Etikettierungen wie »pro-russisch“, »pro-ukrainisch«, »pro europäisch« oder »Putin-Versteher« verstellen den Blick auf die Interessen der jeweiligen Konfliktparteien und blenden die Komplexität von Widersprüchen in einer globalisierten Welt aus. Es gibt weder den abstrakt bösen Putin noch den abstrakt guten Majdan. Reflexhafte Zuschreibungen von »Gut« und »Böse« sind auch gefährlich, weil es in der Region eine Reihe von Konflikten gibt, in die sowohl die EU als auch die USA seit Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in irgendeiner Form verwickelt sind. Die Konflikte in der Ukraine müssen daher einerseits als soziale Probleme und die Art und Weise ihrer Bearbeitung sowie andererseits als ein Ringen um internationale Führungsansprüche verstanden werden. Im Folgenden soll es darum gehen, beide Dimensionen der gegenwärtig stattfindenden Kämpfe zu betrachten.
Wo den Bezugspunkt finden
Es ging schon auf dem Majdan nicht um pro-russisch, pro-ukrainisch oder pro-westlich. Die nationale Karte wurde von ukrainischer wie von russischer Seite gespielt und von westlicher Seite bedient, um die sozialökonomischen Grundlagen des Konfliktes zu verdecken und ihn auch zur Befriedung nach innen zu nutzen. In beiden Ländern gibt es in ähnlichem Maße nationalistische und neofaschistische Kräfte. Oleg Soskin (2014), ein eher konservativer ukrainischer Wissenschaftler, argumentiert, dass der Konflikt Resultat fehlender sozialökonomischer Reformen aller bisherigen Regierungen der Ukraine sei. Die Ergebnisse sind deutlich: In einem aktuellen Bericht zählt der Internationale Gewerkschaftsbund die Ukraine zu den acht Ländern mit dem geringsten Schutz für Lohnabhängige (IGB 2014). Die vergebene Note 5+ besagt, dass Arbeitsrechte wegen des Zusammenbruchs der Rechtsstaatlichkeit schlicht nicht garantiert sind. Mit den Auflagen des IWF ist eine Konservierung, ja Verschärfung der sozialen Spannungen vorprogrammiert. Hinter der Forderung, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, stand sicher auch die Hoffnung der AktivistInnen des Majdan, durch eine engere Anbindung an die EU eine Stabilisierung oder Verbesserung der sozialen Lage zu erzwingen. Der dahinterliegende soziale Konflikt artikulierte sich dann jedoch als »nationale Frage« – dem Verhältnis zum Assoziierungsabkommen – und wurde durch die Gesetze gegen die Proteste des Majdan (vom 16. Januar 2014) verstärkt. Durch die Zuspitzung auf einen scheinbar nationalen Konflikt ist die soziale Realität in den Debatten kein Thema. Kaum jemand fragt nach den Interessen derer, die in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen nichts zu verlieren haben. Es herrscht der Diskurs der Mittelschicht, daher auch die nationalistische Tendenz. Die linken Organisationen sind schwach und zersplittert, sodass sie eine andere Deutung den stattfindenden Auseinandersetzungen nicht entgegensetzen können. Es gibt praktisch keine institutionalisierten Beziehungen zu den tatsächlich Handelnden, so dass auch die Informationen aus den Aufstandsgebieten spärlich und unzuverlässig sind. Zudem werden linke Gruppen in der ›neuen Ukraine‹ verfolgt, so musste beispielsweise die Führung von Borotba dem Vernehmen nach das Land verlassen. Borotba ging 2012 aus der Vereinigung verschiedener marxistischer und anderer Gruppen hervor und bezeichnet sich selbst als Basisgewerkschaft, als »marxistische Bewegung von Arbeitern, Studenten, Wissenschaftlern, Journalisten und vieler anderer«(borotba.org). Die KP der Ukraine, die nur bedingt zur Linken gezählt werden kann, steht offensichtlich kurz vor dem Verbot.
Die Wurzeln
In nachsowjetischer Zeit entwickelte sich ein gefährliches Gemisch aus Nationalismus und extremer sozialer Spaltung. In der Art, wie die UdSSR zerfallen ist und wie die neuen Staaten entstanden, liegen die Wurzeln des gegenwärtigen Bürgerkrieges. Wie Russland war auch die Ukraine Anfang der 1990er Jahre einer Schocktherapie unterworfen, mit der auf einen Schlag die Marktwirtschaft durchgesetzt werden sollte. Aus der Art der damaligen Privatisierungen zogen die Oligarchen ihre Macht – gleichzeitig liegt hier auch die Ursache eines völlig unterentwickelten Sozialsystems sowie einer fehlenden Handlungsfähigkeit der Lohnabhängigen. Wie in Russland entstand eine aus der alten Nomenklatura hervorgehende Verflechtung von Staat und Wirtschaft, die auch durch spätere Reformen nicht gebrochen wurden (Mikul'skij 2003, 556ff). Dieser ›kriminelle Kapitalismus‹, der spezifisch nachsowjetische Weg ursprünglicher Akkumulation, bildet – ähnlich wie in Russland – die Grundlage der heutigen Gesellschaft samt ihres Nationalismus und einer eigenen Ausprägung faschistischer Elemente. Das Nationale erscheint angesichts der sozialen Machtlosigkeit großer Teile der Gesellschaft als Garant dafür, die Träume der »kleinen Leute« von einem guten Leben zu erfüllen. Die Machtbalance zwischen Staat und Oligarchen sowie ihre spezifische Verflechtung unterscheiden sich zwischen der Ukraine und Russland lediglich in der Ausprägung. Während in der Ukraine die reichsten Familien immer unmittelbar in die Politik eingreifen konnten, ist dies in Russland durch einen bedeutend mächtigeren Staatsapparat relativiert. Vor diesem Hintergrund die Staatlichkeit der Ukraine in Frage zu stellen, ist jedoch eine Scheindebatte. Selbst nach Ausbruch der Kämpfe brachten viele in der Ukraine lebende RussInnen noch ihre Verbundenheit mit ihrem Land zum Ausdruck. Die Krim-Frage hätte bei der Auflösung der UdSSR diskutiert werden müssen. Die Entscheidung, aus der UdSSR auszutreten war mit einiger Sicherheit wirklich eine Mehrheitsentscheidung in der Ukraine. Grundsätzlich ist ein Austritt aus der Sowjetunion immer möglich gewesen. Damit war ein international anerkannter und von seinen BewohnerInnen akzeptierter Staat entstanden. Mit dem Anschluss der Krim hat Russland einen Schachzug getan, der zwar geostrategisch aus den Vorstößen des Westens erklärbar ist, aber einen Bruch mit den Garantien darstellt, die die Ukraine im Prozess ihrer Staats-Werdung für einen Verzicht auf Atomwaffen aus sowjetischen Beständen erhalten hatte. Russland hat damit einen weiteren Faktor der Instabilität in der Region geschaffen, der von vielen Linken in der Ukraine als inakzeptabel betrachtet wird. Ob in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine ukrainische ›Nation‹ entstanden ist, ist eine ganz andere Frage. Es war ein Land, in dem Menschen mit ukrainischen, russischen, polnischen, ungarischen, rumänischen usw. Hintergründen gemeinsam leben wollen. Diese Realität wird nun mit dem Bürgerkrieg gebrochen. Die Hervorhebung der Rolle einer Nationalität als nationenbegründend und (so der eigentlich falsche Schluss) auch staatsdominierend führt in derartigen Krisen schnell zu Ausschlüssen, die in Diskriminierung, Abwertung und Gewalt umschlagen können. Das macht die nationalistischen Tendenzen in der Ukraine wie auch in Russland so gefährlich. Auch wenn bei den Präsidentschaftswahlen offen faschistische Organisationen erfolglos geblieben sind, scheint derartiges Gedankengut weitläufig in der Gesellschaft vorhanden. Eine junge Journalistin, die über ihre Kindheit und Jugend in einer kleinbürgerlichen ukrainischen Familie reflektiert, kommt zu dem Schluss, dass es zwar keine faschistische Erziehung gab, der alltägliche Nationalismus diese Tendenzen aber sehr wohl befördert hat (Mal'kina 2014). In den aktuellen Diskussionen wird immer wieder die Existenz faschistischer Strömungen überhaupt bestritten oder relativiert, wie unlängst durch Marieluise Beck von den Grünen. Es fällt schwer, faschistische Tendenzen in einem Land zu leugnen, in dem Stepan Bandera, ein ukrainischer Nationalist und Nazi-Kollaborateur, nach 1991 höchste Ehren erfuhr. Dagegen spricht nicht zuletzt die Symbolik der neugeschaffenen Nationalgarde, die sich allzu deutlich am Hakenkreuz orientiert. Es werden Stereotype bedient, die aus Zeiten des Kalten Krieges stammen oder diese noch übertreffen – man denke etwa an die Gleichsetzung von Putin und Hitler. Im Internet beschimpfen in facebook-posts und Blogbeiträgen Intellektuelle die Aufständischen als Lumpen (die dem Oberlumpen Putin folgen) oder als Kartoffelkäfer (wegen der Symbolik der gelb-schwarzen Bänder). Es ist von ukrainischen »gesunden Kräften« die Rede, während oppositionelle Ansichten in die Nähe psychischer Krankheit (und sei es als Ergebnis des Stresses des Bürgerkrieges) gestellt werden. Flüchtlinge geraten unter den Generalverdacht, die Ukraine destabilisieren zu wollen und es ertönt der Ruf »Ruhm der Ukraine« – eine Sprache, die es kalt den Rücken herunterlaufen lässt. Ähnliche Argumentationsmuster werden auch von RussInnen verwendet, die den Konflikt benutzen wollen, um die Putinsche Politik in Russland selbst anzugreifen und ihre eigene Schwäche über die Dämonisierung ihres Kontrahenten zu kompensieren. Die russische Seite ist nicht besser, wenn sie vom Schutz der RussInnen in der Ukraine spricht und ganz im nationalistischen Duktus bestimmte Gruppierungen in der Region zu unterstützen scheint. In dieser Situation können die Oligarchen einen Krieg führen, in dem die Grenzen zwischen Nationalstolz, Nationalismus und Faschismus längst verschwommen sind und die Brutalisierung von Sprache und Verhalten auf allen Seiten beängstigende Ausmaße annimmt. Sie waren in der Lage, sich als gesellschaftliche Macht zu organisieren und in ihrer Handlungsfähigkeit scheint sich die Einheit der Nation zu manifestieren. Um ihre Herrschaft zu legitimieren, brauchen sie den Nationalismus – denn aus dem Zustand der ukrainischen Wirtschaft und des Sozialsystems ist dies kaum möglich. Auch hier besteht wieder kaum ein Unterschied zu Russland: Der ukrainische und der russische Nationalismus sind spaltende Elemente, die die auf dem Majdan auch präsenten emanzipatorischen Forderungen in dessen eigenen Namen unterlaufen. Ein gemeinsames Handeln einer etwaigen Friedensbewegung in beiden Ländern wird dadurch erschwert.
Friedhofsruhe als Konzept
Die Ankündigung der Kiewer Regierung, man werde die Kriegshandlungen bis zur Niederwerfung der Aufständischen führen, sowie die Realität der »Antiterroroperation« vertiefen das Problem. Dies umso mehr, als im Verlauf des Bürgerkrieges der Stellenwert irregulärer Einheiten, der Nationalgarde und der Milizen gegenüber der Armee und Polizei gestiegen zu sein scheint. Hinzu kommen Einheiten, die Oligarchen wie Achmetov und Kolomojskij aufgestellt haben sollen, sowie offensichtlich auch SöldnerInnen privater Sicherheitsfirmen. In seiner Antrittsrede machte der neue ukrainische Präsident deutlich, dass er an einer politischen Lösung nicht interessiert ist und auch langfristig auf repressive Mittel der Konfliktlösung orientiert: »Army and its re-equipment by means of national military-industrial complex is our top priority. Moreover, state orders for military-industrial enterprises will give a boost to reindustrialization of the economy. Those who grudge money for the armed forces feed foreign army. Our army must become a true elite of the Ukrainian community. The word ›general‹ must be associated with the word ›hero‹, not with the word ›corruption‹. We must do ourselves everything to ensure lasting peace and security of Ukraine. Our most reliable allies and the best guarantors of peace are our army, fleet, the National Guard and professional special forces!« (Poroshenko 2014) Außerdem zieht solch ein Bürgerkrieg natürlich auch immer Abenteurer an, die kaum eine Beziehungen zu den eigentlich auslösenden sozialen Konflikten haben. Berichte über das Einsickern russischer, tschetschenischer und sonstiger KämpferInnen auf Seiten der Aufständischen sind auch aus historischer Sicht völlig plausibel. Allerdings besagen die meisten Augenzeugenberichte, dass diese (wenigstens vor Einsetzen der »Antiterroroperation«) keineswegs das Geschehen dominierten. Auch die vor einiger Zeit durch ein Nachrichtenportal verbreitete Liste der Regierungsmitglieder der Donezker Volksrepublik zeigt eher ein buntes Gemisch verschiedener Sozialisierungen, kein institutionalisiertes Abenteurertum. Allerdings findet man in der Liste auch keine ArbeiterInnen. Die im Netz kursierenden Verfassungsentwürfe verweisen auf eine Fokussierung auf die »soziale Frage«. Welche Reichweite aber die dahinter stehenden AkteurInnen haben, bleibt offen. Offen bleibt auch, wie ernst diese sozialen Ansätze gemeint sind – auf jeden Fall aber reflektieren sie dieses Problem der Region. Unter den Aufständischen selbst scheint das Verhältnis zu Russland wie auch das eigentliche Ziel des Handelns strittig. Anschluss an Russland, Selbstständigkeit oder Verankerung in einer Föderation mit Russland oder der Ukraine, Verbleib in der Ukraine ohne Föderalisierung – all diese Meinungen scheinen präsent zu sein. Von einer Reihe linker Bewegungen werden die Kiewer Regierung wie auch die Führungen der verschiedenen Gruppierungen im Aufstandsgebiet gleichermaßen abgelehnt. Es wird darauf verwiesen, dass dort, wo es eine handlungsfähige und organisierte Gewerkschaftsbewegung gibt, durch die ArbeiterInnen selbst jegliche Gewalt, auch durch Schaffung eigener Verteidigungskräfte, unterbunden wurde (erwähnt werden Krasnodon und das Industriezentrum Kryviy Rih). All dies ist plausibel, da die ukrainische Arbeiterbewegung sich auf eigene revolutionäre Wurzeln und Erfahrungen schon aus der Zeit vor und in der Oktoberrevolution beziehen kann – teils mit den russischen, polnischen und österreichischen Bewegungen verbunden. Die stattfindenden Auseinandersetzungen können daher als Kämpfe verstanden werden, die um die Art und Weise der Überwindung einer sozialen Krise in der Ukraine geführt werden. Mit dem Bürgerkrieg ist diese Krise jedoch nicht lösbar, sondern führt stattdessen zu Blutvergießen und Flucht.
Dilemmata und Desaster
Mithin sind wir mit einem politischen, ökonomischen, kulturellen und (für die Linken) organisationspolitischen Desaster konfrontiert. Der Bürgerkrieg überraschte die Linken. Sie verfügen nicht einmal annähernd über adäquate Kommunikationskanäle oder gar über gemeinsame Strategien. Allein die redliche Forderung der Solidarität mit der Ukraine wirft die Frage auf: Mit welcher Ukraine eigentlich? Der Ukraine der Oligarchen, der Ukraine einer nationalen »Mittelklasse«, der Ukraine der ArbeiterInnen, der Ukraine der »Abenteurer«? Die Nationen-Werdung in Westeuropa war in ihrer bürgerlichen Etappe auf das engste mit dem Werden einer eigenständigen Arbeiterbewegung verbunden. Sie wurden nur in dem Maße demokratisch, in dem diese Bewegung sich konsolidierte und Sozialstaatlichkeit erzwang – sei es aktiv, sei es durch bloße Drohung ihrer Existenz. In der Ukraine wie auch in Russland und anderen postsowjetischen Staaten fehlt dieses Element, es fehlt eine eigenständige, handlungsfähige Bewegung der unteren Klassen. Boris Kagarlizkij (2014) hat in einer Analyse vom April auf den entscheidenden Punkt hingewiesen: Die linken Intellektuellen müssten zur sozialökonomischen Analyse zurückfinden, sich wieder den real-existierenden Massen zuwenden und sich nicht den Normen des bürgerlichen Politikbetriebes und des bürgerlichen politischen Denkens unterordnen. Der Bezugspunkt der Analyse sollte also nicht in Kiew oder Moskau liegen, sondern in den Schächten, Stahlwerken, Betrieben, Büros, sozialen Einrichtungen und Landwirtschaftsunternehmen der Ost- wie der Westukraine gleichermaßen. Das kann man auch all jenen entgegenhalten, die mit einer Einordnung in das vorgegebene Schema »für oder gegen Putin« jene als »Putin-Versteher« diskreditieren wollen, die sich simplen Antworten verweigern. Der in der Beschimpfung liegende Verzicht auf die Bereitschaft zur Analyse einer Situation ist vor dem Hintergrund des 100. Jahrestages des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs beängstigend. Um eine Situation fundiert bewerten zu können, muss man die beteiligten Seiten und ihre Interessen verstehen – das hat nichts mit Akzeptanz ihres Handelns zu tun. Das Dilemma besteht darin, dass die Verbindungen der meisten linken Bewegungen in die Arbeiterschaft der Ukraine denkbar schwach sind und Analysen sich eben auf Informationen aus zweiter, dritter oder vierter Hand stützen müssen, die zudem von der nationalen Frage überlagert werden. Das Desaster ist, dass sich die linken Bewegungen einhundert Jahre nach 1914 an einer ähnlichen Stelle sehen wie die offizielle Sozialdemokratie 1914. Das ist aber nur die eine Seite. Das umstrittene Assoziierungsabkommen mit der EU und die Auseinandersetzungen um seine Unterzeichnung machen die globale Dimension der Krise deutlich. Obama gab dafür gerade erst wieder das Stichwort, als er anlässlich seines Besuches in Polen den allumfassenden Führungsanspruch der USA proklamierte. Herman van Rompuy verkündete bei der Verleihung des Karls-Preises fast zur gleichen Zeit, dass die EU »mehr Stärke nach außen« zeigen werde. Die Konsequenzen dieses Kurses werden im Ukraine-Konflikt sichtbar. Es handelt sich hier um einen seit 1990 verfolgten Kurs, der jetzt zum Konflikt mit Russland führt. Russland geht es darum, »dem Westen« Grenzen zu setzen. Die Ukraine musste einen Weg finden, sich zwischen zwei Schwergewichten eigenständig zu positionieren, wobei sie die Schwäche der eigenen Wirtschaft und die traditionellen ökonomischen und kulturellen Bindungen mit Russland in Rechnung stellen musste. Die bisherigen Regierungen in Kiew versuchten das mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Dimitrij Maschinikov bezeichnet den Präsidenten Poroschenko als Brücke zwischen dem Teil der Oligarchie, die mehr der EU und dem, der mehr Russland zuneigt (Mashinnikov 2014). Das ist nachvollziehbar, weil machtpolitisch rational. Die Gewinner in dieser Konstellation werden aber die rechten Politprofis, die Oligarchen und deren Hofstaat sein, nach der Abrechnung, die dem Bürgerkrieg mit einiger Sicherheit folgen wird. Die täglich fortschreitende Eskalation führt in einen langanhaltenden Nicht-Frieden, der in der Demoralisierung der verschiedenen Seiten und in der nationalistischen Komponente angelegt ist.
Ein Krieg aller Oligarchen
Gleichzeitig aber macht diese Konstellation deutlich, dass es hier nicht einfach um einen Krieg der ukrainischen Oligarchen geht, sondern um einen Krieg der in den letzten zwei, drei Jahrzehnten entstandenen internationalen Oligarchie, der keinen genau bestimmbaren Gegner hat, sondern an verschiedenen ›Fronten‹ gegen das selbstständige Handeln der Massen gerichtet ist. Das ist die Schnittmenge der Interessen zwischen den von Poroschenko, Putin, Obama, Merkel, van Rompuy usw. vertretenen Machteliten (Brangsch et al. 2012, 69ff). Dass die jeweiligen dahinterstehenden Ausprägungen bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft freilich unterschiedliche Spielräume für Alternativen bieten, macht die Sache nicht einfacher. Natürlich leitete sich der Majdan nicht linear aus dem Handeln einzelner Oligarchen ab, war aber sehr wohl Resultat der seit Anfang der 1990er Jahre von diesen in der Ukraine verfolgten Strategie. Hier liegen auch Ansatzpunkte für eine Beschreibung der Interessenslagen der Staaten des »Westens«.[1]