In »Kinder von Hoy« schreibst du über deine Kindheit und Jugend in den 1970er- und 1980er-Jahren in Hoyerswerda und über die schmerzhafte Zeit nach der Wende. Wie werden diese »Osterfahrungen« heute thematisiert?

Zu wenig. Sowohl über den Alltag in der DDR als auch über die Nachwendezeit müsste viel mehr gesellschaftlich gesprochen werden. Teils passiert das jetzt unter dem Begriff »Ostidentität«. Das ist ein schillernder Begriff. Er macht aber deutlich, dass die Erfahrung eines gesellschaftlichen Bruchs und das damit einhergehende Gefühl von Deklassierung weitergegeben werden. Obwohl in der Lausitz eine neue Transformation begonnen hat, auf einmal relativ viel Geld da ist und es neue Beteiligungsmöglichkeiten gibt, kommt keine Aufbruchsstimmung auf. In der jungen Generation hält sich das Gefühl, dass man für eine lebenswerte Zukunft in den Westen gehen muss, weil hier einfach nichts ist.

Stimmt das nicht zum Teil?

Ja und Nein. Es gibt in der Lausitz inzwischen massenhaft Arbeitsplätze. Andererseits fehlt es tatsächlich an Infrastruktur. Wenn man sich mitjungen Leuten unterhält, sagen sie: Es gibt in der Stadt nichts, was sie interessiert, keine Kultur, keine Clubs. Auch das sind ja Folgen des Strukturbruchs. Früher war Hoyerswerda hervorragend angebunden. Heute sind die Bahnverbindungen alle weg, die meisten Busse fahren nicht mehr. Das ist eine Frage der Lebensqualität. Wenn ich 18 bin, warte ich nicht, dass in zehn Jahren wieder ein Zug fährt, dann will ich jetzt in einen Club.Daraus resultiert eine große Vereinzelung.

Ich bin 1992 mit meinen Eltern aus Oberwiesenthal in Sachsen nach Bayern gezogen. Nach ein paar Jahren ist meine alte Schule geschlossen worden und das Kulturhaus. 1989 haben dort 4 500 Menschen gelebt, dann nur noch 2 500. Es gab viele Arbeiterferienheime, Betriebe und drumherum die gesamte Infrastruktur, vom Friseur bis zur Kultur. Das war die Form von Regionalentwicklungspolitik, die die DDR gemacht hat. Als all das weg war, hat es die Leute aufs Private zurückgeworfen. Man hatte tatsächlich eine bessere Chance, wenn man weggegangen ist. Aber es war anstrengend für unsere Familie, sich völlig neu zurechtzufinden. Jetzt sind meine Eltern wieder an Berlin herangezogen, weil sie bei uns in der Nähe sein wollten.

Ja, es gibt auch die gegenläufige Bewegung: Viele kommen zurück, aber Leute in meinem Alter ziehen auch jetzt in den Westen, weil die Kinder und Enkel dort sind. Die Binnenmigration prägt bis heute den Osten, sie ist eine Folge des Bruchs: Wenn über 50 Prozent der Bevölkerung weggehen, wie in Hoyerswerda, ist klar, dass weitere Bewegungen und Verwerfungen folgen.

Wir stehen ja vor einer neuen Transformation: Kohleausstieg, der Aufbau neuer Industrien, gleichzeitig werden wieder Zulieferbetriebe geschlossen. Würdest du sagen, dass den Ostdeutschen die letzte Transformation noch in den Knochen sitzt und sie deshalb besonders sensibel auf die gegenwärtige reagieren?

Mein Eindruck ist, dass auch der aktuelle Umbau den Osten härter trifft. Das liegt teils daran, dass es die börsennotierten Unter- nehmen nicht gibt, weil die meisten Betriebe eine »verlängerte Werkbank« von Westun- ternehmen sind. Im Zweifel wird als Erstes die Ostbude geschlossen. Es gibt kaum noch nennenswerten Widerstand, was auch daran liegt, dass der Osten in jeder Hinsicht strukturschwach ist, auch politisch.

Wenn wir über eine linke Industriepolitik nachdenken, was müsste anders laufen, damit die Menschen bereit wären, sich auf eine neue Transformation einzulassen, und womöglich auf Verbesserung hoffen?

Neuansiedlungen müssten in strukturschwache Gebiete gehen. Aber welcher Betrieb will sich in einer Region ansiedeln, in die kein Zug fährt? Das ist ein Teufelskreis. Man kann das nur politisch lösen, das regelt kein Markt. Es braucht gezielte Anreize und Rückkehrerprogramme. Parallel muss eine Infrastruktur entwickelt werden, eine Verkehrs- und auch eine soziale und kulturelle Infrastruktur. Dem Gefühl der Resignation muss man eine Kultur des Aufbruchs entgegensetzen. Das kostet unfassbar viel Kraft und man löst es nicht nur durch Geld. In die Lausitz wird ohne Ende Geld gepumpt, vier Millionen Euro für das Lausitz-Festival zum Beispiel. Aber wie viel davon landet real hier? Der Hamburger Intendant holt die Künstler aus Hamburg. Es klingt banal, aber das ist für mich die Osterfahrung schlechthin: ein kolonialisiertes Gebiet zu sein. Jemand kommt und zeigt uns, wie es geht. Dabei könnten wir das vielleicht ganz gut allein, gäbe es eine ermöglichende Politik, eine partizipative Politik, die den Leuten etwas zutraut.

In deinem Buch beschreibst du diese Kulturclubs in den Wohnblocks, die es den Jugendlichen ermöglicht haben, dort ihr Ding zu machen.

Heute ist das viel schwerer. Ein paar Jugendliche wollten in Hoyerswerda einen Jugendclub gründen. Sie haben zweieinhalb Jahre gebraucht, um überhaupt einen Raum zu bekommen. Und da reden wir noch nicht vom Geld, um mal eine Band einladen zu kön- nen. Das Narrativ über die DDR ist ja immer, dass alles so begrenzt war und man nichts machen konnte. Tatsächlich konnten wir aber ziemlich oft mehr oder weniger machen, was wir wollten. Heute, wo man sagt, dass die Jugendlichen frei sind, da können sie nicht mal eine Band einladen.

Es gibt so viele Geschichten über den Osten. Selten werde ich mal gefragt, wie es für mich eigentlich war.

Ja, die meisten wissen immer schon, wie es war. Der Osten war immer in der Position, lernen zu müssen. Bis heute können wir kaum auf Augenhöhe sprechen, und immer noch wird der Osten hauptsächlich als Diktaturerfahrung thematisiert. Die letzten 30 Jahre hingegen, dieser Strukturbruch – ich wüsste nicht, wo das ernsthaft reflektiert würde oder wo das verbrecherische Wirken der Treuhand in einer breiten gesellschaftlichen Debatte aufgearbeitet worden wäre. Wenn man sich verdeutlicht, was da in den 1990er-Jahren im Osten los war: Innerhalb eines Jahres wurden in einer Stadt alle Fabriken geschlossen, Tausende von Leuten auf die Straße gesetzt, und niemand hat sich darum kümmert, was aus denen wird. Man muss nicht Soziologie studiert haben, um zu wissen, dass das sozialer Sprengstoff ist. Auch die rassistischen Ausschreitungen von damals haben damit zu tun und stecken uns noch in den Knochen. Es hätte ganz anders kommen können, wenn die Leute nicht einfach alle weggegangen wären. So ist es eben eine abgehängte Region geworden. Aber was die Menschen dort erlebt haben, ist schlicht nicht aufgearbeitet, und die ostdeutschen Biografien kommen in der gesamtdeutschen Erzählung kaum vor.

»Das ist für mich die Osterfahrung schlechthin: ein kolonisiertes Gebiet zu sein.«

Dieses Gefühl des Abgehängtseins wird oft als rein ökonomische Frage verhandelt. Das reicht aber nicht. In der Lausitz zum Beispiel geht‘s den Leuten wirtschaftlich nicht so schlecht. Natürlich gibt es Angst, materiell abzusteigen, aber das Gefühl der Deklassierung nährt sich nicht nur aus Armut.

Siehst du einen Zusammenhang zwischen einer fehlenden Aufarbeitung und dem Erstarken rechter Bewegungen?

Auf dem ganzen Land lastet ein Trauma, das nicht aufgearbeitet wurde, auch von den Linken nicht. Es gibt keinen Raum für diesen Schmerz. Wenn das immer beiseite- geschoben wird, kommt dabei etwas Übles raus. Wir Ostler rennen mit so einer großen Wunde durch die Gegend. Hinzu kommt ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Staat. Das nehmen Bewegungen wie Pegida oder die Corona-Proteste auf und sagen: »Es reicht, jetzt zeigen wir denen mal, dass wir existieren.« Andererseits gibt es diese von unten organisierten sozialen Bewegungen. Die Leute gehen auf die Straße und wehren sich. Natürlich stimme ich politisch nicht zu, aber es sind kulturelle Praxen, die man erst einmal beherrschen muss.

Die Selbstermächtigung wird aber ad absurdum geführt, wenn sie dann autoritären Konzepten anhängen.

Ich glaube nicht, dass alle autoritären Konzepten anhängen, der Protest ist divers. Es sind nicht die klassischen Rechten von vor 30 Jahren. Natürlich wäre es trotzdem schön, wenn sich das politisch in eine andere Richtung wenden würde. Aber dafür braucht es eben eine Aufarbeitung der Osterfahrungen. Und es braucht echte Partizipation, sonst spielt es der Rechten in die Karten.

Wie also bekommt die Fähigkeit zur Selbstorganisierung eine Richtung, von der aus wir eine linke Zukunft bauen können? Gibt es Aspekte der DDR-Erfahrung, an die wir anknüpfen können?

Da ist auf jeden Fall die Erfahrung der Egalität. Es war nicht so entscheidend, ob mein Vater Chefarzt oder Bergarbeiter ist. Natürlich gab es Unterschiede zwischen den Familien, aber sie waren nicht so bedeutsam, haben nicht deinen Lebensweg bestimmt. Von diesem Bewusstsein sind im Osten noch Reste da, das ist eine Chance. Auch die Geschlechtergerechtigkeit und die Emanzipation der Frauen sehe ich als Anknüpfungspunkt. 

Es gab diese Erfahrung von Absicherung.

Klar, die DDR war vom Idealzustand weit entfernt. Aber es gab ein anderes Selbstbewusstsein. Es wurde ganz selbstverständlich über Abtreibung geredet, und es war klar, dass das eine gesellschaftliche Frage ist und nicht nur eine persönliche Entscheidung. Frauen waren weniger aufs Private zurückgeworfen. Ich habe zum Beispiel keine Sekunde darüber nachgedacht, ob ich Kinder haben möchte. Ich bin mit der Selbstverständlichkeit großgeworden, dass ich Kinder will und einen Beruf.


Das Gespräch führte Jana Seppelt.

Weitere Beiträge