Nach Hannah Arendt besteht das »Wunder der Freiheit« darin, dass Menschen Prozesse unterbrechen und einen Neuanfang machen. Die Enquetekommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität«1 hat den entscheidenden Schritt der Freiheit nicht getan: Sie hat Wachstum als materielles und metaphysisches Organisationsprinzip für die Ökonomie und die Naturverhältnisse unserer Gesellschaft nicht in Frage gestellt. Sie hat Wohlstand und Lebensqualität nicht von Wachstum entkoppelt und nicht den Tunnelblick des herrschenden Wohlstandsmodells geöffnet. Als Quellen von Wohlstand gelten einzig die Arbeit des homo oeconomicus, verkörpert im erwerbstätigen Mann, der seinen individuellen Nutzen auf dem Markt maximiert, und die Naturbeherrschung, die optimale, auch imperiale Natur- und Ressourcenausbeutung voraussetzt. Wohlstand wird primär in Güterreichtum und materieller Fülle gemessen.

Die Kommission bestätigt damit Wohlstand und Lebensqualität als Konsequenzen von Ökonomisierung und Wachstum, auch wenn sie eine Reduktion des Ressourcenverbrauchs fordert. Für Gegenwart und Zukunft nimmt sie billigend in Kauf, dass die Ökonomisierung und die Logik des Return on Investment zunehmend auf bislang außermarktliche Bereiche des Lebens zugreift: auf das Soziale, das Öffentliche, die soziale Reproduktion ebenso wie die Natur und die natürliche Regeneration. Sie durchdringt diese Bereiche desintegrierend, ungerecht, krisenhaft und letztlich zerstörerisch. In diesem unkritischen Bezug verharmlost die Kommission den systemischen Charakter der Vielfachkrise wie auch die Vielfachgrenzen des Wachstums.

In der Vielfachkrise geht es nicht um Wohlstandsperspektiven für den »Notfall« stagnierender oder sinkender Wachstumsraten. Vielmehr ist ein Perspektivwechsel notwendig, ein geplanter und gezielter Bruch mit dem BIP als zentralem Wohlstandsindikator. Der Wachstums- und Akkumulationslogik ist eine andere Vernunft entgegenzusetzen, um aus dieser heraus andere Qualitäten von Wohlstand und Leben zu schaffen. Das wäre Unterbrechung im Arendtschen Sinne oder der Beginn einer Transformation, die aus der Armut an Visionen herausführt, wie sie durch die zunehmende Komplexität und erdrückende Übermacht des neoliberal-kapitalistischen Fortschrittsmodells entstanden ist.

Feministische Perspektiven: Die Rationalität der Sorge

Die Vielfachkrise seit 2007 hat eine dritte Welle der Wachstumskritik ausgelöst – nach dem Aufschlag in den 1970er Jahren durch den Club of Rome und den 1980er und 1990er Jahren im Kontext von Tschernobyl sowie neokolonialer Ausbeutung und Strukturanpassungszwang im globalen Süden. In der zweiten Welle hatten Feministinnen mit ihrer Kritik an Technologie und Machbarkeitsideologie, mit der Subsistenzorientierung sowie der Konsumverzichts- bzw. Konsumbefreiungsdebatte eine prominente Rolle eingenommen. Sie verknüpften Herrschaftskritik mit praktischen Alternativen im Norden wie im Süden. Dagegen fällt in der aktuellen dritten Welle eine erneute Abspaltung und Ignoranz gegenüber feministischen Perspektiven auf. In der Enquetekommission blieben feministische Positionen zunächst völlig ausgeschlossen. Dann wurden sie gehört, aber durch fehlende Bezugnahme weiterhin ausgegrenzt.

Die Kommission zeigte sich gleichgültig gegenüber der Krise sozialer Reproduktion und der Art und Weise, wie diese Wohlstand beeinträchtigt – beides sind zentrale Achsen feministischer Kritik. Darin steckt eine zynische Banalisierung der Problemlagen und des Leidens am Wachstumsmodell. Diese spitzen sich zu in Symptomen wie Burnout als neuer »Volkskrankheit« oder der Endlosserie von Lebensmittelskandalen.

Feministische Wachstumskritik will neue Wohlstandsmodelle aus einer lebensweltlichen, herrschaftskritischen Perspektive heraus abstecken. Soziale Reproduktion und Regeneration der Natur sind dabei Ausgangspunkte, Wohlstand und Lebensqualität speisen sich aus einer Rationalität der Versorgung, der Fürsorge und Vorsorge. Wohlstand bedeutet zu allererst, Bedürfnisse zu befriedigen, Rechte einzulösen und Zugang und Kontrolle über Ressourcen nach der Maßgabe von Gleichheit und Gerechtigkeit zu sichern.

Derzeit bewegen sich internationale feministische Diskurse in einem Dreieck aus: 1) einer Umverteilung und Umbewertung von Arbeit, 2) der Sicherung des Öffentlichen und von Gemeingütern und 3) dem Ausstieg aus der Wachstumsspirale von Naturverbrauch, Produktion und Konsum. Die Eckpunkte – Sorgearbeit, das Öffentliche und das Genug – bieten zum einen Anknüpfungspunkte, aus denen sich in der aktuellen Vielfachkrise Richtungsforderungen ableiten lassen. Zum anderen sind sie Bezugshorizonte für Strate­gien des Übergangs, die mit der Funktions­logik von Wachstum und Renditemaximierung brechen.

Umbau- und Übergangsstrategien

Alternative Wohlstandsmodelle müssen einschließen, was bisher ausgeschlossen wurde, aber wesentlich zum sozialen Wohlergehen und individueller Lebensqualität beiträgt: nämlich das, was nicht durch die Prinzipien des Marktes und des homo oeconomicus bestimmt ist, die Produktivität der sozialen Reproduktion und aller Sorgearbeit sowie die Produktivität der Natur.

Die Krise der sozialen Reproduktion hat vielfältige Erscheinungsformen, die im öffentlichen Bewusstsein Wohlstand und Lebensqualität mindern: wachsende soziale Ungleichheit, Notstand der Altenpflege, fehlende KiTas, Unsicherheit der Renten, steigende Mieten, Burnout und Depressionen, Bildungs- und Beschäftigungskrise für Jugendliche, Nahrungsmittelskandale. All dies schafft im gelebten Alltag und im Alltagsverstand ein klares Bewusstsein darüber, dass die derzeitige Wachstumsökonomie auf Dauer kein gutes Leben und keinen sozialen Wohlstand im Sinne von existenzieller Sicherheit für alle hervorbringt. Für breite Bevölkerungsschichten sind Arbeit und Leben «entsichert«. Dabei sind die Fragen, wer sorgt für die Kinder, für die Kranken, die Alten, für gesundes Essen, für die Müllentsorgung, essenzielle Wohlstandsfragen. Wohlstand braucht bedürfnisorientierte Versorgung und Sicherheiten, die nicht an Effizienz- und Profitabilitätskriterien ausgerichtet und auch nicht dem spekulativen Kalkül von Derivaten oder Hedgefonds unterworfen werden.

Arbeit, Sorgen, Kümmern

Die Krise der sozialen Reproduktion ist nicht zu lösen ohne eine Umorganisation aller gesellschaftlich notwendigen Arbeit. Arbeit ist ein Kernbereich individueller und gesellschaftlicher Alltagspraxis, materielle Existenzsicherung und soziale Reproduktion im Austausch mit der Natur, aber auch Modus der Vergesellschaftung und der Subjektbildung, einschließlich der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten. Wie Arbeit definiert, geteilt und bewertet wird, unter welchen Umständen mit welchem Ziel und Sinn sie wo geleistet wird, ist maßgeblich für Wohlbefinden, Wohlstand und sozialen Zusammenhalt.

Für eine solche Reorganisation von Arbeit bedürfte es einer Neudefinition, die das Ganze der Arbeit umfasst: unbezahlte und bezahlte, marktförmige und versorgungsorientierte. Arbeit in der Haushalts- und Subsistenzökonomie, im Schrebergarten und der Gemeinde, jenseits des Geld- und Effizienzmaßes, alles, was soziale und natürliche Lebensgrundlagen und Umwelt produziert, erhält und reproduziert, ist als wert- und wohlstandsschöpfend zu betrachten. Die hierar­chische Dichotomie von Produktion und Reproduktion gilt es zu überwinden, zusammen mit den darin ein- und festgeschriebenen Geschlechterrollen und Hierarchien. Ein neues Verständnis von Beschäftigung schließt entsprechend Erwerbsarbeit genauso ein wie unbezahlte Sorgearbeit.

Ziel einer Um- oder Neuverteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit ist es, durch neue Gesellschafts- und Geschlechterverträge sowohl die Erwerbsarbeit als auch die Sorgeverantwortung gleicher und gerechter zu verteilen und Zeitwohlstand zu erlangen. Eine Verkürzung der wöchentlichen Erwerbsarbeitszeit ist eine Voraussetzung für die Umverteilung von Sorgearbeit und entspricht außerdem dem erreichten Produktivitätsniveau. Weniger Arbeitskräfte sind heute notwendig, um mehr Produkte und Dienstleistungen zu erzeugen. Teilzeiterwerbsarbeit und Teilzeitsorgearbeit für alle ergeben eine neue Vollzeitbeschäftigung und brechen die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung auf. Gezielte politische Steuerungsmaßnahmen zur Beseitigung von Frauendiskriminierung auf den Erwerbsmärkten und zur Gleichstellung von Männern bei der Sorgearbeit sind dafür unabdingbar. Auch muss der Staat Verantwortung für soziale Sicherheit und Reproduktion übernehmen und mit öffentlichen Mitteln eine Infrastruktur zur Daseinsvorsorge bereitstellen. Gleichzeitig sollte über ein bedingungsloses Grundeinkommen nachgedacht werden, das weder neoliberal gewendet werden noch die geschlechtshierarchische Zuweisung von Arbeit bestätigen darf.

Eine Neubewertung von Arbeit muss die wachsende Kluft zwischen unterbewerteter und überbewerteter Arbeit – Stichwort Boni für Banker und unterbezahlte KiTa-Beschäftigte – schließen. Gesellschaftliche Anerkennung von un- und unterbezahlter Sorgearbeit und ihre monetäre Aufwertung sind derzeit auch zentrale Forderungen von Frauenorganisationen im globalen Süden. Der Markt schätzt Sorgearbeiten gering, weil kaum eine Steigerung ihrer Produktivität und Effizienz möglich ist – das Füttern von Babys und Alten hat ein eigenes Tempo. Deshalb muss die Gesellschaft andere Wertmaßstäbe, nämlich politische, nicht-marktförmige Kriterien einführen. Das könnte ein Wert für soziale Reproduktion oder natürliche Regeneration sein, ein Gemeinwohl- oder Solidaritätsbonus. Eine Begrenzung der Einkommen von unten und von oben, d.h. Mindestlöhne für personennahe Dienstleistungen und Maxieinkommen für Manager durch Vermögens- und Reichensteuer. All das wären erste Schritte, um das gesamte Spektrum sozialer Ungleichheit in Bewegung zu bringen. Hinzu könnten vollwertige Anrechte auf soziale und Alterssicherung kommen, die aus unbezahlter Sorge- und Freiwilligenarbeit ableitbar sind.

Gemeinsam und öffentlich

Wohlstand wird in bürgerlichen Gesellschaften zu allererst über privaten Reichtum an Gütern und Geld definiert. Die Anhäufung privaten Wohlstands geht zunehmend auf Kosten des gesellschaftlichen Reichtums und des Gemeinwohls. Aktuelle Austeritätspolitiken verstetigen diese Ungleichheitsentwicklung. Der Megatrend der Privatisierung von Wohlstand, Verarmung des Gemeinschaftlichen und der Schrumpfung des Gemeinwohls muss unterbrochen werden, wenn Wohlstand und Lebensqualität nicht exklusiv sein sollen. Die Schwächsten in der Gesellschaft, die keine Rückfallpositionen haben, sind am stärksten auf sicheren Zugang zu öffentlicher Versorgung angewiesen, um ihre sozialen Rechte zu verwirklichen. Das Öffentliche ist ein kostbares Gut, das privatwirtschaftliche Interessen einhegt und begrenzt. Es folgt der Logik von Gemeinwohl und Ausgleich, die gegenläufig ist zur Logik von kapitalistischer Akkumulation und Konkurrenz.

Commoning, gemeinsames Definieren von Gemeingütern, demokratisches Aushandeln von Nutzungsregeln und deren selbstorganisierte Verwaltung brechen mit der Logik privater Wohlstandsanhäufung und des Privateigentums. Wo Wissen und Gesundheitsversorgung, gute Luft und Sportplätze, Transportmittel und Bibliotheken als demokratische Räume und kollektiver Reichtum definiert werden, setzen sich »Gemeinschaften« als politische Subjekte durch. Auch wenn Commons nicht automatisch Gleichheit, Gerechtigkeit und erst recht keinen Bruch mit Geschlechterhierarchien garantieren, so verspricht doch das Teilen von Ressourcen, Räumen und Gütern den Nutzen, dass mehr Menschen, vor allem Schwächere, demokratische Teilhabe und sozialen Ausgleich genießen können. Gemeineigentum verpflichtet.

Die Politik ist gefordert, die öffentliche Infrastruktur der Daseinsvorsorge zu erhalten und auszubauen, statt sie abzuspecken und Austerität als vermeintlichen Wachstumsmotor einzusetzen. Gleichzeitig muss sie demokratische Gestaltungsräume in Kommunen ermöglichen, wo kollektives Handeln und Solidarpakte z.B. in Form partizipativer Haushalte mit Gender-Budgets greifen können. Öffentliche und Gemeingüter sind vor Privatisierung und Finanzialisierung zu schützen, weil sonst private Kapitaleigner und die Spielregeln des Marktes über das Gemeinwohl, die Umsetzung von Menschenrechten und globalen sozialen Rechten entscheiden.

Ökonomie und Ökologie des Genug

Demokratische Gestaltungsräume sind auch notwendig, um auszuhandeln, was wachsen soll, was schrumpfen muss, wo zu viel und wo zu wenig ist. Das Maß, das Genug, muss neu bestimmt werden. Es muss soziale, ökonomische und ökologische Grenzen akzeptieren und private Aneignungs- und Akkumulationsinteressen konfrontieren. Der Effizienzlogik, die das Wachstum befeuert, muss eine Suffizienzlogik entgegengestellt werden. Ein Maßstab ist, dass soziale und ökologische Kosten, Risiken und Schäden der Produktion und des Konsums der globalen Mittelschichten nicht länger externalisiert und an die sozial Schwachen, den globalen Süden und die Natur verschoben werden. Bisher gilt der globale Süden als Reservoir billiger Ressourcen und Arbeitskräfte sowie als Senke für die Wohlstandsproduktion im Norden. Dies setzt das koloniale und imperiale Prinzip des Lebens auf Kosten anderer fort. Deshalb steht auch die Aufkündigung des neoliberalen und neokolonialen »Sozialpakts« an, nämlich die Kompensation von Reallohnsenkung im Norden durch Billigprodukte, die auf der Ausbeutung menschlicher und natürlicher Ressourcen im globalen Süden basieren.

Während Sektoren wie Daseinsvorsorge, Betreuung, Pflege und soziale Sicherheit, die derzeit schrumpfen, wachsen müssen, gilt es ressourcen-, energie- und emissionsintensive Überproduktionsindustrien im globalen Norden, z.B. die Autoindustrie, sozialverträglich zu schrumpfen und destruktive Industrien wie die Rüstungsindustrie zu konvertieren. Um die Verwertungslogik zu schwächen, ist ein Rückbau von Produktions-, Handels-, Finanz- und Konsumstrukturen notwendig mit dem doppelten Ziel, Naturverbrauch und CO2-Emissionen zu reduzieren und globale soziale Rechte einzulösen.

Gleichzeitig müssen Räume für solidarische Austausch- und Wirtschaftsformen und bedürfnisorientierte lokale und regionale Wirtschaftskreisläufe geöffnet und gefördert werden. Bedürfnisse nach der Rückgewinnung souveräner Produktion, z.B. Ernährungssouveränität, nach kollektivem Handeln und die Zurückweisung der Ökonomisierung und Industrialisierung aller Versorgung organisiert und artikuliert sich derzeit in Transition-Town-Konzepten, urbaner Landwirtschaft und neuen Schrebergartenkulturen.

Transitionen, Transformationen

Aus einer feministischen Perspektive müssen konkrete Übergangsstrategien und alternative Praxen subversiv und transformatorisch wirken. Sie müssen den kapitalistischen Verwertungs- und Akkumulationsmechanismen Energien entziehen, sie aus dem Takt bringen und Gegenentwürfe möglich machen. Sie müssen aber auch emanzipatorisch wirken, d.h. Geschlechterhierarchien aufbrechen. Sozial-ökologische und ökonomische Transitionen verändern sowohl Strukturen als auch Subjektivitäten. Sie organisieren Unterbrechungen des Wachstumsimperativs, der als Wirtschafts- und Naturverhältnis sowohl in die materiellen Strukturen als auch ins Bewusstsein und Verhalten eingelassen ist.

Eine Vielfalt solcher Praxen wird bereits erprobt, zahlreiche AkteurInnen haben sich aufgemacht, unterschiedliche Wege beschritten, politische Forderungen gestellt. Kämpfe, die nicht auf die eine große Transformation warten, sondern aus einer akteurs- und praxispluralistischen Perspektive Veränderung im Hier und Jetzt beginnen lassen, sind jedoch bislang ein Flickenteppich. Diese Fragmentierungen zu überwinden, ist die größte strategische Herausforderung für alle an Transformation interessierten Kräfte.

1 Der Deutsche Bundestag beschloss im Dezember 2010 die Einsetzung einer Enquetekommission mit dem Titel »Wachstum, Wohlstand Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft«. Sie nahm Anfang 2011 ihre Arbeit auf und legte im Juni 2013 einen Abschlussbericht vor.

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