Zäsur, Zeitenwende, Epochenbruch – die Begriffe, mit denen die russische Invasion der Ukraine charakterisiert wird, erzeugen das Bild einer nicht vorhersehbaren und überraschend hereinbrechenden historischen Katastrophe. Sie blenden das „Davor“ und „Danach“ tendenziell aus, also den größeren Transformationsprozess, den der globale Kapitalismus derzeit durchläuft und in den der Stellvertreterkrieg in der Ukraine eingebettet ist. Das Bild eines „externen Schocks“, das bereits bei der Finanzkrise 2008, der Coronapandemie 2020 und nun bei der Invasion der Ukraine bemüht wird, ist Teil einer bürgerlichen Weltauffassung, bei der die systemischen Ursachen und Zusammenhänge ausgeblendet werden. Die tiefgreifende Krise des neoliberalen Kapitalismus und der ihn einrahmenden Weltordnung wird unsichtbar gemacht, was übrig bleibt ist eine Konfrontation zwischen dem seinem Selbstverständnis nach demokratisch-liberalen Westen und dem illiberal-autoritären russisch-chinesischen Osten. Trotz des berechtigten Entsetzens über den russischen Angriffskrieg ist es die Aufgabe der Linken, diese vereinfachte Gegenüberstellung zurückzuweisen und die systemischen Ursachen und Lösungsmöglichkeiten der Krise aufzuzeigen. 

Organische Krise 

Die krisenhaften gesellschaftlichen Entwicklungen haben sich in den vergangenen 15 Jahren enorm beschleunigt. Während die strukturelle Krise der neoliberalen Globalisierung sich zunächst nur in Finanzkrisen im globalen Süden und der Asienkrise 1997/98 äußerte, erreichte sie mit der Dotcom-Krise 2000/01 und schließlich der Finanzkrise 2007/08 die kapitalistischen Zentren. Die staatliche Bankenrettung in Folge der Finanzkrise führte in einer Reihe von Ländern zu Staatsschuldenkrisen und in Europa zu einer Krise des Euro-Währungsraumes, die in der Erpressung Griechenlands durch die Europäische Zentralbank im Jahr 2015 kulminierte. Neben nie dagewesenen fiskalpolitischen Rettungsmaßnahmen für Banken und Unternehmen setzten die kapitalistischen Zentren neben historisch niedrigen Leitzinsen vermehrt unmittelbar auf die Geldschöpfungsfunktion der Zentralbanken, um das Bankensystem und die Kapitalakkumulation zu stützen. Diese Maßnahmen machen die kapitalistischen Zentren jedoch auch handlungsunfähig angesichts der zunehmenden Inflation – denn ein Ende der Anleihekäufe oder eine deutliche Abweichung von der Niedrigzinspolitik hätte schwer abzusehende ökonomische Folgen.


Doch nicht nur die ökonomischen Krisentendenzen nehmen zu und beschleunigen sich. Vielmehr handelt es sich um eine große, „organische“ Krise, in der die ökonomische Krise nicht mehr mit den bewährten politischen Mitteln gelöst werden kann und die sich daher auch „im Politischen, in einer Krise der Demokratie und in verschärften internationalen Konflikten manifestiert“ (PROKLA 185, 507 –542). Die Eskalation des Konflikts zwischen dem Westen und Russland in Form des Ukraine-Kriegs markiert keine historische Kehrtwende (und auch nicht der erste Krieg in Europa seit 1945, der zuerst in Bosnien und dann im Kosovo geführt wurde), sondern reiht sich in eine Linie zunehmender geopolitscher und kriegerischer Auseinandersetzungen ein: „Während nach der Jahrtausendwende zunächst ein Rückgang der weltweit geführten Kriege festgestellt wurde, hat sich dieser Trend im letzten Jahrzehnt umgekehrt und in den betroffenen Ländern zu den höchsten Opferzahlen seit dem Ende des Kalten Krieges geführt, und zwar insbesondere im Irak, in Afghanistan, in der Ukraine, in Israel-Palästina, im Jemen und ganz besonders in Syrien“ (ebd.). Die meisten dieser Konflikte haben nicht primär innerstaatliche Ursachen, sondern sind Ausdruck internationaler Machtkämpfe. Diese äußern sich auch als Krise des Global Governance Systems, etwa in der Blockade der Welthandelsorganisation oder in der zunehmenden Irrelevanz der G20. Die Krise des westlich dominierten, global angelegten Wirtschafts- und Herrschaftsraums mit seinen internationalen Organisationen, seiner militärischen Übermacht und dem US-Dollar als Leitwährung beschleunigt sich.


„Krise“ bedeutet dabei jedoch nicht einfach den schnellen Zerfall der ökonomischen und militärischen Ordnung. Vielmehr steht sie für einen beschleunigten Transformationsprozess mit widersprüchlichen Erscheinungen. So äußert sich die Krise der westlichen Währungshegemonie zunächst als gesteigerte Macht derselben: Der russische Staatsschatz von 630 Milliarden Dollar an Devisenreserven konnte mit einem Handstreich zum Verschwinden gebracht werden, indem westlichen Banken, die diese Devisenreserven in Form von Anleihen verwalten, das Geschäft mit der russischen Zentralbank versagt wurde. Dieser drastische Schritt verdeutlicht zum einem die Macht der westlichen Regierungen, die zum Beispiel im Falle einer Eskalation des Konflikts um Taiwan auch die 3 300 Milliarden Dollar an Devisenreserven der chinesischen Zentralbank blockieren könnten. Zugleich wird diese drastische Maßnahme die Suche nicht-westlicher Regierungen nach einer alternativen Devisenwährung zur Wertanlage drastisch beschleunigen. 

Die vierte große Krise des Kapitalismus 

Große, organische Krisen des Kapitalismus, die sich von den regelmäßigen, zyklischen Krisen der Kapitalakkumulation unterscheiden, dauern für gewöhnlich mehrere Jahrzehnte an und werden erst aufgehoben, wenn sich eine neue kapitalistische Entwicklungsweise, neue nationalstaatliche und internationale wirtschaftspolitische Arrangements und eine neue internationale Machtordnung herausentwickeln. In der ersten großen Krise des Kapitalismus in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden Zentralbanken und geldpolitische Instrumente geschaffen, die im Kontext des britischen Empires die Grundlage für eine erste Welle der Globalisierung schufen. Zugleich wurde die Krise der damaligen extensiven Kapitalakkumulation insbesondere durch imperialistische Strategien gelöst, die in den ersten Weltkrieg mündeten. Die längere Instabilität des Kapitalismus konnte erst durch eine neue Entwicklungsweise, den Fordismus, überwunden werden. Der Fordismus wurde ausgehend von den USA verbreitet und durch das Bretton-Woods-System und keynesianische Fiskalpolitik eingerahmt. Beides geriet in den 1970 Jahren angesichts von ausbleibenden Wachstumsraten bei gleichzeitiger Inflation in eine Krise. Sie wurde durch eine neue, schuldenbasierte Entwicklungsweise aufgelöst, die auf dem Ende der Gold-Bindung des Dollars, der Transnationalisierung der Produktion und der Internationalisierung der Finanzmärkte beruhte. Die Krise dieser neoliberalen, finanzdominierten Entwicklungsweise und der sie einrahmenden, westlich dominierten Weltordnung stellt die vierte große Krise des Kapitalismus dar (vgl. Decker/Sablowski 2017). 


Der besondere und durchaus historisch zu verortende Charakter der derzeitigen politischen und ökonomischen Verschiebungen besteht darin, dass sie den Beginn einer qualitativen Intensivierung und Beschleunigung der Krise markieren könnten. Standen wir bisher am Anfang der vierten großen Krise des Kapitalismus, treten wir nun möglicherweise in eine zweite Phase der Krisendynamik ein. Diese ist durch vermehrte geopolitische Konflikte und Blockbildungsprozesse gekennzeichnet, die wiederum die ökonomische Krise und die Krise der Demokratie vorantreiben. Das Verhältnis von Kontinuität und Bruch in der Transformation des globalen Kapitalismus in seiner organischen Krise lässt sich dabei nicht vorhersehen. Der Ukraine-Krieg kann in wenigen Wochen oder sogar Tagen durch einen vorläufigen Kompromiss beendet sein, doch genauso ist eine flächendeckende Eskalation des Konflikts denkbar. Sicher ist, dass die geopolitischen und ökonomischen Konflikt- und Krisenpotenziale erst am Anfang ihrer Entfaltung stehen. Schon lange zeichnet sich ein kalter Krieg zwischen China und den USA ab, der etwa um Einflusszonen im südchinesischen Meer ausgetragen wird. Auch die ökonomischen Krisendynamik kann erneut an Fahrt gewinnen. Neben einer Beschleunigung der Krise des Dollars als Weltwährung und den damit einhergehenden Verwerfungen können erneute Schuldenkrisen entstehen, die weiter in die kapitalistischen Zentren vordringen. 

Kapitalistische Planwirtschaft? 

Die Herausbildung einer neuen, tragfähigen kapitalistischen Entwicklungsweise, neuer funktionsfähiger Wirtschaftspolitiken und einer neuen, stabilen Weltordnung im Zuge einer organischen Krise stellen keine Automatismen dar. Verschiedene Charakteristiken der aktuellen Krise sprechen für einen langandauernden Krisenverlauf mit ungewissem Ausgang. Noch nicht absehbar ist zum einen, ob sich derzeit eine neue Akkumulationsweise herausbildet, die längerfristig stabil ist und umfassende Profite und Wachstumsraten bescheren kann. Ein „grüner Aufrüstungskapitalismus“ der in grünes Kapital und Waffenproduktion investiert, stellt zwar für bestimmte Kapitalfraktionen Profite in Aussicht. Andererseits kann er an die Wachstumspotenziale des Fordismus ab den 1930er Jahren oder der neoliberalen Globalisierung ab den 1970er Jahren nicht anknüpfen. Viele kapitalistischen Märkte sind gesättigt und global ausgedehnt. Weder sektoral noch geographisch können neue Märkte erschlossen werden. Überakkumuliertes Kapital in seiner finanziellen Form kann immer schwerer gewinnbringend angelegt werden und fließt daher spekulativ in Sektoren, die über Zins- oder Mieteinnahmen Kapitaleinkommen generieren, ohne den Gesamtkreislauf des Kapitals zu durchlaufen. Es ist unklar, ob durch Innovationsprozesse und öffentliche Investitionen eine neue, langfristig stabile Wachstumsdynamik in Gang gesetzt werden kann, oder der Kapitalismus nach seiner über 200-jährigen Expansions- und Entwicklungsgeschichte an seinen internen „Grenzen des Wachstums“ angekommen ist. 


Daneben zeigen sich die äußerlichen Grenzen des Wachstums immer deutlicher. Fossile Energieträger und andere natürliche Ressourcen, auf denen die Kapitalakkumulation seit dem 18. Jahrhundert basiert, gehen in wenigen Jahrzehnten zur Neige. Dies sowie die sich beschleunigt vollziehende Klimakatastrophe und Zerrüttung zusammenhängender Ökosysteme stellen spezifische Faktoren dar, die in vergangenen großen Krisen keine Rolle gespielt haben. Vieles spricht dafür, dass sich im Zeichen des notwendigen Umbaus der energetischen Basis der kapitalistischen Produktion, der Anpassung an die Folgen des Klimawandels, der Rationierung knapper Ressourcen und Nahrungsmittel sowie der für militärische Abschreckung und Konflikte notwendigen Investitionslenkung eine planwirtschaftlich-kapitalistische Entwicklungsweise herausbildet, die etwa im chinesischen Entwicklungsmodell, jedoch auch in den massiven Anleihekäufen der westlichen Zentralbanken ihren Anfang genommen haben könnte. In der organischen Krise des globalen Kapitalismus könnte sich ein autoritäres, mehr auf Planungs- denn auf Marktinstrumenten beruhendes Wirtschaftssystem herausbilden. 

Die Folgen für die gesellschaftliche Linke 

Die organische Krise des neoliberalen, global ausgebreiteten kapitalistischen Wirtschaftssystems hat ganz unterschiedliche Folgen für progressive Kämpfe in den unterschiedlichen Gesellschaftsformationen. Je nach zeitlich und geographisch spezifischem Charakter der organischen Krise des globalen Kapitalismus, ob sie sich eher als Krise der Ökonomie, der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, der sozialen Reproduktion und Infrastruktur, der Geschlechterverhältnisse, der Grenzregime, der bürgerlichen Demokratie oder der internationalen kapitalistischen Beziehungen äußert, verändert sich die Ausgangslage für linke und sozialistische Kräfte. Unmittelbar verschiebt der Krieg die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in der Ukraine und in Russland. Während die längerfristigen innenpolitischen Folgen in der Ukraine derzeit nicht abzusehen und vom Fortgang der Kriegshandlungen abhängig sind, zeichnen sich für Russland unterschiedliche Szenarien ab. Beispielsweise können der Ukraine-Krieg und seine ökonomischen Auswirkungen zur Spaltung des Machtblocks in Russland und zur Herausbildung alternativer Herrschaftsstrategien führen, die das Putin-Regime gemeinsam mit der russischen Demokratie- und Friedensbewegung herausfordern. Doch auch die Herausbildung einer totalitären Diktatur in Russland ist denkbar. 


In Deutschland zeichnen sich ebenfalls weitreichende politische Verschiebungen ab. Die statische Situation, die nach dem Ende der intensivierten Rechtsverschiebung der Jahre 2015–18 eingesetzt hat, wird erneut durch eine dynamische Situation abgelöst, in der sich Diskurse, Akteurskonstellationen und Kräfteverhältnisse wandeln. Wie tiefgreifend dies sein wird, hängt von der Dauer des Konflikts ab und davon, welche Eskalationsstufen ihn begleiten. Doch auch im Falle eines baldigen (und womöglich nur vorläufigen) Waffenstillstands wird die ökonomische Blockbildung aller Voraussicht nach beschleunigt voranschreiten. Die starken ökonomischen Verflechtungen und die Energieimporte aus Russland, die nun zurückgefahren werden müssen oder zusammenbrechen, stellen für einige Kapitalfraktionen und den Staat als ideellen Gesamtkapitalisten eine enorme Herausforderung dar. War der Umstieg auf erneuerbare Energien bisher ein vornehmlich klimapolitisches Projekt, das von der Klimabewegung insbesondere als wissenschaftlich geführte Diskussion um die Folgen des Klimawandels vorangetrieben wurde, bekommt die Energiewende nun eine verstärkt sicherheitspolitische Dimension – mit paradoxen Auswirkungen. Zum einen werden kurzfristig (und möglicherweise über Jahre) nicht aus Russland stammende fossile Energieträger und sogar Atomkraft rehabilitiert. Zum anderen ist der massive Ausbau erneuerbarer Energien und auch der Umbau der Wirtschaftssektoren zum Einsparen von Energie noch dringlicher geworden. 


Genau an diesem Punkt können progressive Kämpfe ansetzen. Neben dem Abwehrkampf gegen den fossilen Roll-Back geht es nun vor allem darum, den Kampf für ein baldmöglichstes Ende aller fossilen Ressourcen und vor allem den öko-sozialistischen Umbau der Wirtschaft offensiv voranzutreiben. Dabei spielt der Klimabewegung in die Hände, dass neoliberale Prinzipien im Kontext des Ukraine-Krieges ein weiteres Mal über Bord geworfen werden. Nach der Rettung der Banken in der Finanzkrise und den gewaltigen Sonderkrediten für Unternehmen in der Coronapandemie werden nun ein weiteres Mal öffentliche Mittel über Nacht aus dem Hut gezaubert, obwohl doch eigentlich kein Geld da ist. Die neoliberale Gouvernementalität, die auf unpolitischen Zentralbanken, ausgeglichenen Haushalten und scheinbar unhintergehbaren ökonomischen Sachzwängen beruht, wurde erneut durchbrochen. Das bietet den linken und öko-sozialistischen Teilen der Klimabewegung die Möglichkeit, die neoliberal-kapitalistischen Ansätze der Energie- und Mobilitätswende der Ampel-Regierung in Frage zu stellen und Forderungen nach der Abschaffung der Schuldenbremse, nach massiver Investitionslenkung und -planung sowie nach Vergesellschaftung und Konversion verschiedener Wirtschaftsbereiche in den Mittelpunkt zu stellen. Zugleich bieten sich auch neue Möglichkeiten, Forderungen nach Postwachstum und demokratischer Planung konkret zu machen, denn der schnelle Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Energieträger ist ohne das gezielte Herunterfahren bestimmter Industrien und die Einschränkung des Individualverkehrs nicht zu leisten. 


Während die herrschende Politik den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern als sicherheitspolitisches Projekt vorantreibt – und dabei zeitweise trotz des durch den neuen IPCC-Bericht drastisch vor Augen geführten Klimanotstands wieder Kohlekraftwerke ans Netz nimmt –, kann die Klimabewegung zugleich Teil einer neuen Friedensbewegung werden. Klimakatastrophe und Krieg haben gemeinsame Wurzeln. Der Wettstreit um knappe Ressourcen und fossile Energien stellt eine maßgebliche Triebkraft in geopolitischen Konflikten dar. Eine friedliche Welt, in der alle Menschen ein gutes und sicheres Leben führen können, ist nur durch globale Abrüstung und Transformation denkbar. Diese positive Vision einer Welt mit viel weniger Ressourcen- und Energieverbrauch, die sich durch eine öko-sozialistischen Transformation des Kapitalismus aufbauen lässt, wäre die Grundlage für ein Ende der Ära kapitalistischer Kriege seit dem 19. Jahrhundert. Diese Vision ließe sich der Wagenburg-Mentalität entgegenstellen, die nur auf die Verteidigung der eigenen Sicherheit und des eigenen Lebensstils abzielt und in der eine progressive globale Vision gar nicht mehr denkbar und die Aufrüstung der eigenen nationalen Armee daher sinnvoll erscheint.