen. Die amtierende Große Koalition verfehlte die absolute Mehrheit. Und die neue rot-rot-grüne Landesregierung verpflichtete sich, die Ziele des Volksentscheids in ein Mobilitätsgesetz zu gießen. Es soll die Bedingungen für den Rad- und Fußverkehr sowie für den ÖPNV systematisch verbessern. Der Berliner Erfolg ermutigte Bürger*innen in ganz Deutschland, weitere lokale Initiativen zu starten. In Aachen, Bamberg, Bielefeld, Brandenburg, Bremen, Darmstadt, Frankfurt am Main, Hamburg, Kassel, München, Regensburg, Rostock, Stuttgart, Tübingen, Würzburg und im Bundesland Nordrhein-Westfalen wurde oder wird ein Radentscheid durchgeführt – unterstützt von dem gemeinnützigen Verein Changing Cities. Dieser Druck von der Straße hat auch den etwas eingerosteten Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) wieder aktiviert.
Die Massendemonstrationen gegen den zur Schau gestellten Autowahn bei der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt am Main haben im vergangenen Jahr ein wichtiges Signal gesetzt: »Verkehrswende jetzt!« oder »Nieder mit der Autokratie!« waren Losungen, mit denen die 25 000 Teilnehmer*innen eine ganz andere Verkehrspolitik forderten. Die Verbände ADFC, BUND, Campact, Deutsche Umwelthilfe, Greenpeace, die NaturFreunde Deutschlands und der Verkehrsclub Deutschland waren mit der Sternfahrt #aussteigen ebenso Teil der Protestchoreografie wie die Blockaden von »Sand im Getriebe« oder das Perspektiven-Forum von Attac. Der Brückenschlag zur Bewegung für Klimagerechtigkeit hat eine neue Politisierung gebracht. Die Frage der Organisation von Verkehr und Mobilität wurde aus dem Randbereich öffentlicher Aufmerksamkeit geholt und aus der vermeintlichen »Naturgesetzlichkeit« ist endlich ein gesellschaftliches Kampffeld entstanden.
Auch in die Gewerkschaften hinein wirkt der Fridays-for-Future-Impuls. In DGB-Kreisen werden ÖPNV-Konzepte entwickelt, die IG Metall diskutiert Transformationsperspektiven, die EVG startete die Offensive »Bahnretter*in« und ver.di bereitet Streiks und Bündnisse für eine bessere Ausstattung des ÖPNV und für bessere Arbeitsbedingungen der dort Beschäftigten vor (vgl. Kaya & Zschiesche in diesem Heft).
Die Umweltbewusstseinsstudie 2018 fördert Beachtliches zutage: Mit Blick auf die Entwicklung des Verkehrs wollen 50 Prozent der Befragten vor allem, dass Umwelt und Klima möglichst wenig belastet werden, 40 Prozent wünschen sich, dass alle Menschen ihre Wege im Alltag bequem und kostengünstig zurücklegen können und nur 10 Prozent gewichten den Erfolg der deutschen Wirtschaft am höchsten. Dabei ist die große Mehrheit der Befragten (89 Prozent) der Meinung, dass die aktuelle Verkehrspolitik sich vor allem an den Interessen der Wirtschaft orientiert (BMU/Umweltbundesamt 2018).
Bei Verkehrspolitik steht die ganze Vielfalt der sozialen Frage auf der Agenda: Verteilungs- und Geschlechtergerechtigkeit, Teilhabe, Arbeitsbedingungen, Produktionsverhältnisse, Lebensweisen und auch die Alltagskultur. Eine neue Straßennutzungsordnung muss daher den jeweiligen Regierungen in Bund und Ländern abgerungen werden, den Boden dafür können wir in jeder Kommune bereiten, indem wir für Alternativen kämpfen: Mobilität und Versorgung für alle mit weniger Verkehr.
Wir sollten den Mut und die Hoffnung für eine andere Verkehrsordnung genauso schüren wie die für eine andere Gesellschaftsordnung. Die Straßen und öffentlichen Plätze können demokratisiert werden, statt sie alten oder neuen Wachstumsstrategien der digitalisierten Wirtschaft anheimzugeben. Autokonzerne können vergesellschaftet werden, sodass die dort Beschäftigten sozial-ökologisch sinnvolle Fahrzeuge und Logistiksysteme bauen, statt SUV-Offensiven voranzubringen (vgl. Eckardt u. a. in diesem Heft). Arbeitszeiten können kürzer sein und Wege sowieso. Für eine überzeugende Verkehrswendepolitik ist eine radikale Transformationsperspektive nötig.