Die Pandemie hat die vielfach unbeachteten Fäden und Verbindungen, die die meisten Bereiche unserer Gesellschaften durchziehen und zusammenhalten, freigelegt und sichtbar gemacht und zugleich tendenziell aufgelöst. Die Corona-Krise hatte etwas Überwältigendes, und es ist dieser Zustand der Erstarrung, der mich hier interessiert. Erstarrung ist im Großen und Ganzen ein sehr seltener Zustand. Es ist ein Zustand, der uns von einem Moment auf den anderen erfasst, ein Zustand, bei dem uns weder Gewohnheiten noch gängige Kategorien helfen können, um ihn zu verstehen und wieder loszuwerden.
Von daher möchte ich meine Ausführungen mit einem Buch beginnen, dessen Gegenstand das Böse ist, das vom Menschen ausgeht: „Eichmann in Jerusalem“. Auch Hannah Arendt versuchte mit diesem Buch einem Ereignis Sinn zu verleihen, das ein Gefühl der Erstarrung hinterlassen hatte: die brutale Ermordung der Juden in Europa. Um diesem Schock Rechnung zu tragen, verwendeten sie bei ihrer Analyse einen methodischen Ansatz, den man antihistorisch nennen könnte: Sie verzichtete auf Analogien aus der Vergangenheit. Für sie stand fest: Die Vergangenheit kann weder die Gegenwart noch die Zukunft erhellen, denn, wie Tocqueville es ausdrückte: In Krisenzeiten “irrt der menschliche Geist in der Finsternis“. Die Menschheit war schon immer mit Epidemien und sogar Pandemien konfrontiert. Doch die Corona-Pandemie ist ein Meilenstein, nicht aufgrund der hohen Zahl ihrer Todesopfer (während ich an diesem Beitrag arbeitete, lag ihre Sterblichkeitsrate deutlich unter der anderer Seuchen und Krankheiten), sondern wegen der Art und Weise, wie wir gesellschaftlich, ökonomisch, politisch und symbolisch mit ihr umgehen.
Mehr als vier Milliarden Menschen weltweit haben mehr oder minder freiwillig enorme Einschränkungen ihrer Mobilität, ihrer Erwerbstätigkeit und ihres Soziallebens hingenommen. Es gab dagegen kaum Proteste. Die Menschen mussten in ihrem Haus bzw. in ihrer Wohnung bleiben (vorausgesetzt sie verfügen überhaupt über ein eigenes Zuhause), durften nicht auf die Straße, konnten kaum einkaufen gehen und auch nicht öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Dass Menschen bereitwillig auf ihre Freiheit verzichten, wenn es um den Schutz ihrer Gesundheit geht, ist an sich nicht sonderlich überraschend. Schließlich werden wir, wie Thomas Hobbes (und andere) es formuliert haben, immer bereit sein, einen großen Teil unserer Freiheit für unsere Sicherheit zu opfern. Die Angst vor dem Tod ist so mächtig, dass die Menschen bereitwillig die Autorität eines Staates akzeptieren, sofern dieser Schutz und Sicherheit verspricht. Dafür nehmen sie auch Überwachungsmaßnahmen, die grundlegende Bürgerrechte außer Kraft setzen, in Kauf sowie Ausgangsbeschränkungen, die an Hausarrest grenzen. Netanyahus und Orbans Entscheidung, das Parlament bzw. den Obersten Gerichtshof zu entmachten, gehört zum gängigen antidemokratischen Repertoire autoritärer Führer.
Was jedoch zweifelsfrei beispiellos ist, ist die Form, die diese Freiheitsbeschränkung angenommen hat: Es gab fast auf dem gesamten Planeten eine Art kollektiven Hausarrest. Ebenfalls außergewöhnlich ist die Angst, von der dieser Quasi-Hausarrest begleitet wird. Vergleichen wir es mit Kriegszeiten. In einem Krieg haben die Menschen Angst zu sterben, aber normalerweise ist das ein Prozess, der mit anderen Gruppen von Menschen zu tun hat. Wir wissen in einem Krieg, wer der Feind ist, zugleich haben wir die Möglichkeit, auf verschiedene Instrumente aus dem umfassenden symbolischen Repertoire des Heldentums zurückzugreifen. Wir können beschließen, uns dem Kampf zu stellen, wir können uns aber auch vor dem Feind verstecken.
Doch in der gegenwärtigen Corona-Pandemie sind wir auf sehr kleine Einheiten zurückgeworfen und in manchen Fällen völlig abgeschnitten vom Rest der Welt. Es gibt kaum etwas, was wir gegen die Gefahr tun können, es existiert nur ein sehr begrenztes symbolisches Handlungsrepertoire, aus dem wir schöpfen können. Die tödliche Bedrohung ist diesmal nicht die Bombe, die der Feind auf uns abwirft, sondern das, was wir unwissentlich in uns tragen und mit dem wir anderen Schaden zufügen können. Aus diesem Grund haben wir uns alle in unsere eigenen vier Wände zurückgezogen, aus Furcht vor etwas Unsichtbarem, das unsere Beziehungen zu anderen in Luft aufgelöst hat. (Dieser Virus unterscheidet sich von Ebola oder dem ersten SARS-Virus darin, dass 25 Prozent der Infizierten asymptomatisch reagieren, was bedeutet, dass alle, einschließlich der eigenen Person, a priori zu einer Gefahrenquelle werden.)
Zur Unsichtbarkeit gesellen sich Nichtwissen und Unsicherheit, was genau passiert, wenn man das Virus erwischt. Dies hat unserer Freiheit noch weiter eingeschränkt, sogar innerhalb der eigenen Wohnung oder des eigenen Hauses, da die Isolierung der Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Und doch gilt das eigene Heim als zentral, wenn es darum geht, gegenwärtig symbolische Ressourcen zu mobilisieren, die Menschen Sicherheit vermitteln und mit denen wir die Krise überwinden können. Aber kann die Wohnung/das Haus, das, was wir Zuhause nennen, diese Ansprüche tatsächlich erfüllen?
TRAUTES HEIM, GLÜCK ALLEIN?
Das berüchtigte traute Heim ist zum entscheidenden Ort geworden, von wo aus eine Krise eines bislang nie da gewesenen planetarischen Ausmaßes bewältigt werden soll. Unter Heim oder Zuhause versteht man heute gewöhnlich einen privaten Raum, in dem sich Männer und Frauen als Gleichwertige begegnen. Diese Vorstellung ist, kulturell betrachtet, ein relativ neues Phänomen. Mittelalterliche Burgen dienten weniger dem Wohnen. Vielmehr campierten die Menschen in ihnen, trafen sich dort in den großen Hallen, um gemeinsam zu essen, zu schlafen und sich zu amüsieren. Es gab in ihnen weder Privatsphäre noch sanitäre Anlagen.
Einige meinen, das Konzept des privaten Heims stammt aus dem 17. Jahrhundert und zwar aus den Niederlanden, als sich intimere Räume und Rahmenbedingungen herauszubilden begannen, die einen gewissen Komfort boten und in denen Häuslichkeit stattfinden konnte (Gemälde von Vermeer oder Franz Hals sind bekannte Darstellungen dieser Art des häuslichen Lebens). Später, im 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert wurde das Heim zum bevorzugten Ort für Frauen, zu einem Ort, an dem Gefühle zum Ausdruck gebracht werden konnten, zu dem, was der Historiker John Demos ein “Treibhaus der Emotionen” nannte, zu einem Ort, an dem Kinder und Ehepartner von den Frauen bzw. Müttern Zuwendung und Nähe erfuhren.
Selbstverständlich war die Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre nicht neu. Im Altertum waren der weibliche private Bereich und der männliche öffentliche Bereich klar voneinander unterschieden und standen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Was sich im 19. und 20. Jahrhundert jedoch änderte, war, dass das private Heim mit moralischer Bedeutung aufgeladen wurde. Frauen waren für dessen Gestaltung zuständig, man verstand es mehr und mehr nicht nur als Gegengewicht zur Sphäre der Arbeit, zum Markt sowie zum männlichen Egoismus, Konkurrenzdenken und Eigeninteresse, sondern man stellte es über all diese Dinge. Das Heim erhielt einen moralisch herausgehobenen Stellenwert. Immer stärker wurde es mit bestimmten Vorstellungen von Häuslichkeit und Weiblichkeit verknüpft, es galt als der öffentlichen Sphäre entzogen, als Reich des authentischen Selbst und als ein Ort, der der Falschheit der äußeren Welt moralisch überlegen ist.
Deswegen entwickelte sich das moderne Zuhause zu dem Ort, der für die Ideale Geborgenheit und Intimität steht. Die zahlreichen Hochglanzmagazine, die sich Fragen der Einrichtung und des Dekorierens von Häusern und Wohnungen widmen, belegen die enorme Bedeutung, die das Heim für die eigene Lebensführung erlangte. Vorstellungen von häuslicher Geborgen- und Behaglichkeit, wie wir sie heute kennen, trugen entscheidend zur Herausbildung der kapitalistischen Konsumgesellschaft bei. Style at Home, Decor, Haus und Garten, Schöner Wohnen, Style at Home, Kitchen and Bathssowie Maison Decoration sind nur einige der unzähligen Beispiele dafür, wie das (Eigen-)Heim für die Mittelschicht und Arbeiterklasse zu dem Ort wurde, an dem sie ihrer Identität, ihren Beziehungen, ihrem gesellschaftlichen Status und ihren Familienbanden Ausdruck verleihen konnten. Dies taten sie mithilfe verschiedener Mittel und Praktiken, die alle darauf abzielen, das eigene Zuhause zu verschönern und es zu einem Repositorium für Gefühle und Vertrautheit zu machen.
Hannah Arendt war eine Gegnerin dieser Romantisierung der häuslich-privaten Sphäre, ihrer Idealisierung als Flucht- und Gegenpunkt zu einer feindlichen Außenwelt. Mit Aristoteles war sie der Ansicht, das Private entspreche dem Reich des materiell Notwendigen. Im antiken Griechenland war das Heim der Ort, wo sich mithilfe physischer Arbeit das vollzieht, was zum Erhalt des menschlichen Körpers und zur Fortpflanzung der menschlichen Gattung nötig ist. Demnach war das Häusliche die Sphäre der Frauen, Kinder und Sklaven. Arendt grenzte die Privatsphäre zudem vom Öffentlichen als dem Reich der Freiheit ab, wo sich mündige, vernünftige und freie Menschen austauschen, debattieren und Entscheidungen treffen. Nur die Bürger der Polis waren frei: Sie besaßen Land, konnten sich an öffentlichen Angelegenheiten beteiligen und waren von niedrigen Haushaltsarbeiten befreit (McKeon 2007). Das Häusliche war gleichbedeutend mit Unfreiheit und fehlender Staatsbürgerschaft. Arendt war keine Feministin und konnte Macht nur im Zusammenhang mit der öffentlichen Sphäre denken, aber ihre Ansichten zum Heim ähnelten denen von vielen Feministinnen, die später eine Kritik an der Kleinfamilie und dem Hausfrauendasein übten. Für sie waren die „eigenen vier Wände“ viel zu häufig ein Ort der Unterdrückung, Gewalt und der blanken Machtausübung von Männern gegenüber Frauen und damit etwas, dem es zu entfliehen galt.
Womöglich sind die mit der Corona-Pandemie verbundenen Isolations- und Quarantänemaßnahmen ein riesiges weltweites Experiment, das seinesgleichen in der Geschichte sucht. Es bietet sich auf jeden Fall an, mit ihrer Hilfe die Thesen von Arendt und vielen Feministinnen zum häuslichen Bereich einer praktischen Überprüfung zu unterziehen. Für diejenigen von uns, die nicht mit dem Temperament von Emily Dickinson (der größten US-amerikanischen Dichterin, die die letzten 15 Jahren ihres Lebens als Einsiedlerin verbrachte) ausgestattet sind, stellt sich nämlich die Frage: Was geschieht mit dem eigenen Heim/der eigenen Wohnung, wenn dieses bzw. diese zu unserem einzigen Lebensraum wird? Wären wir tatsächlich Gegenstand eines gigantischen Experiments, durchgeführt von einer genialen und leicht verrückten Wissenschaftlerin, dann wäre eines der wesentlichen Ergebnisse ihrer Beobachtungen: Die öffentliche Sphäre der Geselligkeit und des Zusammenseins auf den Straßen und in den Cafés ist viel grundlegender für die Konstitution unserer Identität, als wir bislang angenommen haben. Das ist uns deswegen entgangen, weil wir die ganze Zeit an der Vorstellung hingen, dass Heim sei der Ort, an dem wir unser authentisches Selbst zum Ausdruck bringen.
Die erste und offensichtlichste Erkenntnis ist: Viele Wohnungen bieten nicht zuletzt aufgrund der enormen Bevölkerungsdichte in den Städten und der zunehmenden Immobilienspekulation nicht genügend Platz, um jedem Familienmitglied die Möglichkeit zu geben, sich dort wie eines der extrem individualisierten Wesen, zu denen uns die modernen Gesellschaft gemacht hat, zu verhalten und auszuagieren (man muss das Badezimmer mit anderen teilen, die Schlafräume liegen dicht nebeneinander etc.). Nur sehr wenige Häuser oder Wohnungen haben Fenster, Balkone oder Terrassen, die groß genug sind, um den Kontakt zur Straße aufrechtzuerhalten, wodurch de facto Wohnsituationen und -bedingungen entstanden, die von der Außenwelt völlig abgeschottet sind. Das volle Spektrum der kulturellen Bedeutungen, die man mit dem „trauten Heim“ assoziiert, steht nur einem bestimmten Teil der Bevölkerung zur Verfügung. Menschen, die in schlecht ausgestatteten Mietskasernen, in überbelegten Wohnungen, in Slums oder in Plattenbausiedlungen am Stadtrand leben, gehören definitiv nicht dazu.
Die zweite Erkenntnis lautet: Das familiäre und häusliche Leben ist massiv von der Institution Schule abhängig. Es sind die Erzieher*innen und Lehrer*innen, die neben den Eltern eine zentrale Rolle bei der Sozialisation der Kinder und der gesamten Reproduktionsarbeit spielen. Das Zuhause, selbst die komfortabelsten und großzügig ausgestatteten Haushalte können kein richtiger Ersatz für die Schule sein: Überall auf der Welt klagten Eltern über Gefühle von Hilflosigkeit und Erschöpfung, die sie angesichts der täglichen enorm zeitaufwendigen und kraftzehrenden Interaktionen mit ihren Kindern empfanden. Die Schließung von Schulen in den zurückliegenden Monaten führte uns vor Augen, wie extrem wichtig diese Einrichtung ist, sowohl in Bezug auf die häusliche als auch auf die öffentliche Sphäre. Es ist kein wirklicher Neustart der Wirtschaft ohne eine Wiedereröffnung der Kitas und Schulen denkbar.
Die dritte Erkenntnis: Das Heim bzw. Häuslichkeit hat zur Voraussetzung, dass Männer und Frauen strukturell voneinander getrennte Leben führen können, das heißt, dass sie die Option haben, tagsüber verschiedenen Wegen und Tätigkeiten nachzugehen. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass erwerbslos gewordene Männer häufig unter dem Verlust von Selbstvertrauen leiden und damit zu einer Bedrohung werden können, für sich selbst, aber auch für die Frauen, mit denen sie unter einem Dach wohnen. Meldungen über grassierende häusliche Gewalt während der gegenwärtigen Pandemie erinnern uns schmerzhaft daran, dass das eigene Heim für viele nur dann erträglich ist, wenn es eine Außenwelt gibt, die garantiert, dass beide Geschlechter getrennte Leben führen können, aus denen sich jeweils ausreichend Selbstwertgefühl schöpfen lässt. Nach der Aufhebung des Lockdowns in Hubei reichten rekordverdächtige Zahlen von Paaren die Scheidung ein: Sie hatten entdeckt, dass das gemeinsame Heim, wenn das Außerhalb fehlt, kein so guter Ort für das Ausleben ihrer Ehe war. Für sie (und viele andere) hat sich das Versprechen vom „trauten Heim“ nicht erfüllt.
Die Architektur der meisten modernen Häuser und Wohnungen basiert heute in hohem Maße auf der Annahme, dass ihre Bewohner*innen den Großteil des Tages außerhalb der eigenen vier Wände verbringen, entweder am Arbeitsplatz oder mit verschiedenen Freizeitaktivitäten. In einer Ende März 2020 von Vertigo Research durchgeführten Erhebung in Frankreich wurden die Teilnehmenden gebeten, auf die folgende Frage zu antworten: “Wenn die durch die Corona-Krise verhängten Einschränkungen irgendwann einmal aufgehoben sein werden, was sind die Aktivitäten/Tätigkeiten, denen Sie als Erstes nachgehen möchten?“ Auf dem ersten Platz landete: “Essen im Restaurant und ins Café gehen”. Den zweiten Platz nach dem Restaurant- und Café-Besuch belegte die Antwort “einen Film im Kino anschauen” (nachdem der TV-Konsum während der Pandemie neue Höhepunkte erreicht hatte). Auf dem dritten Platz folgte “sportlichen Hobbies nachgehen” (Ludivine 2020). Eine andere Umfrage im Auftrag der Zeitung France Soir kam zu dem Schluss, den Französ*innen habe am meisten der direkte Kontakt zu ihren Freund*innen und Bekannten gefehlt. Eine Mehrheit der hier Befragten gab an, nach Aufhebung der Kontakt- und Ausgangssperren als Erstes Freund*innen sehen zu wollen..
Eine oberflächliche Interpretation dieser Ergebnisse könnte lauten, dass wir uns an die hedonistischen Vergnügungen, die die öffentliche Sphäre bereithält, gewöhnt haben, gar danach süchtig geworden sind. Arendt jedoch bietet eine andere Lesart an. Das Private bzw. Häusliche steht im Gegensatz zum Reich der öffentlichen Auftritte, der Erscheinungswelt, die für Arendt der Schlüssel zum Verständnis der sozialen Welt ist und nach Ansicht von Barbara Carnevali, ebenfalls Philosophin, für das gesellschaftliche Leben sogar von entscheidender Bedeutung: Hier werden ästhetische Fragen verhandelt (es geht darum, wie wir uns selbst präsentieren und anderen durch die Wahl unserer Kleidung, unserer Frisur, unseres Makeups und durch unsere gesamte körperliche Gestalt gegenübertreten), zugleich finden verschiedene Interaktionen statt, in denen wir jedoch niemals Zugang zur “tiefen” Innerlichkeit der anderen erhalten, sondern nur zu ihrer äußeren Existenz. Der Bereich der Geselligkeit ist alles andere als tiefgründig: Er besteht aus verschiedenen Höflichkeitsformen, formaler Etikette, zwanglosen Gesprächen, hohlen, aber notwendigen Ritualen, kodifiziertem Verhalten, Neckereien und Koketterien, man beobachtet und bewertet das Verhalten anderer Menschen sowie ihre körperliche Erscheinung. Arendt, die hierbei auf Heideggers Begriff der “Ekstasis” zurückgreift, argumentiert, die Menschen existierten “außerhalb ihres Selbst”, und nur durch diese Äußerlichkeit agierten sie intensiv mit der Welt, und zwar über Objekte, ihre persönliche Aufmachung und Außendarstellung sowie ihre Sinne (Carnvali 2020).
Arendt sieht (so zumindest die Deutung von Carnevali) in Erscheinungen und Auftritten nichts Pathologisches. Im Gegenteil: Sie sind die Voraussetzung für Geselligkeit. Der TV-Sender CNN berichtete im April in seinen Nachrichten über eine Frau in Australien, die sich für den kurzen Weg zur Mülltonne vor ihrem Haus auffällig angezogen, geschminkt und sogar Schmuck anlegt hatte. Ein Foto davon, das sie auf ihre Facebook-Seite stellte, ging viral und erreichte viele Menschen selbst außerhalb der Landesgrenzen. Diese Frau hatte mit ihrer Spaßaktion den Nerv ganz vieler Menschen getroffen und ausgedrückt, was ihnen während des Lockdowns so sehr fehlte: das Auftreten in der Öffentlichkeit und die damit verbundenen Begegnungen.
„In Zeiten der Quarantäne und Selbstisolation verbinden manche in Australien alltägliche Haushaltspflichten mit lustigen öffentlichen Auftritten. Scrollen Sie einfach in der Facebook-Gruppe „Bin Isolation Outing“ nach unten, um hierfür Beispiele zu sehen. Zuerst war das Ganze ein Scherz unter Freunden. Inzwischen hat die Seite eine halbe Million Follower und es werden immer mehr. Die Seite ist inzwischen voll mit Fotos und Videos von Leuten aus ganz Australien (und zunehmend auch aus der ganzen Welt), die in komischen Kostümen ihre Mülltonnen an den Bordstein rollen. Danielle Askew hat die Seite vor zwei Wochen erstellt, nachdem eine Freundin witzelnd auf Facebook geschrieben hatte, sie sei eine große Anhängerin des Müllrausbringens geworden, weil ihr das die seltene Gelegenheit gebe, das Haus zu verlassen. Daraufhin forderte Askew, die in Hervey Bay, Australien, lebt, ihre Freundin dazu auf, sich für diesen Anlass in Schale zu werfen. Die kam der Aufforderung nach, gefolgt von Askew, die dann die Facebook-Seite startete und dabei zunächst nur an ihren Freundeskreis dachte. Aber die Seite erreichte schnell ein Riesenpublikum in Australien und weit darüber hinaus, sogar in den USA. Was anfangs ein Spaß im kleinen Kreis war, hat sich zu einer Quelle der Inspiration und Freude für Menschen überall auf der Welt entwickelt, da immer mehr Menschen in ihren eigenen vier Wänden festsitzen.“ (Asmelash 2020)
Arendt schrieb: “Leben heißt von einem Drang zur Selbstdarstellung beherrscht zu sein, der Reaktion auf die eigene Erscheinungshaftigkeit. Lebewesen haben ihre Auftritte wie Schauspieler auf einer für sie aufgebauten Bühne.” (Zit. nach Carnevali 2020) Der grundlegende Unterschied zwischen der Welt der Objekte und der Welt der Menschen ist, wenn man genauer hinschaut, genau das Gegenteil von dem, was wir üblicherweise denken: Gegenstände können nur das sein, was sie zu sein scheinen, während wir unsere Erscheinung, die die Essenz unseres gesellschaftlichen Lebens ausmacht, ständig verändern und anpassen können. Wir existieren für andere, und wenn die Sphäre der Freizeit und des Vergnügens eine so entscheidende Bedeutung für unsere Identitätsbildung angenommen hat, dann deshalb, weil sie eine Sphäre ist, in der wir genau dies tun können: mit unserer Erscheinung spielen.
Selbstverständlich besteht die öffentliche Welt nicht nur aus Freizeitvergnügen, sondern ist die Sphäre der Arbeit und Produktion, die gegenwärtig noch unsere Gesellschaften beherrscht. Diese Welt der Arbeit ist – darauf habe viele zu Recht hingewiesen – gekennzeichnet durch Verhältnisse der Entfremdung und Ausbeutung. Aber Arbeit strukturiert und baut das Selbst zugleich in vielerlei Hinsicht und oftmals auf nicht sichtbare Weise auf: Sie gibt dem Tag und der Woche eine zeitliche Struktur, der Arbeitsplatz ist ein Ort der Geselligkeit, an dem wir auf Kolleg*innen und Fremde treffen, er ist ein Ort, an dem wir uns darum bemühen, modisch und elegant gekleidet aufzutreten. Für viele aus der Mittelschicht ist die Arbeit auch etwas, womit wir unsere Kompetenzen und Fähigkeiten unter Beweis stellen können. Mit anderen Worten: Sie ist sowohl für Männer als auch für Frauen zur wichtigsten Sphäre für die Herstellung symbolischen Werts geworden. In diesem Sinne hat der Feminismus gesiegt: Er hat dem privaten Heim und der Hausarbeit die symbolische (und wirtschaftliche) Bedeutung genommen und die Außenwelt aufgewertet.
Das private Heim kann also nicht all das kompensieren, was durch die Abwesenheit der öffentlichen Welt verloren geht. Produktion und Konsumption sind die zentralen Mittel, mithilfe derer wir heute Wert(e) schaffen, in Kontakt mit anderen treten und sogar Intimität herstellen (dass man dies bedauern kann, ändert nichts an der Tatsache). Über die Arbeit leben wir unsere Fähigkeiten aus und erfahren Sinn. Die Welt der Freizeit bietet uns Vergnügen, Spiel und die Möglichkeit, zu sehen und gesehen zu werden. Mit dem Eingesperrtsein während der Corona-Krise war nicht nur der Verlust der öffentlichen Welt verbunden, sondern der Verlust der Welt an sich. Wenn uns die Erfahrungen mit dem Quasi-Hausarrest in den vergangenen Monaten eines gelehrt haben, dann das, wie sehr sich Rousseau geirrt hat: Ein Zustand größter Intimität und völliger Transparenz anderen gegenüber ist auf Dauer nur schlecht zu ertragen.
Mit dem Eingesperrtsein haben wir nicht nur Freiheitsverluste erfahren, sondern uns ist die Welt selbst abhanden gekommen. Für Arendt zeichnet sich die Moderne ganz allgemein durch den Verlust der Welt aus. Darunter verstand sie, dass der Bereich der Öffentlichkeit, des öffentlichen Handelns und Sprechens, zurückgedrängt wurde zugunsten des Bereichs des Privaten, der Innenschau und Selbstbetrachtung, der eigennützigen Verfolgung individueller wirtschaftlicher Interessen. Die Moderne ist das Zeitalter der Massengesellschaft, in der das animal laborans (das arbeitende Tier) über den homo faber (den schaffenden Menschen) gesiegt hat. Was wir in den zurückliegenden Wochen erlebt haben, ist eine hochgradig einschränkende Form von Häuslichkeit, die für viele nur deshalb auszuhalten war, weil sie mithilfe von Technik weiterhin ihrer Arbeit nachgehen, Filme anschauen oder mit ihren Freund*innen interagieren konnten. Das heißt, die öffentliche Welt von Arbeit und Freizeit kam per Internet in die eigenen vier Wände. Wenn jetzt viele in meinem Bekanntenkreis damit angeben, sie hätten die Corona-Krise zu Hause sehr genossen oder sie hätten sich in Vielem nicht wirklich umstellen müssen, dann sollten sie zumindest so ehrlich sein und zugeben: Das traute Heim kommt nicht länger ohne eine Menge technischer Voraussetzungen aus. Es sind moderne Technologien, die dafür sorgen, dass wir von unserer Wohnung aus an so etwas wie Öffentlichkeit teilnehmen und Tätigkeiten nachgehen können, die denen der öffentlichen Welt der Arbeit und des Vergnügens ähneln. Das private Heim kann seine eigentliche Funktion nur dann erfüllen, wenn es ein Teil der “Welt” ist. In der Corona-Krise ist uns diese Welt abhanden gekommen, sowohl als Raum, in dem wir uns ohne Angst um unsere Gesundheit und Sicherheit frei bewegen können, als auch als Raum der Auftritte und Begegnung mit anderen Menschen. Jetzt, wo sich vielerorts die Welt wieder für uns öffnet, ist es an der Zeit, von den vielen Mythen über das traute Heim Abschied zu nehmen.
Aus dem Englischen von Britta Grell