Im Jahr 2001 fand die NASA eine innovative Antwort auf ein altes Problem: Die US-amerikanische Weltraumbehörde hatte zahlreiches und hoch auflösendes Fotomaterial vom Mars zu kartografieren. Eine computerisierte Lösung war nicht möglich und die Angestellten der Behörde hätten Monate mit der Aufgabe verbracht. Also entschied sich die NASA für eine neue Art des Outsourcing: Crowdsourcing. In dem Projekt ClickWorkers wurden InternetnutzerInnen (die Crowd) dazu aufgerufen, Krater und andere Auffälligkeiten auf den Fotos, die die Behörde im Internet zu Verfügung stellte, per Mausklick zu markieren und so zur Kartografierung der Marsoberfläche beizutragen. Was im Fall der NASA als ein Projekt, bei dem »Bürger der Wissenschaft helfen«, bezeichnet wurde, ist heute ein Geschäftsmodell, das aus der politischen Ökonomie des Internets kaum mehr wegzudenken ist.
Die Crowd, also die Netzbevölkerung, produziert Inhalte in sozialen Medien, moderiert Fanforen, bewertet und verbessert Produkte, testet Betaversionen, perfektioniert durch ihr Surfverhalten die Suchalgorithmen und gibt dabei Daten preis. Digitale Ökonomien basieren zentral auf der mehr oder weniger freiwilligen Arbeit ihrer NutzerInnen. Für diesen Beitrag interessiert mich aber weniger die Ausbeutung unbezahlter Arbeit (auch die Crowd des NASA-Projekts arbeitete umsonst), sondern vielmehr Formen bezahlter Arbeit auf der Basis des Crowdsourcing-Modells: Inzwischen gibt es Millionen von digitalen LohnarbeiterInnen, vermittelt über Crowdsourcing-Plattformen, die ähnliche Aufgaben wie die Freiwilligen der NASA übernehmen: Aufgaben, die sich nicht computerisieren lassen und die gleichzeitig von einer Masse an digitalen ArbeiterInnen effizient gelöst werden können. Die Crowdworker sind wichtiger Teil der politischen Ökonomie (nicht nur des Netzes) und zugleich eine selten beachtete Klassenfraktion, hervorgebracht durch eine digitale Wiedergeburt des Taylorismus.
Menschen als Computer
Die Vermittlung von Crowdwork läuft über Internetplattformen. Die wohl bekannteste ist Mechanical Turk (mTurk) des Versandhändlers Amazon, die gegründet wurde, als dieser CDs ins Sortiment aufnahm. Damals suchte man InternetnutzerInnen, die gegen geringe Bezahlung Hunderttausende Online-Einträge überprüften, etwa ob Albentitel korrekt angegeben oder Cover jugendfrei sind. Mittels mTurk können heute auch andere Firmen Aufgaben von der Crowd lösen lassen. Auf der Website finden sich unzählige kleine Aufträge verschiedenster Auftraggeber. Die sogenannten Human Intelligence Tasks (HITs) umfassen etwa die Kategorisierung von Bildern, die Fehlersuche in kurzen Texten, Produktbeschreibungen für Verkaufsplattformen, die Teilnahme an Umfragen sowie die Erfassung und Kategorisierung von Daten jeder Art. Die Plattform wird von Auftraggebern aus unterschiedlichen Branchen genutzt. Das deutsche Energieunternehmen ENBW etwa hat hier die handschriftlichen Zählerauslesungen seiner KundInnen digitalisieren lassen, da Computer oft Probleme haben, Handschriften zu entziffern. Gelöst werden die Aufgaben von den digitalen ArbeiterInnen der Crowd in der Regel zu Hause am eigenen Computer. Der Ablauf ist simpel: Man loggt sich auf der Seite ein und akzeptiert einzelne Aufträge. Bezahlt wird pro erledigter Aufgabe, die Jugendfreigabe eines Bildes wird beispielsweise mit etwa 2 bis 5 Cent entlohnt, die Teilnahme an einer zehnminütigen Umfrage bringt etwa 50 Cent und so weiter. Auf mTurk sind 500000 ArbeiterInnen angemeldet, hauptsächlich aus den USA und Indien. Zu jeder Tages- und Nachtzeit erklicken sich schätzungsweise 10000 bis 40000 ArbeiterInnen gleichzeitig Centbeträge auf der Plattform (vgl. Strube 2015).
Weltweit gibt es inzwischen Tausende solcher Plattformen, in Deutschland allein etwa 40 und nach Schätzung der IG Metall etwa eine Million Crowdworker. Die größte deutsche Plattform clickworker etwa wirbt mit 700 000 on-demand workers und Kunden wie Honda oder T-Mobile. Auf Plattformen wie mTurk dominieren sogenannte microtasks, Aufgaben, die im Prinzip alle übernehmen können, die einen Computer und Zugang zum Internet haben. Diese ArbeiterInnen springen überall da ein, wo Computer keine (oder zumindest keine günstige) Lösung finden können. Die meisten Aufgaben werden dabei nicht von einer Person gelöst, sondern durch die algorithmisch vermittelte (unbewusste) Kooperation Tausender digitaler ArbeiterInnen. Die Crowd kann gemeinsam schnell und effektiv arbeiten und dabei gegenseitig Fehler ausgleichen. Dem zugrunde liegt eine als human computation bezeichnete Rollenverkehrung zwischen Mensch und Computer: Während in der Regel Computer Probleme für Menschen lösen, geht es hier um Probleme, für die Computer die Unterstützung lebendiger Arbeit benötigen.
Der Name Mechanical Turk verweist auf dieses Phänomen. Er leitet sich vom ›Schachtürken‹ ab, einem vorgeblichen Schachcomputer der im 18. Jahrhundert für einiges Aufsehen sorgte. Die Maschine bestand aus einer Figur, die dem Klischee eines Türken entsprach, einigen Zahnrädern und anderen Konstruktionen. Dieser Schachcomputer spielte tatsächlich erstaunlich gut und soll sogar Friedrich den Großen und Napoleon besiegt haben. Das Geheimnis dieses frühen Computers ist allerdings denkbar simpel: Im Inneren der Maschine befand sich ein kleiner Mann, der einfach gut Schachspielen konnte, wobei die mechanischen Konstruktionen für genug Ablenkung sorgten, um die Geschichte glaubwürdig zu machen. Amazons Entscheidung für den Namen ist vielsagend, genauso wie der Untertitel der Plattform: »Artificial Artificial Intelligence«, also künstlich künstliche Intelligenz. Das ganze Setup der Plattform tarnt und verkauft menschliche Arbeit als Computerarbeit. Und entsprechend sind auch die Arbeitsbedingungen.
AGB statt Arbeitsvertrag
Die digitale Arbeit auf CrowdsourcingPlattformen erfolgt nicht auf Grundlage von Arbeitsverträgen, sondern entsprechend der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) der Plattformen, die den digitalen ArbeiterInnen oftmals grundlegende Rechte verweigern. In diesem Kontext sind Krankenversicherung oder gewerkschaftliche Vertretung Fremdwörter. Darüber hinaus benachteiligt die technische Gestaltung der Plattformen die ArbeiterInnen gegenüber dem requester (Auftraggeber). Auf mTurk entscheiden beispielsweise allein die requester, ob die Arbeit zufriedenstellend ausgeführt worden ist und ob sie bezahlen wollen. Auch im Falle einer Nichtbezahlung behält der requester alle Rechte an der geleisteten Arbeit, was Lohnbetrug geradezu herausfordert. Außerdem sind die ArbeiterInnen auf positive Bewertungen angewiesen, um neue Aufträge zu bekommen. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie Ungleichheit in den technologische Aufbau der Plattformen eingeschrieben ist: Technologie ist niemals neutral, sondern immer »ein materielles Bild gegenwärtiger Klassenkämpfe und darüber hinaus ein Ausdruck vergangener Siege des Kapitals« (Williams 2013).
Ein großer Teil der microtasks ist hochgradig langweilig, repetitiv, ermüdend und schlecht bezahlt. Die Mehrzahl der Clickworker auf mTurk erzielt einen Stundenlohn zwischen einem und drei US-Dollar. Nur sehr erfahrene NutzerInnen (sogenannte Powerturker) erzielen ein Einkommen im Bereich des Mindestlohns. Sie sind erfahren und geübt und wissen, welche HITs sich lohnen. Auch beim deutschen Branchenführer clickworker liegen die Löhne maximal auf Mindestlohniveau, welches aber wiederum nur einige wenige erfahrene KlickarbeiterInnen tatsächlich erreichen. Es geht also um hochgradig prekäre Niedriglohnjobs, ohne soziale Sicherheit, geleistet in Heimarbeit und für einen minimalen Stücklohn. Wer also sind die digitalen ArbeiterInnen, die diese Form der künstlichen künstlichen Intelligenz konstituieren?
Digitale Klassenneuzusammensetzung
Ein Teil der Crowdworker etwa versteht das Lösen von microtasks gar nicht als Arbeit, sondern loggt sich aus Spaß, Langeweile oder ähnlichen Gründen ein. Zumindest muss der Lohn nicht immer der einzige Anreiz sein: »Ich bin seit 2011 Arbeiterin bei Mechanical Turk von Amazon«, so Carolyn, eine 68-jährige Rentnerin mit Doktortitel. »Die Plattform trägt zu meiner Rente bei, aber das ist nicht der wichtigste Grund. Ich mag die Aufgaben, um geistig frisch zu bleiben.«1 Nicht nur Crowdsourcing-Plattformen, sondern auch andere Unternehmen versuchen, sich dieses Phänomen zu eigen zu machen, indem Aufgaben so aufbereitet werden, dass NutzerInnen sie aus Spaß erledigen (oft unter dem Stichwort gamification diskutiert).