KEINE KRISE IN DER KRISE?

Der Kapitalismus ist in der Krise und doch werden die herrschenden Eliten weder abgewählt noch abgewickelt. Dabei kriselt der Kapitalismus nicht nur in Russland, Mexiko oder Indonesien, sondern global und in seinen Zentren. Wie 1929 wurde die Wall Street zum Epizentrum. Die größte Wirtschafts- und Finanzkrise verbindet sich mit einer Krise der Lebensgrundlagen der Menschheit – Ernährung, Klima, Wasser. Dem fossilen automobilen Kapitalismus gehen die Brennstoffe aus. Wieso können die herrschenden Eliten die Tagesordnung weiter bestimmen, und warum geht bisher von der Linken kein Aufbruch aus? Die Krise ist bisher die Stunde der Herrschenden. Es sind ihre Projekte, die den Kern des Systems schützen und zugleich Angebote an die Lohnabhängigen und die Mittelschichten machen – die Rettung von Bankeinlagen, Hauseigentum, Arbeitsplätzen und sogar der Kauf neuer Autos mit staatlicher Unterstützung, die Abwrackprämie. Wenn die Kanzlerin der Bundesrepublik kurzerhand die Absicherung von über einer Billion Euro Spareinlagen verspricht, demonstriert sie Herrschaftsfähigkeit. Die Interessen von Finanzoligarchien, transnationalen Konzernen, den Standorten des globalen Wettbewerbs und großer Teile der lohnabhängigen Bevölkerung sollen unter dem Primat des Erhalts eines modifizierten Finanzmarkt-Kapitalismus zusammengeschmiedet werden.

WIE STABIL IST DER NEOLIBERALE FINANZMARKT-KAPITALISMUS?

Der Finanzmarkt-Kapitalismus ist im Gefolge einer neoliberalen Gegenreform entstanden. Seine Entwicklungsweise ist paradox: Er kann seine Expansion nur vorantreiben, indem er seine eigenen Existenzbedingungen zerstört. Er muss deshalb in tiefe Akkumulations-, Reproduktions-, Integrations- und Sicherheitskrisen führen (Brie 2006). Sein Marktradikalismus mündet im Krisenkapitalismus (Klein 2008). Vom Neoliberalismus sind weder ein neuer Akkumulationsschub noch ein neuer gesellschaftlicher Konsens zu erwarten (Candeias 2009, 19). Ohne eine Überwindung des neoliberalen Kapitalismus wären die Desaster der Zukunft: 1 Die Akkumulation des neoliberalen Finanzmarkt-Kapitalismus wird vor allem durch die Anhäufung von Finanztiteln stimuliert. Eine globale Klasse von Vermögensbesitzern fordert ihren Tribut an der Wertschöpfung ein. Die »vermögensgetriebene Akkumulation« erhält das Primat gegenüber der realwirtschaftlichen Akkumulation (Bischoff 2006, 58). In einer gigantischen Blase wurden global fast 200 Billionen Dollar Finanzvermögen aufgehäuft, dem nur rund 55 Billionen Dollar jährliches globales Bruttosozialprodukt gegenüberstehen. Wie ein Alb lasten diese Finanzansprüche auf den Gesellschaften und wollen als Zinsen und Profite eingelöst werden. Wenn versucht wird, diesen Typ von Kapitalakkumulation zu retten und wieder in Gang zu setzen, ist dies nur um den Preis eines noch größeren Ungleichgewichts zwischen Real- und Finanzwirtschaft möglich. Damit würde der Keim einer neuen Finanzkrise gelegt. 2 Auch die langfristige Reproduktion der Gesellschaft ist in Gefahr geraten. Da in den 1970ern die Chance der Verbindung von Sozial staat und ökologischem Umbau verpasst und auf eine weitere Ausdehnung des fossilen Kapitalismus gesetzt wurde, verschärfen sich die Ungleichgewichte im Verhältnis von Mensch und Natur, kippt das Klima global, sind in vielen Ländern die notwendigen Aufwendungen für die menschliche Entwicklung in Bildung, Gesundheit und Pflege unzureichend. Ein Zivilisationswandel ist überlebensnotwendig (Wuppertal Institut 2009). 3 Die Kurzfristigkeit von Arbeitsverhältnissen, die ständige Gefahr des Absinkens in Armut, die radikale Orientierung auf den beruflichen Erfolg zerstören den Zusammenhalt. Die neoliberalen Konkurrenzgesellschaften erschweren innergesellschaftliche Solidarität und arbeiten dem Rechtsextremismus zu. 4 Die sich zuspitzende Akkumulations-, Reproduktions- und Integrationskrise des Finanzmarkt-Kapitalismus führt dazu, dass die gesellschaftlichen Widersprüche zu unversöhnlichen Gegensätzen werden, als fundamentalistische Auseinandersetzung des Westens mit anderen Kulturen interpretiert und gewaltsam ausgefochten werden. Die Gefahr steigt, dass das 21. Jahrhundert zu einem Jahrhundert von Weltbürgerkriegen wird und die Situation vieler Megastädte, in denen das Gewaltmonopol des Staates längst nicht mehr existiert, allgemein wird. Das »planetare Arrangement« von Sicherheit ist ein umkämpftes Terrain verschiedener Alternativen (Rilling 2008, 146ff).

SZENARIEN DER ENTWICKLUNG: WEITER-SO ODER ALTERNATIVE WEICHEN STELLUNGEN?

Die weitgehende Stabilität der herrschenden Eliten in der Krise war möglich, weil gegensätzliche Maßnahmen zugleich ergriffen wurden. Dies hat zu einer momentanen Entspannung insbesondere der politischen Situation beigetragen. Die »realen Machtstrukturen des Finanzmarkt-Kapitalismus sind nicht wesentlich geschwächt« (Huffschmid 2009). Weder sei eine schnelle Erholung noch ein globaler Absturz in eine lang andauernden tiefen Depression zu erwarten. Innerhalb relativ stabiler Grundstrukturen wird mit neuen Elementen experimentiert. Dann würde es sich um die embryonale Phase einer neuen Formation handeln. Unklar ist, ob sie über den Kapitalismus hinausweisen würde (Grafik 1). In einer solchen embryonalen Phase wachsen die Widersprüche im herrschenden Block, entstehen Risse zwischen den verschiedenen Elitegruppen und Fraktionen des Kapitals, die sich der Unterstützung in der Bevölkerung vergewissern müssen und jeweils andere Politikangebote machen. Um ihre Herrschaft zu sichern, suchen sie nach einer neuen Grundlage der Hegemonie. Versuche der Minderung der genannten vier Krisentendenzen durch Erschließung neuer Akkumulationsfelder, der Adressierung von Reproduktions- und Integrationsaufgaben sowie die Suche nach Formen gemeinsamer Sicherheit werden auf Strategien stoßen, die Vermögensaufhäufung weiter anzuheizen und die Politik des Neoliberalismus – auch mit Gewalt – durchzusetzen. Der neoliberale Washingtoner Konsensus wird aufgebrochen und einzelne Großregionen werden zumindest partiell eigene Wege gehen. Die Vorschläge Chinas und Russlands für eine neue Weltwährungsordnung markieren gemeinsam mit den Dokumenten der von der UN-Vollversammlung eingesetzten StiglitzKommission Tendenzen der deutlichen Schwächung des US-Empires. In Abhängigkeit davon, welche Experimente erfolgen, was für Ergebnisse sie haben, wie sie verarbeitet werden und welche Bündnisse entstehen, kann die embryonale Phase einer neuen Formation sich schon jetzt oder im Laufe der nächsten Jahre in eine organische Krise des neoliberalen Finanzmarkt-Kapitalismus verwandeln, in der sich dann grundlegende Alternativen zukünftiger Entwicklung gegenüberstehen, zwischen denen die Entscheidung fällt. Der Schein des anything goes wird sich bald verflüchtigen. Die kurzfristig eröffneten Reserven sind schnell aufgebraucht, und mit hoher Wahrscheinlichkeit werden schon bald enorme zusätzliche Belastungen für die öffentlichen und privaten Haushalte entstehen. Ein einfaches »Durchwursteln« ist unmöglich. Das Nebeneinander gegensätzlicher Optionen wird nicht auf Dauer bestehen können. Die Ansätze eines wirklichen sozialökologischen Umbaus der gesamten Produktions- und Lebensweise sind nicht mit der Fortsetzung des Finanzmarkt-Kapitalismus vereinbar. Die Verarmung von wachsenden Teilen der Bevölkerung, der extrem kurze Zeithorizont von Verwertung, die Erzeugung immer größerer Spekulationsblasen, die Ausplünderung der öffentlichen Haushalte können nicht die notwendigen Ressourcen eines solchen Umbaus erzeugen. Die Interessen der dominanten Gruppen dieses Kapitalismus stehen im direkten Gegensatz zu einem solchen Umbau. Länder und Regionen, die sich der Fortsetzung des neoliberalen Finanzmarkt-Kapitalismus mit anderen Mitteln verschreiben, werden deshalb langfristig zurückbleiben, während sich die globalen Probleme verschärfen.

FÜNF ECKPUNKTE LINKER POLITIK

Die folgenden Eckpunkte setzen am Widerstand gegen die Krisenbearbeitung der Herrschenden, an der Rückdrängung der Ursachen für die Finanz- und Wirtschaftskrise, an den Ursachen der langfristigen Strukturkrisen und zerstörerischen Prozesse an.

1 | EIN MITTE-UNTEN-BÜNDNIS

Der Neoliberalismus war Politik der herrschenden Klasse: »Wenn meine Klasse in Amerika Klassenkampf führt, gewinnt sie.« (Warren Buffet, CNN 19.6.2005) Er konzentrierte Macht, Eigentum und Einfluss in den global agierenden Eliten – wirtschaftlich, sozial, politisch und kulturell – und stützte sich dazu auf größere Teile der Mittelschichten. Er war ein Oben-Mitte-Projekt, in dem die Gruppe der finanzwirtschaftlichen Elite die Richtung angab. Die neoliberale Politik hat die Klassenspaltung der Gesellschaft verschärft. Die obersten Gruppen wurden aus der Verantwortung für das Gemeinwohl und den sozialen Zusammenhalt entlassen, nicht zuletzt durch steuerliche Entlastungen. Die untersten Schichten wurden in die Misere und Würdelosigkeit von Arbeitslosigkeit, Niedriglohn, Arbeitshetze und repressive Kontrolle gejagt. Fast ein Viertel aller Vollzeitbeschäftigten sind im Niedriglohnsektor tätig. 80 Prozent davon haben eine abgeschlossene Berufsausbildung. Handel, Verkehr, viele Dienstleistungen werden zu Armutslöhnen erbracht, wovon die Besserverdienenden profitieren. Die Abwertung der Löhne der unteren Gruppen wertet die Marktmacht und Kaufkraft der Bessergestellten auf. Der öffentliche Dienst und die Stammbelegschaften der Großkonzerne in Deutschland wurden durch Privatisierung, Rationalisierung und Auslagerung von Produktion massiv reduziert. Die Bastionen der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Helmut Schelsky) der alten Bundesrepublik kamen unter den Hammer von Standortwettbewerb und shareholder value. Unsicherheit, Prekarität und Proletarität prägen wieder die Gesellschaft. Woher aber sollen die Mehrheiten für eine andere Politik kommen? Wie kann das notwendige Maß an Zustimmung zur Herrschaft gesichert werden, wenn die Spaltung der Gesellschaft derart aggressiv vorangetrieben wird? In der marxistisch inspirierten Tradition wurde lange Zeit unterstellt, dass große gesellschaftliche Gruppen (Klassen und Schichten) fixierte Interessen haben, die sie mehr oder minder adäquat zum Ausdruck bringen oder daran nur durch »falsches Bewusstsein« gehindert werden. Die reale Widersprüchlichkeit der sozialen Lage und die Möglichkeit, verschiedene Wege einschlagen zu können, führen aber dazu, dass ein und dieselben Gruppen gegensätzliche Strategien verfolgen können und erst dabei ihre Interessen bestimmen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Lohnarbeiter können durch nationale oder rassistisch artikulierte Abwehr von Migranten ihre Interessen zu verteidigen suchen (und deshalb in Italien die Lega Nord bzw. in Österreich die FPÖ und BZÖ wählen) oder durch den Ausbau eines solidarischen Sozialstaats. Frauen mit hoher Qualifikation können an einem Niedriglohnsektor interessiert sein, damit die Reproduktionsarbeit (Haushalt und Kinder) für sie kostengünstig übernommen wird, oder aber sich für hoch qualifizierte steuerfinanzierte öffentliche Dienstleistungen einsetzen. Die Bevölkerungsmehrheit in der Bundesrepublik unterhalb der herrschenden Eliten kann vereinfacht in sechs größere Gruppen eingeteilt werden (vgl. Tabelle Seite 75). Sie unterscheiden sich nach ihrer Stellung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess (Grafik Seite 77: der von links unten nach rechts oben weisende diagonale Pfeil symbolisiert wachsende Verfügung über Eigentum, Vermögen und Macht). Ausgehend von ihrem Platz in diesem System beziehen sich die sozialen Gruppen stärker positiv auf den Sozialstaat bzw. sind für »freie Märkte« (horizontale Dimension) und setzen vor allem auf individuelle Selbstbestimmung (libertäre Werte) bzw. auf die Gemeinschaftlichkeit (vertikale Dimension). Die oberen Schichten mit einem höheren Maß an Verfügung über die Ressourcen sind gespalten, weil sie in zwei Sektoren tätig sind – entweder in der Privatwirtschaft oder aber im stärker öffentlich geprägtem Raum des öffentlichen Dienstes, der sozialen, kulturellen und humanorientierten Dienstleistungen. Erstere vertreten marktwirtschaftliche und gemäßigt autoritäre Einstellungen. Wettbewerb und Weisung sind ihre Leitideen. Letztere dagegen haben eher libertäre und sozialstaatliche Werte. Sie wissen um die Bedeutung von Aushandlung und Ausgleich. Die von der Verfügung über Eigentum, Vermögen und Macht ausgeschlossen sind, wollen einen starken Sozialstaat und haben solidarisch-gemeinschaftliche oder autoritäre und rassistische Einstellungen. Diese Unterscheidungen werden durch weitere Faktoren wie Geschlecht oder Alter modifiziert; entsprechend verändert sich das politische Orientierungsverhalten. Jede der genannten Gruppen kann in zwei der drei Bündnisse eingebunden werden und in ihnen ihre Interessenvertretung sehen: (1) ein Bündnis der Bessergestellten, die durch Qualifikation und Stellung über eine relativ sichere Position verfügen und überdurchschnittliche Einkommen realisieren können; (2) eine marktliberal-autoritäre Allianz und schließlich (3) ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis (vgl. Brie 2007). Keines dieser Bündnisse ist in der Lage, die Interessen, Werte und Ziele zu homogenisieren, sondern muss versuchen, sie jeweils anders miteinander zu verbinden. Sie sind deshalb instabil und umkämpft. Da die sozial-libertären Mittelschichten eher SPD, Grüne und partiell die Partei Die Linke wählen, und die marktwirtschaftlich orientierten Mittelschichten eher FDP und CDU, müssen SPD und CDU vor allem versuchen, auch die untere Mitte und die unteren sozialen Gruppen zu gewinnen, um Regierungspartei zu werden. Oder sie brauchen Partner, die dort starke Bastionen haben. Das Parteiensystem zwingt dazu, die soziale Frage nicht völlig zu vergessen. Das Bündnis der Bessergestellten ist eine Klassenallianz der herrschenden marktzentrierten Eliten und der oberen Mittelschichten. Schröder und Fischer haben die rot-grüne Regierung auf eine Politik der Neuen Mitte ausgerichtet, die gering verdienende Lohnarbeiter und unteren Gruppen politisch abschrieb und die Interessen der Vermögenden und »Leistungsträger« zur Leitschnur nahm. Auch das Projekt eines Neuen Gesellschaftsvertrages im Rahmen des Green New Deal hat wesentliche Züge eines Bündnisses der Bessergestellten im Rahmen einer ökologischen Modernisierung. Die marktliberal-autoritäre Allianz vereinigt unter der Vormacht derselben Eliten die privatmarktwirtschaftlichen Mittelschichten und bindet jene Gruppen der unteren Mitte und der Marginalisierten ein, die hoffen, durch Ausgrenzung anderer (Migranten, »Sozial schmarotzer« usw.) ihre eigene Stellung verbessern zu können und dabei staatliche Unterstützung erwarten. Der neue Konservatismus in Deutschland, Frankreich oder Italien ist bemüht, die bedrohten Gruppen der Lohnabhängigen und traditionellen unteren Schichten für eine marktliberal-autoritäre Allianz zu gewinnen, die den Wirtschaftsnationalismus und die Kern-EU zum Markenzeichen hat. Um die gleiche Gruppe kämpfen auch die Vertreter eines »völkischen Antikapitalismus« (vgl. Kaindl 2007). Ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis würde sich vor allem auf die Interessen dreier Gruppen orientieren: (a) der Mittelschichten, die mehrheitlich im Bereich des Öffentlichen, aber auch selbständig tätig sind, (b) der von neoliberaler Politik bedrohten Erwerbstätigen und (c) die von der Deklassierung erfasst sind und nach solidarischen Lösungen suchen. Es wäre auf Partner in jenem Teil der politischen Eliten angewiesen, die durch ihre Verankerung im Staat Gemeinwohlinteressen aufnehmen wollen und würde die Interessen durch Einstiegsprojekte einer sozialökologischen Transformation zu verbinden suchen.

2 | LEITLINIEN FÜR SOLIDARISCHE EINSTIEGSPROJEKTE

Linke Politik sollte sich um zwei Zentren gruppieren: um gute Arbeit in sozialer Sicherheit (soziale Gleichheit und Gerechtigkeit) und um individuelle Freiheit in einer erneuerten Demokratie. Der Gebrauchswert der Linken ist ihr Wirken für die Durchsetzung konkreter Forderungen, die das Leben der Bürgerinnen und Bürger, besonders der schlechter Gestellten verbessert. Aber Programmatik, Strategie und Politik der Linken sind nicht reduzierbar auf eine Summe von Forderungen. Einzelne Projekte alternativer Kräfte können in Elemente der herrschenden Politik verwandelt werden, wenn sie nicht auf die Leitidee einer gerechten Gesellschaft individueller Freiheit, sozialer Gleichheit und Solidarität gerichtet werden, nicht auf alternative Hauptprojekte oder Grundrichtungen. Leitlinien solcher Hauptprojekte einer umfassenden sozialökologischen Transformation könnten sein: 1 eine neue Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung: eine sozialökologische Transformation der gesamten Gesellschaft, der Produktions- und Lebensweise; 2 eine neue Form sozialer Sicherheit und Integration auf der Basis einer armutsfesten bedarfsorientierten Grundsicherung, der Erneuerung des Öffentlichen und des Aufbaus eines solidarischen Sektors der Bildung, Gesundheitsvorsorge, Wissenschaft und Forschung, des Sports, der sozialen Dienste und Pflege sowie des Naturschutzes; 3 Erneuerung der Demokratie in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat (vgl. dazu die Diskussion in Krause 2007 und Demirovic´ 2007); dafür notwendige Veränderungen der Macht-, Eigentums- und Verfügungsverhältnisse; Wandel der Institutionen, so dass über Investitionen von strategischer Bedeutung unter demokratischer Beteiligung aller betroffenen gesellschaftlichen Gruppen entschieden werden kann (Sozialisierung der Investitionsfunktion , Zinn 2007); 4 eine neue internationale Solidarität durch gemeinsame Entwicklung und Sicherheit. Viele wichtige linke Projekte (z.B. Mindestlohn. Bürgerversicherung, eine Umverteilung von oben nach unten und privat zu öffentlich, Bürgerhaushalte) gewinnen erst in diesen Zusammenhängen ihre alternative Wirkungskraft.

3 | DEMOKRATISIERUNG DER DEMOKRATIE

Ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis hat eine wesentliche Grundlage – die demokratischen Erfahrungen aus den Auseinandersetzungen in Betrieben und Kommunen. Aus dem Handeln von Betroffenen, von Belegschaften, Bürgerinitiativen und Aktiven in Schulen und Universitäten können solidarische Emanzipationsbewegungen ihre Stärke gewinnen. Der Kampf um die Demokratisierung von Unternehmen und Betrieben, von öffentlichen wie privaten Einrichtungen ist nicht nur ein wesentliches Ziel, sondern auch ein Mittel linker Politik (Brangsch 2004). Erst daraus entsteht eine linke Politik nicht nur für, sondern vor allem durch Bürgerinnen und Bürger, Lohnabhängige selbst (vgl. IfG 2009).

4 | VON DER MOSAIK-LINKEN ZUM LINKEN POLITISCH-GESELLSCHAFTLICHEN BÜNDNIS

Die Linke in Europa war 1990 durch den Zusammenbruch des Staatssozialismus getroffen und hat dies zunächst nicht als Befreiung aus den Mauern eines fehlgeschlagenen großen historischen Experiments begriffen (Crome 2006, 19ff). Sie war durch den neoliberalen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft und die Wende des rot-grünen Projekts zum Neoliberalismus geschwächt. Gleichzeitig entstand Neues: die Bewe - gung der Sozialforen und der Gipfelproteste, eine Linkswende in Lateinamerika, offensive Strategien von Gewerkschaften, der Kampf gegen ein neoliberales Europa und die neuen Kriege, der Umbau linker Parteien (vgl. Daiber/ Hildebrandt 2009). Immer wieder mit Niederlagen konfrontiert, von Spaltungen getroffen, gibt es global und in vielen Regionen und Ländern Ansätze einer Linken, die nicht den Trümmern des alten Wohlfahrtsstaats oder des sowjetischen Kommunismus nachtrauert, sondern das Erbe von Arbeiterbewegung, Antifaschismus, Feminismus, der Friedens- und Ökologiebewegung und des antikolonialen Kampfes in Auseinandersetzungen aufgreift, die über die neoliberale Globalisierung und den Finanzmarkt-Kapitalismus hinausweisen. In Deutschland haben die Gewerkschaften die Tendenzen ihres Machtverlusts gestoppt und sich neue gesellschaftliche Anerkennung erkämpft. Die Partei Die Linke konnte Lohnarbeiter und Arbeitslose gewinnen und als alternative Kraft wirksam und anerkannt werden. Sie ist aber selbst in der Situation, dass sie ohne Kooperationspartner die anderen Parteien nur unter Druck setzen kann, die soziale und Friedensfrage nicht völlig zu vergessen. Ihr Protest wirkt, aber seine Reichweite ist begrenzt. Die europäische Linke ist in der Defensive. Sie führt wichtige Kämpfe, mobilisiert teilweise Millionen bei Demonstrationen, hat partielle Wahlerfolge, kann erfolgreiche Streiks führen. Sie ist nicht unwirksam, aber sie bestimmt nicht die Tagesordnung. Die Ursache dafür in Deutschland ist doppelt: Sie liegt im Fehlen eines umfassenderen transformatorischen realpolitischen Projekts sowie in der Fragmentierung der politischen Linken. Der Neoliberalismus hat den integrierten Sozialstaat (mit seiner patriarchalen und nationalen Fixierung) zerstört. Dies hat die Interessenlage der Lohnabhängigen und gro- ßer Teile der Bevölkerung nachhaltig geprägt. Hochlohnsektoren stehen gegen Niedriglohnsektoren, männlich dominierte Industriezweige gegen weiblich geprägte Dienstleistungen, Kernbelegschaften gegen Zeitarbeiter, Vollerwerbstätige gegen Unterbeschäftigte und Arbeitslose, »deutsche« Erwerbstätige gegen Migrantinnen und Migranten. Die Verteidigung der jetzigen Unternehmensstruktur widerspricht dem Kampf für eine ökologische Wende. Die Standortsicherung steht im Widerspruch zu internationaler Solidarität. Wenn die sozialen Kämpfe darauf zielen, innerhalb der durch den Neoliberalismus geschaffenen Strukturen die Interessen der Lohnabhängigen und Rentner, der bedrohten Mittelschichten zu vertreten, wirken sie als Artikulation von Partikularinteressen, als Lobbyismus auf Kosten der Allgemeinheit, als strukturkonservative Abwehr notwendiger Ver- änderung. Opel und Arcandor sind Symbole solcher Kämpfe. Es gibt keine Alternative zu den Abwehrkämpfen. Sie müssen geführt werden, und doch geraten sie in Widerspruch zueinander. Erst wenn es gelingt, sie als Kämpfe innerhalb eines noch zu schaffenden Projekts einer umfassenden gesellschaftlichen Transformation zu führen, können sie auch zu Kämpfen um ein neues Allgemeininter esse werden und die verschiedenen Bewegungen zusammenführen. Dafür fehlt aufgrund der Fragmentierung insbesondere der politischen Linken die machtpolitische Voraussetzung. Auch für die besten Ideen ist erst dann ihre Zeit gekommen, wenn sie ein glaubwürdiges Versprechen der Durchsetzbarkeit enthalten. Für viele Forderungen der Linken gibt es in der Gesellschaft der Bundesrepublik Mehrheiten. Gewerkschaften und soziale Bewegungen wissen zu großen Teilen um die Notwendigkeit eines Zusammengehens. Ohne die Chance für eine linke politische Mehrheit stehen Gewerkschaften wie soziale Bewegungen vor dem Zwang, den Kompromiss mit den Projekten der herrschenden Eliten zu suchen und sich diesen zu unterwerfen – um möglichst das Beste herauszuholen. Das soziale und das politische Bündnis der Linken bedingen sich wechselseitig; sie werden nicht nacheinander entstehen. SPD und Grüne sind unter diesen Bedingungen zur Subalternität in einem konservativ-neoliberal dominierten Parteiensystem verdammt, obwohl andere Mehrheiten möglich wären. Und auch die Partei Die Linke ist – wenn auch als Protestpartei mit klarem linken Profil – eingebunden in dieses System. Ohne breitere linke Bündnisse verliert sie ihren Kontakt zu den sozial-libertären Mittelschichten und wird gegen ihren Willen in die Rolle einer strukturkonservativen Vertreterin von Interessen der Lohnabhängigen, Rentner und Erwerbslosen abgedrängt und hegemonieunfähig. Die Krise hat alle Parteien und ihre konzeptionelle Ausrichtung in Bewegung gebracht. Doch für die Kräfte jenseits des rechten, bürgerlichen Lagers reicht dies nicht aus, die Konstellation der parteipolitischen Subalternität zu überwinden. Das Wirken für eine linke Mehrheit in Gesellschaft und Politik ist wichtig, andernfalls bleibt die Linke von Entscheidungen über künftige Entwicklungen ausgeschlossen. Dabei kann an das Projekt eines Green New Deal angeknüpft werden, um es über sich hinauszutreiben (Dellheim/Wolf 2009) und zum Kampf für eine solidarische Gesellschaft werden zu lassen.

5 | DIE PERSPEKTIVE EINER SOLIDARISCHEN GESELLSCHAFT UND DES DEMOKRATISCHEN SOZIALISMUS

Die Anhänger des Neoliberalismus sind zu einer Relativierung ihrer Dogmen gezwungen. Der neoliberale Kapitalismus hat sich als wirtschaftlich katastrophal, sozial destruktiv, ökologisch desaströs und sicherheitspolitisch gefährlich erwiesen. Nun steht möglicherweise der grüne Kapitalismus, teils mit sozialen Akzenten, vor einer Konjunktur. Doch Kapitalismus bedeutet immer Profitdominanz, immer Primat der Kapitalverwertung über die anderen gesellschaftlichen Interessen. Jetzt wird wieder über die Relativierung dieser Profitdominanz gesprochen. Das ermöglicht, eine Systemalternative auf die Tagesordnung zu setzen – ohne eine solche Perspektive kann der Richtungswechsel von links nicht hinreichend klar benannt werden. Solidarische Lösungen sind unmöglich, ohne die Profitdominanz zurückzudrängen und schließlich zu überwinden. Kampf für eine solidarische Gesellschaft und Einsatz für einen demokratischen Sozialismus gehören deshalb zusammen. Eine Gesellschaft, in der Jede und Jeder den gleichen Zugang zu den Gütern eines freien Lebens hat (demokratische Partizipation, Bildung und Kultur, gute Arbeit, Umweltgerechtigkeit in einer befriedeten Welt), und das Primat der Gemeinwohlorientierung über die private Verfügung an den Produktionsmitteln gehören zusammen. *** Krisen bergen in sich das Moment der Entscheidung, des strategischen Eingriffs, der Verwandlung der Gefahr oder Bedrohung in eine Chance. Max Frisch schrieb: »Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.« Dieses »nur« ist Krisenkunst. Aus den vielen Versuchen der Vielen kann ein linkes strategisches Projekt entstehen, das die Hegemonie des Neoliberalismus bricht, ihn endgültig in seine organische Krise stürzt, den politischen und gesellschaftlichen Richtungswechsel ermöglicht. Es ist Zeit, dafür die Segel zu setzen. Die von Friedrich Engels gerne zitierte britische Weisheit gilt auch jetzt: The proof of the pudding is in the eating. Dem Beitrag liegen Materialien des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung zugrunde: IfG-I 2009 und IfG-II 2009. An Erarbeitung und Diskussion haben mitgewirkt: Effi Böhlke, Lutz Brangsch, Michael Brie, Mario Candeias, Erhard Crome, Judith Dellheim, Alex Demirovic, Conny Hildebrandt, Christina Kaindl, Dieter Klein, Günter Krause und Rainer Rilling.  

LITERATUR

Bischoff, Joachim, 2006: Zukunft des Finanzmarkt-Kapitalismus. Strukturen, Widersprüche, Alternativen, Hamburg Brangsch, Lutz, 2009: »Der Unterschied liegt nicht im Was, wohl aber in dem Wie.« Einstiegsprojekte als Problem von Zielen und Mitteln im Handeln linker Bewegungen, in: Michael Brie (Hg.): Radikale Realpolitik. Plädoyer für eine andere Politik, Berlin, 39–52 Ders., 2004: Soziale Reform und Revolution – Demokratisierung als Achse der Transformation, in: Reforma ou Revolucao, Sao Paulo Brie, Michael, 2006: Die Linke – was kann sie wollen. Politik unter den Bedingungen des Finanzmarkt-Kapitalismus, Supplement zur Zeitschrift Sozialismus, Heft 3/2006 Ders., 2007: Der Kampf um gesellschaftliche Mehrheiten. In: Michael Brie, Cornelia Hildebrandt, Meinhard Meuche-Mäker: Die LINKE. Wohin verändert sie die Republik?, Berlin, 13–45 Candeias, Mario, 2009: Neoliberalismus, Hochtechnologie, Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Eine Kritik. 2. überarb. Aufl., Berlin-Hamburg Crome, Erhard, 2006: Sozialismus im 21. Jahrhundert, Berlin Daiber, Birgit, und Cornelia Hildebrandt 2009: Die Linke in Europa. Analysen linker Parteien und Parteiallianzen, RLS Papers Dellheim, Judith, und Frieder Otto Wolf, 2009: Die Green New Deals – Positionen von links. RLS-Standpunkte 11/2009 Demirovic´, Alex, 2007: Demokratie in der Wirtschaft. Positionen – Probleme – Perspektiven. Münster Huffschmid, Jörg, 2009: Das Ende des Finanzmarkt- kapitalismus? In: Junge Welt, 22. Mai Institut für Gesellschaftsanalyse, 2009: Die Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus – Herausforderung für die Linke. Reihe Kontrovers 01/2009 der Rosa-LuxemburgStiftung. März; IfG-I Dass., 2009: Die gesellschaftliche Linke in den gegenwärtigen Krisen. Reihe Kontrovers 02/2009 der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Juli, IfG-II Kaindl, Christina, 2007: Antikapitalismus von rechts, in: Das Argument 269, 49. Jg. H.1/2007, 60–72 Klein, Dieter, 2008: Krisenkapitalismus. Wohin es geht, wenn es so weitergeht, Berlin Krause, Günter (Hg.), 2007: Keynes als Alternative(r)? Argumente für eine gerechte Wirtschaft, Berlin Neugebauer, Gero, 2007: Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Rilling, Rainer, 2008: Risse im Empire, Berlin Zinn, Karl Georg, 2007: Mit Keynes zu einer »anderen Wirtschaft«. Zur Langfristperspektive keynesianischer Ökonomie, in: Krause 2007, aaO., 39–42 Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, 2009: Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt. Ein Anstoß zur gesellschaftlichen Debatte. Studie, Frankfurt/M