Die bundesdeutsche Sozialdemokratie stand lange für den »dritten Weg« und die »neue Mitte«. Ihre Politik, Konzepte und Ziele waren der Bildung eines neoliberalen Blocks untergeordnet. Nun verändert sich ihr Umfeld grundlegend und immer schneller – die Situation ist auch ein Scherbenhaufen eines von der SPD mit durchgesetzten Aufstiegs Deutschlands zur europäischen Hegemonialmacht. Wohin man schaut, ob die griechische Pasok, die französische Parti Socialiste, die spanische PSOE, die niederländische Partij van de Arbeid oder die italienische Partito Democratico – die Parteienfamilie der europäischen Sozialdemokratie ist zerrüttet. Sie sieht sich einer erstarkenden Rechten gegenüber, die in zwei Hauptrichtungen gespalten ist: eine dominante, aber defensiv operierende, neoliberal­›klassische‹ Rechte und eine aufsteigende illiberale, völkische, häufig rassistische. Beide verbindet die Profilierung eines autoritären Kapitalismus. Die noch vorherrschende neoliberale Strömung spaltet sich jedoch entlang der Frage einer marktradikalen versus regulierungsstarken Wirtschaftspolitik und die Hegemonie der liberaldemokratischen Strömungen bröckelt. Welche Rolle spielt die Sozialdemokratie in diesem Zerfallsprozess der alten Architektur des politischen Feldes? Setzt sich dieser Prozess fort oder bildet sich eine Langzeitperspektive der Reorganisation oder gar Neuerfindung eines sozialdemokratisch­linken Feldes? Was sind die Kriterien, die dafür oder dagegen stehen könnten?

 

  • Diskurs: Martin Schulz steht gegenwärtig für einen volatilen diskurspolitischen Bruch, der seiner als authentisch empfundenen Sprechweise und einer Enttabuisierung des Themenkatalogs der Partei zuzuschreiben ist. Er bindet »adressatenlose Wut« und die Sehnsüchte nach einer Sozialstaatssozialdemokratie.
  • Konflikt: Doch welche Wege sollen geöffnet werden? Sein rhetorisches Superthema ist Gerechtigkeit und seine Stoßrichtung die radikale Rechte. Offen ist, wie weit eine Gleichheitsrhetorik trägt, die sorgfältig jede Positionierung gegen die wirklichen Reichtumsverhältnisse, ihre Subjekte und ihre Politik vermeidet und damit eine soziale Polarisierung umgeht. Fest steht: Eine Wende, die nicht wehtut, ist sinnlos.
  • Klasse: Mit Blick auf die verschiedenen Teile der Klassen bleibt abzuwarten, ob es gelingt, nicht nur die in großen Teilen verlorene Stammwählerschaft der ›hart arbeitenden‹, einigermaßen stabilen und ›respektablen‹ Arbeitnehmermitte wahlpolitisch einzubinden, sondern auch die strukturbenachteiligten Teile der Bevölkerung.
  • Block: Zentral – aber ebenso offen – ist dabei, inwiefern sich der Schulz­-Effekt in eine zivilgesellschaftliche Reorganisation und Mobilisierung umsetzt. Ob eine neue Glaubwürdigkeit und Konsensbildung also auch jenseits der Person über anziehende Paradigmen (»Sicherheit«, »sozialer Respekt«) und attraktive Selbstverortungen in der Gesellschaft möglich wird. Weitreichende Wendungen sind ohne die Bildung eines solchen erweiterten Blocks nicht möglich. Aber: Wer tut es? Die wahlpolitische Formel dafür ist der »Lagerwahlkampf«, den die SPD – im krassen Unterschied zur CDU/ CSU – bislang vermeidet und mit ihrer Koalitionsofferte Richtung FDP noch weiter erschwert.
  • Umkehr: In jedem Fall müssten die neoliberalen Richtungsprojekte der letzten Jahrzehnte (Stichwort Hartz IV) abgeräumt werden. Der Schlüssel wäre eine Politik der Sicherheit rund um die großen Dispositive Vorsorgen, Vorbeugen, Verhindern, Vorbereiten und Widerstehen. Sie müsste Breschen in die Unsicherheit des Zukünftigen schlagen. Ein dramatischer Bruch mit der Politik der neoliberalen Versicherheitlichung durch Vermarktlichung und Finanzialisierung ist dafür Prämisse.
  • Projekt: Es geht nicht mehr um eine Durchsetzung des globalen Kapitalismus, sondern darum, seinen krisenhaften Industrie-, Arbeits-, Raum-, Natur- und Wissensformen eine dominante Richtung zu geben. Eine kapitalistische Zukunftspolitik also, die in der Tradition einer produktivkraftaffinen SPD den Kampf um die informationell-industrielle Gestalt des gegenwärtigen Kapitalismus aufnimmt. Aber: Wer führt ihn? Wie drückt die Sozialdemokratie dem ihren Stempel auf, wo würde sie eine radikale Differenz zur Silicon-Valley-Politik machen?
  • Selbstveränderung: Nicht zuletzt wird die Entwicklung der eigenen politischen Organisation entscheidend sein: Verändert die aktuelle Eintrittswelle die Partei? Verändern sich die innerparteilichen Macht- und Konfliktkonstellationen? Bislang sind dafür nur sehr geringe Anzeichen zu erkennen. In der parteibezogenen Öffentlichkeit gibt es kaum Anzeichen für eine Politik der echten Veränderung, des Umbaus und insbesondere der Demokratisierung (eben nicht bloß einer Bemächtigung!) der für eine solche Richtungspolitik zentralen Staatsapparate.


Der Schulz-Effekt ist der Name für eine Momentaufnahme der Uneindeutigkeit. Je nachdem, wie »die alte Tante« SPD den Budenzauber weiter dreht, ob als weitgehend inhaltsleeres Spektakel oder als riskante Wegmarke für eine Neuausrichtung, droht – oder eben nicht – eine Fortsetzung der Zerrüttung. Dann jedoch, angesichts neuer Enttäuschung, nicht mehr als ›eingefrorene‹, sondern als abstürzende Formation.