Die europäische Krise führt zu grassierendem Chauvinismus, Rassismus und Desintegration. Getrieben von dieser Dynamik wird mit dem Ausnahmezustand regiert. Autoritär werden Austerität, der verschärfte Abbau von Arbeits- und Sozialrechten und ein inhumanes, militarisiertes Grenzregime durchgesetzt, das Asylrecht wird geschleift. Grundlegende demokratische Ansprüche, die Hoffnung auf Schutz vor Krieg und Verfolgung, auf ein gutes Leben für alle, oder die Vorstellung, dass Wahlen Einfluss auf politische Entscheidungen haben, werden von den herrschenden Institutionen zurückgewiesen.
Seit 2011 setzen sich Demokratiebewegungen dagegen zur Wehr, inspiriert vom Arabischen Frühling, zunächst vor allem in Griechenland und Spanien. Nun, nach der Unterwerfung der Syriza-Regierung unter ein neues Memorandum, versuchen unterschiedliche Initiativen, auch auf europäischer Ebene eine Demokratiebewegung voranzubringen – bevor es zu spät ist und der Zerfall zum Rückfall in die 1930er Jahre führt. Yanis Varoufakis und andere schlagen die Gründung einer europäischen Plattform vor: DiEM 25. Sie zielen nicht auf die üblichen Verdächtigen, sondern wollen auch liberaldemokratische Kräfte ein- und Selbstorganisierungsansätze, lokale Initiativen und ein transnationales Projekt miteinander verbinden. Dies erzeugt Aufmerksamkeit und hält die Hoffnung auf ein anderes Europa wach. Das ist schon viel in diesen Zeiten.
Auch die Initiative »Ein Plan B für Europa«, ausgehend vom Vorsitzenden der französischen Parti de Gauche, Jean-Luc Mélenchon, Oskar Lafontaine und anderen, debattiert über die Neuausrichtung des europäischen Integrationsprozesses – wenn auch zum Teil mit verengtem Fokus. Ihre Absage an jegliche Reformen von bestehenden europä- ischen Institutionen und ihre Forderung nach einem linken Euro-Exit und der Errichtung eines alternativen Währungs- und Finanzsystems wirkt mitunter wie ein Spaltpilz in der europäischen Linken. Ein »Plan B« muss umfassender werden, argumentiert eine Initiative um Miguel Urban von Podemos und rief deshalb zu einem Treffen im Februar 2015 in Madrid auf. Auch wenn dieses in einer eher beliebigen Aufzählung von Wünschbarem mündete, war doch der Wille spürbar, verschiedene linke Fraktionen und Strömungen zusammenzubringen: Neben DiEM25 und der Pariser Plan-B-Initiative war auch Blockupy und die Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) eingeladen. Auch das Netzwerk des AlterSummit bemüht sich weiter um eine europaweite Koordinierung, in ihrem Feld tun dies ebenso die Gewerkschaften mit ihrer Initiative »Europa neu begründen« sowie Blockupy. Deren Aktive orientieren strategisch auf Aktionen im Frühjahr 2017 und auf den Beginn des Bundestagswahlkampfes.
Die Dringlichkeit, europaweit linke Kräfte zu bündeln, wird von vielen verstanden. Die Anstrengungen, sich zusammenzuschließen, könnten jedoch wirkungslos verpuffen, wenn am Ende alle miteinander konkurrieren und unterhalb einer kritischen Masse bleiben. Es wird viel über die Frage »Was tun?« diskutiert, aber viel zu selten darüber, wer es verdammt noch einmal tut und wie. Über die Form der politischen Organisierung und den Prozess, verbindende Praxen zu finden, wird zu wenig nachgedacht. Die Debatte ist programmatisch verstopft, kontrafaktisch nach dem Coup gegen Syriza, nach dem Motto: Hätten wir nur die besseren Alternativen, würde es schon klappen. Sehr deutlich ist der fehlende Unterbau der meisten Initiativen. So drohen sie zu einem aktivistischen Jetset zu werden, der eine Blase aufgeregter Debatten produziert, ohne die Kräfteverhältnisse in der EU zu berühren.
Der Anspruch, Souveränität zurückzugewinnen, ist ein wichtiger Bezugspunkt. Durch den Fokus, Errungenschaften auf nationaler Ebene zu verteidigen, wird dieser aber leicht auf die »nationale Souveränität« eines Staates verkürzt. Es ist aber kaum zu erwarten, dass in Zeiten transnationaler Produktionsnetze und Finanzmärkte die Orientierung am Nationalstaatsprinzip weiterhelfen wird. Ohnehin müsste gefragt werden, für wen diese Souveränität sein soll. Doch nicht für einen Staat. Was Menschen beklagen, ist dass sie keinen Einfluss auf ihre Lebensbedingungen haben, diese selbst gestalten wollen. Es geht also nicht um den Rückfall in einen nationalistischen Diskurs, sondern um eine Souveränität der popularen Klassen, eine Souveränität von allen – und zwar auf sämtlichen Ebenen der Politik: kommunal, regional, national, supranational und im engen Sinne des Wortes transnational, also quer zu allen Ebenen. Ein solcher Souveränitätsdiskurs könnte von all den genannten Initiativen aufgegriffen werden und eine verbindende Perspektive bieten. Könnte den Impuls zur Renationalisierung in einen zur Dezentralisierung und Europäisierung verwandeln.
Ohne eine grundlegende Infragestellung der Institutionen muss jede Bündnisinitiative jedoch chancenlos bleiben. Es gälte daher, einen Terrainwechsel zu vollziehen und demokratische Gegeninstitutionen aufzubauen. Ein partizipativer, lokal und überregional verknüpfter verfassungsgebender Prozess der Beratung und Organisierung in räteartigen Versammlungen – von den Vierteln bis zur europäischen Ebene – hätte die enorme Aufgabe zu bewältigen, vielfältige Positionen zu einer gemeinsamen Alternative zu verdichten. Dabei muss man nicht darauf warten, dass die Institutionen einen solchen Prozess erlauben, man kann ihn »einfach« organisieren.
Zu kompliziert? Vielleicht hilft es, sich den konstitutiven Prozess als Dach zu denken, mit dem Anspruch auf wirkliche Demokratie als Fluchtpunkt. In diesen »leeren Signifikanten« könnten unterschiedlichste Gruppen und Initiativen ihre Interessen und Projekte einschreiben, ihre jeweilige Praxis und wichtigen Anliegen (Widerstand gegen TTIP, Schuldenstreichung, Solidarität mit Geflüchteten, katalanische Unabhängigkeit, Eurodebatten etc.) weiter verfolgen, aber als Teil eines konstitutiven Prozesses von unten – diesen immer als Referenzpunkt, als Perspektive thematisierend. Bei jedem dieser Themen und Bewegungen geht es um zentrale Fragen der Demokratie und der Verfasstheit eines anderen Europas.
Eine echte Alternative ist aber nicht abstraktidealistisch zu formulieren, sondern ausgehend von den Alltagsproblemen der Menschen und den realen Kräfteverhältnissen. Ein konstitutiver Prozess beschreibt in der Philosophie zunächst nicht einen verfassungsgebenden Prozess, sondern vor allem anderen die Produktion eines politischen Subjekts der Vielen. Darum muss es in den nächsten Monaten und Jahren gehen.