1989 in Porto Alegre (Orçamento participativo) wurde erstmals versucht, die Fronten zwischen Politik, Verwaltung und den Objekten von Politik und Verwaltung, den Bürgerinnen und Bürgern, wenn auch nicht aufzuheben, so zumindest aufzulockern. Inwieweit das Erfolgsmodell einer Bürgerbeteiligung aus der brasilianischen Struktur nach Europa übertragen werden kann, ist ungeklärt. Ansätze dieser Form partizipativer Demokratie sind auf der Basis von Porte Alegre aber auch in Deutschland entstanden, so im Bezirk BerlinLichtenberg (vgl. das Gespräch mit Christina Emmrich in diesem Heft). Bürgerbeteiligung und Bürgerorientierung gehören gemeinsam mit den Schlag worten Transparenz und Innovation zu den meist gebrauchten Floskeln in Sonntagsreden der PolitikerInnen aller Couleur. »Direkte Demokratie« wird vordergründig hoffähiger, längst aufgenommen von den Parteien, den kommunalen Spitzenverbänden, der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) und frühzeitig auch von der Bertelsmann Stiftung. Projekte zur Bürgerbeteiligung und Merkmale der Bürgerorientierung werden parteiübergreifend als mögliche Strategie gegen Parteienverdrossenheit und mangelnde Wahlbeteiligung angesehen. Die Mischung aus repräsentativer und direkter Demokratie wird in Form und Ausgestaltung dieser Radikalisierung der Demokratie unterschiedlich definiert und gehandhabt. Obwohl es inzwischen einige Städte gibt, die den Begriff der Bürgerkommune für sich beanspruchen, fehlen eindeutige Definitionen: Manchmal reduziert sich die Bürgerkommune auf bürgerschaftliches Engagement, manchmal gehen die Ansätze bis zu komplexen Governance-Strukturen (Herzberg 2009, 50).
Aufstieg und Niedergang des neuen Steuerungsmodells
In den 1990er Jahren begann die Umstrukturierung der Verwaltung in Deutschland hauptsächlich mit dem Ziel, diese zu modernisieren. Der politische Druck entstand durch die zunehmende Verschuldung der Kommunen, mangelnde Transparenz, fehlende ökologische und ökonomische Rücksichtnahme sowie aus dem Ärger von Einwohnern über verkrustete Verwaltungsstrukturen ohne Bürgerservice. Eine Vorreiterrolle hatte die niederländische Stadt Tilburg, die unter finanziellem Druck ihre hierarchischen Ämter in eine betriebswirtschaftliche Struktur überführte. Die KGSt – »Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung« – entwickelte unter der Überschrift »Neues Steuerungsmodell« (NSM) die deutsche – kommu nale – Variante des »New Public Management«. Als wichtigstes Ziel des NSM benannte die KGSt die Effizienzsteigerung der Verwaltung und die Konsolidierung des kommunalen Haushalts. Gleichzeitig sollte Kommunal politik ihre Arbeitsweise verändern und sich auf Beschlüsse zu Strategie und Leitlinien konzentrieren. Dieser Anspruch entstand durch ein etwas naiv erscheinendes »optimistisches Menschenbild« und die Annahme, dass sich die zentralen Akteure entsprechend ihrer radikal neu definierten Rolle dem Primat der Haushaltskonsolidierung unterordnen würden (Holtkamp 2008, 423–446). In die Verwaltungsforschung wurde dieser Verzicht überwiegend als eine Beschränkung der Ratskompetenzen und des Parteieneinflusses gedeutet (Wollmann 1999, 347f). Auch die weiteren Elemente des NSM (Veränderung des Personalmanagements, Einführung der Budgetierung, Dezentrale Ressourcenverantwortung, Definition von »Produkten« – Berichtswesen und Controlling, Einführung von »Wettbewerb« in Produkt- und Dienstleistungsqualität) verlangten von Politik und Verwaltung vollständig umzudenken. Viele Verwaltungsspitzen sowie die etablierten Parteien priesen die Thesen des NSM anfangs enthusiastisch. Das alte Verwaltungssystem wurde als »System organisierter Unverantwortlichkeit«, das auf Geldverschwendung hinausläuft, diskreditiert. Gleichzeitig wurde das NSM als eine überzeugende Alternative präsentiert (Banner 2001, 288). In vielen Kommunen wurde das NSM beschlossen, aber die geforderte Beschränkung des politischen Einflusses auf das Verwaltungshandeln mehrheitlich abgelehnt und nicht umgesetzt. Ende der 1990er Jahre herrschte »in vielen deutschen Kommunen eine Mischung aus Frust, Ratlosigkeit und Durchhalteparolen« (Bogumil/Reichard 2007, 85–90). Auch innerhalb der Verwaltungen wurde das NSM als zu komplex empfunden, einige Instrumente wie Budgetierung, Kosten- und Leistungsrechnung, Definition von Produkten blieben jedoch erhalten. Auch die kommunalen Haushalte von Kameralistik in Doppik (doppelte Buchführung in Konten) umzustellen, basiert auf dem Grundgedanken des NSM.
Bürgerkommunen im Schatten von Bertelsmann
Nachdem das neue Steuerungsmodell nicht reibungslos vonstatten ging, wurde ein neues Ziel anvisiert: die Bürgerkommune. Wer den Begriff der Bürgerkommune geprägt hat, ist nicht geklärt, anfangs wurde es als Synonym für Bürger- und Zivilgesellschaft verwandt. Träger der Bürgerkommunen waren zu Beginn vor allem Kommunen, die sich ausgehend von den Netzwerkstrukturen des NSM weiterentwickeln wollten. Der Wettbewerb der Bertelsmann Stiftung, »Bürgerorientierte Kommune – Wege zur Stärkung der Demokratie«, führte 1999 zur Gründung des Netzwerks Civitas. In diesem Städtenetzwerk arbeiteten insgesamt 13 Kommunen über fünf Jahre hinweg an Fragestellungen und Projekten zum Thema »Bürgerorientierte Kommunen«. Die Bertelsmann Stiftung – gemeinnützige, selbsternannte »Ideenagentur für Öffentlichkeit und Politik« – hatte in den 1990er Jahren im Zuge der Verwaltungsmodernisierung die Idee der »Bürgerkommune« aufgegriffen und sie im Sinne des herrschenden Modernisierungsstrebens umfunktioniert. »Unsere Arbeit wird von der Erkenntnis Reinhard Mohns [Entwickler des Bertelsmannkonzerns] geprägt, dass unternehmerisches Denken und Handeln entscheidend dazu beitragen, Problemlösungen für die verschiedenen Bereiche unserer Gesellschaft zu entwickeln und erstarrte Strukturen aufzulösen. Auf diese Weise leisten wir – auch international – einen Beitrag zur kontinuierlichen Fortschreibung einer zukunftsfähigen Gesellschaft« (Bertelsmann Stiftung 2005, 5). Über die Produktion von Informationen und Ideen nimmt die Bertelsmann Stiftung Einfluss auf das politische agenda setting: Nur Prinzipien unternehmerischen Handelns könnten zum Ausbau einer zukunftsfähigen Gesellschaft beitragen. Wettbewerb und freie Marktwirtschaft im öffentlichen Bereich sollen gefördert werden, so entstehe mehr bürgerschaftliches Engagement (ebd., 3-6). Die Aufgaben der staatlichen Fürsorge sollen in die Verantwortung der Gesellschaft gegeben werden, um den Staat zu entlasten. Fast alle Parteien haben diese Strategien aufgegriffen und weitergetragen. Die Bertelsmann Stiftung verband den Gedanken der Bürgerkommune mit der Einführung des Bürgerhaushaltes. In dem Gemeinschaftsprojekt »Kommunaler Bürgerhaushalt« wurden durch das Innenministerium Nordrhein-Westfahlen und die Bertelsmann Stiftung (2000 bis 2004) gemeinsam in sechs Projektkommunen (Castrop-Rauxel, Emsdetten, Hamm, Hilden, Monheim a.R. und Vlotho) die Bürgerinnen und Bürger in die Haushaltsberatungen einbezogen. Im Gegensatz zu Porto Alegre handelt es sich nur um konsultative Beteiligung. Das »Verständnis und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger für wichtige Weichenstellungen ihrer Gemeinde« sollte verbessert werden und »Verständnis für Sparzwänge« entwickelt werden (Ministerium für Inneres und Kommunales NRW). Bei den klammen NRW-Kommunen diente der Bürgerhaushalt hauptsächlich dazu, den Bürgern die angespannte Haushaltslage zu vermitteln und aus ihrem Engagement heraus »Lösungen« zu finden, wenn beispielsweise die Entscheidung »Schließung« des Freibades oder »Übernahme durch ehrenamtliche HelferInnen« oder »Investor baut Spaßbad« entgegensteht. Auch ein Wettbewerb der KGSt »Intelligent sparen« in den Jahren 2002 und 2005 zeigt, dass die Aussagen von Bürgern, worauf sie zu verzichten bereit sind oder wofür sie mehr bezahlen würden, gern als Entscheidungsgrundlage zur Streichung oder Privatisierung genutzt wird. Im »System Bertelsmann« ist die Bürgerkommune darauf ausgerichtet, ein bisschen Partizipation und viel Modernisierung zusammenzuführen. Der moderierte Veranstaltungsverlauf in der Bürgerbeteiligung wird in die entsprechende Richtung gelenkt, Ergebnisse von der Verwaltung zusammengeführt und nicht von den Teilnehmenden selbst. Die Arbeitsergebnisse der Bürger werden als »empfehlende Impulse« wahrgenommen – oder eben auch nicht. Diese als »Stärkung der Demokratie« verkaufte Strategie dient lediglich der Vorbereitung intensiver Privatisierungsbestrebungen – das bedeutet, »die öffentliche Verwaltung wettbewerbsfähig zu machen«. In Würzburg wollte sich arvato, eine Tochter des Bertelsmann-Konzerns, mit der »Modernisierung von Verwaltungen« einen neuen Wachstumsmarkt erobern. Dank elektronischer Hilfe einer Datenautobahn sollten rund 27 Millionen Euro gespart werden und Behördengänge per Internet möglich werden. Drei Jahre nach dem Start des bundesweiten Pilotprojektes ist davon keine Rede mehr; es kann als gescheitert gelten (Mainpost vom 6.5.2010).
Radikale Demokratie in der Kommune
Die Bürgerkommune ist so »ins Gerede« gekommen. Neue Begriffe werden gesucht, um sich von dem beschriebenen Missbrauch zu distanzieren. Wie muss die Bürgerkommune gestaltet werden, um dem Anspruch eines wirklichen partizipatorischen Wirkens der Einwohner an der Entwicklung der Kommune gerecht zu werden? Wie »verträgt« sich die »repräsentative« mit der »partizipativen« und der »direkten« Demokratie? Die repräsentative, parlamentarische Demokratie ist nicht das letzte Wort der Geschichte der Demokratie. Sie ist zu verbessern, weiter zu entwickeln und zu »radikalisieren«, indem die Instrumente der direkten Demokratie ausgebaut und vereinfacht werden. Dabei geht es auch um die Abgabe von Macht an die Menschen in der Kommune. In einer Bürgerkommune, die dem Anspruch partizipatorischer Demokratie gerecht werden will, muss es möglich sein, die Einwohner auf allen Ebenen entscheiden zu lassen. Nicht nur der Beschluss über die Brenndauer der Straßenlaternen muss möglich sein, sondern sie müssen auch das Energiekonzept der Kommune mit erarbeiten können und darüber entscheiden können, ob die erneuerbaren Energien dem Atomstrom vorgezogen werden sollen. Die Art und Weise, wie Entscheidungen und die Entscheidungswege zustande kommen, müssen eine andere Qualität erhalten. Eine andere Kultur des »Streitens im positiven Sinne« muss entstehen – und die Voraussetzungen dafür müssen politisch geschaffen werden –, um die Probleme in der Kommune zu lösen. Dabei müssen sich alle Akteure – BürgerInnen, Politik und Verwaltung – als Lernende in diesem Prozess begreifen. Unabhängig von Einkommen, Alter, Geschlecht und Herkunft muss es allen Einwohnern möglich werden, sich zu beteiligen. Dazu gehören Transparenz, ein für alle nachvollziehbares Handeln und eine einfache Sprache von Politik und Verwaltung. Die Gefahr besteht, dass Lobbyistengruppen versuchen, Einfluss zu nehmen. Durch einen konsequenten Bürgeransatz und die Beförderung eines direkten Dialogs der Bürgerinnen und Bürger untereinander sowie durch ein Delegationsverfahren kann dem entgegengewirkt werden. Das zivilgesellschaftliche Engagement muss finanziell und materiell abgesichert werden. Freiwilliges ehrenamtliches Handeln muss durch die Gesellschaft anerkannt und wertgeschätzt werden. Nicht selektives Zuhören und subjektives Auswerten der Ergebnisse von Workshops und Bürgerversammlungen, sondern das Übertragen von Entscheidungskompetenz ist anzustreben. Dem stehen zurzeit in den meisten Fällen noch die Kommunalverfassungen entgegen. Solange hier noch nichts geändert wurde, muss dieser Anspruch in Form einer Selbstverpflichtung garantiert werden, die Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger mit den Beschlüssen der Politik ins Einvernehmen zu setzen. Kommunale Selbstverwaltung, die diesen Namen verdient, sollte sich auf die Franzö- sische Revolution als eigentlichen Auslöser der kommunalen Selbstverwaltung beziehen. Nicht umsonst gründet sich der Begriff des kommunalen Gebildes »Kommune« auf die Pariser Commune von 1871, auch wenn das manchem konservativen Kommunalpolitiker schwer verdaulich ist. Die Commune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Das Prinzip muss bleiben: Über die örtlichen Belange entscheidet die Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger einer Kommune.