Ulrich Brand und Markus Wissen (2017, 43) schreiben, der Kerngedanke des Begriffs der imperialen Lebensweise sei, »dass das alltägliche Leben in den kapitalistischen Zentren wesentlich über die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Naturverhältnisse andernorts ermöglicht wird: über den im Prinzip unbegrenzten Zugriff auf das Arbeitsvermögen, die natürlichen Ressourcen und die Senken 1 […] im globalen Maßstab«. Kurz: »Die allermeisten Menschen hierzulande« lebten »auf Kosten der Natur und der Arbeitskräfte anderer Regionen in Europa und im globalen Süden«. (Brand/Wissen 2018) Eine zunächst plausible Feststellung. Bei näherem Hinsehen wirft das Konzept aber einige Fragen auf, die zu klären sich lohnt und die Brand und Wissen nur zum Teil beantworten. Wer ist denn gemeint mit den »Menschen hierzulande«? Der Daimler-Arbeiter? Der migrantische Mitarbeiter eine Putzfirma? Die urbane Akademikerin? Die Pflegerin aus der Ukraine? Und was ist gemeint mit ihrer »Lebensweise«? SUV-Fahren? Im Bioladen einkaufen? In der gläsernen Manufaktur von Volkswagen in Dresden den E-Golf zusammenbasteln? Bananen im Supermarkt? Und wo ist »andernorts«? Zählt China noch dazu? Machen nicht auch illegalisierte migrantische Arbeitskräfte, die in Deutschland putzen, die imperiale Lebensweise möglich? Was ist mit abgehängten Regionen, die weder billige Arbeitskraft noch Ressourcen zu globalen Wertschöpfungsketten beizutragen haben?
Und dann ist da noch die Frage, auf die es mir hier vor allem ankommt: Was heißt denn »auf Kosten« anderer leben? Thomas Sablowski (2018) weist hier auf eine Schwäche der Argumentation von Brand und Wissen hin. Sie gehen davon aus, »dass es einen Werttransfer von der Peripherie in die kapitalistischen Zentren bzw. einen ungleichen Tausch zwischen den Zentren und der Peripherie gibt, ohne diesen allerdings näher zu erklären«. Tatsächlich untersuchen Brand und Wissen kaum, worin der »Werttransfer« besteht. Ganz ähnlich wie Stephan Lessenich (2017) mit seiner These der »Externalisierungsgesellschaft« setzen sie den »Werttransfer« eher als offensichtlich voraus, als ihn zu untersuchen. Wie bei Lessenich sind der Gegenstand eher die »imperialen« Gesellschaften, die nicht unbedingt national definiert sein müssen, die einen Stoffwechsel mit der außermenschlichen Natur pflegen, der nicht verallgemeinerbar ist. Tatsächlich ist eine Welt, in der alle 7,6 Milliarden Menschen so viele Ressourcen verbrauchen würden wie ein durchschnittlicher Deutscher, kaum denkbar. Jedenfalls wäre eine ökologische Katastrophe unvermeidlich. Dass sich »unser« Ressourcenverbrauch aufrechterhalten lässt, beruht also darauf, dass er exklusiv ist. So weit, so simpel.
Aber um eine konkrete Utopie einer weniger zerstörerischen, gerechteren Weltarbeitsteilung und Ressourcenverteilung zu denken, genügt das nicht. Wer sich nicht mit der extremen Ungleichheit abfinden will, sollte versuchen, die tatsächlichen Prozesse zu verstehen, die diese Ungleichheit und Exklusivität hervorbringen. Statt ungleichem Tausch oder Werttransfer bietet Sablowski die »unterschiedliche Entwicklung der Arbeitsproduktivität in den kapitalistischen Zentren« als Erklärung für die unterschiedlichen Lebensverhältnisse an: »Die Beherrschung des Weltmarktes durch die Zentren auf der Basis überlegener Arbeitsproduktivität und die Marginalisierung peripherer Länder und Regionen sind zwei Seiten einer Medaille. Den peripheren Ländern bleibt dann nur noch die Konzentration auf die Produktion von mineralischen Rohstoffen, die sich auf ihrem Territorium befinden bzw. die Produktion von agrarischen Rohstoffen, die sich aufgrund der klimatischen Bedingungen in den kapitalistischen Zentren nicht herstellen lassen. Um die erste internationale Arbeitsteilung, die Arbeitsteilung zwischen Industrieländern und Rohstoffe produzierenden Ländern zu erklären, bedarf es also nicht des Konzepts des ungleichen Tauschs.« (Sablowski 2018)
Nehmen wir an, er hätte damit Recht.2 Selbst dann berührt die Erklärung gar nicht den Kern der Kritik, die der Begriff »imperiale Lebensweise« sinnvollerweise transportieren kann. Es kann ja nicht um eine neue Erklärung globaler kapitalistischer Dynamik gehen. Der Nutzen scheint mir in der Popularisierung der Erkenntnis zu liegen, dass eine sozialökologische Transformation nötig ist, aber nicht einfach in der Demokratisierung bestehender Produktionsstrukturen sowie in der Umverteilung und quantitativen Vermehrung des heutigen Warenreichtums bestehen kann.
Sablowskis Verwendung der (objektiven) Ausbeutungsrate als Argument geht in eine ganz andere Richtung: «[…] die Ausbeutungsrate, die durch die Dynamik der relativen Mehrwertproduktion bestimmt wird, [ist] in den kapitalistischen Zentren zunächst höher ist als in der Peripherie. Wenn dem nicht so wäre, würde sich die Produktion auch nicht in den Zentren zusammenballen, weil sie dann unprofitabel wäre.« (Ebd.) Ja, die Ausbeutungsrate eines gut bezahlten und ausgebildeten BMWArbeiters ist höher als die einer Näherin in Bangladesch, einer Reinigungskraft oder gar einer Kaugummi-Verkäuferin in einer lateinamerikanischen Metropole. Die Ausbeutungsrate bei Letzterer ist gleich Null, sie wird nicht ausgebeutet, sondern versucht, ein Almosen abzubekommen, obwohl sie für die kapitalistische Produktion (und im Prinzip auch für die Zirkulation) überflüssig ist.
Der Skandal des »auf Kosten anderer leben« lässt sich also gar nicht in kapitalistischen Kategorien beschreiben. Er besteht weder in einem Transfer von Werten im Marx’schen Sinn, noch lässt er sich nach Marktpreisen berechnen. Insofern ist die Formulierung »auf Kosten anderer« irreführend. Vielmehr müssen wir nicht-kapitalistische Kategorien heranziehen, zum Beispiel physikalische (CO2-Äquivalente), biologische (Artenvielfalt), medizinische (Vergiftung) oder subjektive (menschliches Leid), um zu beurteilen, wer wie zulasten anderer lebt. Wir müssen die Frage, auf die der Begriff »imperiale Lebensweise« eine Antwort geben will, neu formulieren. Beruht die beschriebene Lebensweise notwendigerweise auf der Verschlechterung der Lebensverhältnisse »anderswo«? Verschlechtert sie zwangsläufig die Lebensverhältnisse anderswo?
Brand und Wissen ähnlich wie Lessenich streifen nach meinem Eindruck diese Fragen nur. Sie setzen als offensichtlich voraus, dass »das alltägliche Leben in den kapitalistischen Zentren wesentlich« ermöglicht wird: über 1. »Zugriff auf das Arbeitsvermögen«, 2. »die natürlichen Ressourcen« und 3. »die Senken […] im globalen Maßstab«. (a.a.O.) Für alle drei genannten Punkte lassen sich leicht Beispiele und – zumindest für 1. und 2. – Gegenbeispiele finden, die eine genauere Untersuchung lohnen.
»Unbegrenzter Zugriff auf das Arbeitsvermögen«: Die schlechten Arbeitsbedingungen der Textilarbeiterinnen in Bangladesch oder Kambodscha tragen sicherlich zur Verfügbarkeit von billigen Klamotten bei KIK oder Primark selbst für Subalterne hierzulande bei. Da der Lohnkostenanteil an den Gesamtkosten der Herstellung bisher aber relativ klein ist, ließe sich vermutlich deren Situation verbessern, ohne dass hier der »imperiale Lebensstil« gefährdet wäre. Dass allerdings genug Baumwolle produziert werden könnte, damit alle Menschen auf dem Planeten sooft ihr Outfit wechseln könnten wie der durchschnittliche Mitteleuropäer, scheint mir zweifelhaft. Die Frage ist auch, ob der unbegrenzte Zugriff auf das Arbeitsvermögen überhaupt entscheidend ist. Das menschliche Leid ist teilweise größer unter den Überflüssigen, deren Arbeitsvermögen für die vorherrschenden Produktions- und Konsumptionsweisen gar nicht gebraucht wird. 3
»Natürliche Ressourcen«: Bestimmte natürliche Ressourcen sind unabdingbar für das herrschende kapitalistische Produktionsmodell und vermutlich für jedes andere. So wird zum Beispiel momentan in der Demokratischen Republik Kongo viel Coltan für die Produktion von Handys gefördert. Dass massenhaft Rohstoffe notwendig sind für das, was Brand und Wissen die »imperiale Lebensweise« nennen, gilt unabhängig von Wert oder Preis derselben. Wenn wir Materieströme in Tonnen betrachten statt Warenströme in US-Dollar, dann bekommen wir einen Eindruck davon. Die weltweite Extraktion in Tonnen (an fossilen Brennstoffen, Mineralien und Biomasse; vgl. Giljum et al. 2014) hat sich im Zeitraum zwischen 1980 und 2008 in etwa verdoppelt. Das lag bei Weitem nicht nur am Bevölkerungswachstum. Auch pro Kopf stieg das Gewicht an verbrauchtem Primärmaterial im selben Zeitraum von 7,9 auf 9,9 Tonnen. Die Ressourcenströme belegen die These vom Verbrauch der Ressourcen aus dem Süden im Norden. Die Extraktion ist vor allem in Asien, Lateinamerika und Afrika gestiegen, in Europa und Nordamerika aber stagniert sie. Ob die Rohstoffe aber notwendigerweise von »anderswo« herkommen, ist eine andere Frage. Mit dem Fracking etwa konnten die USA ihre Abhängigkeit von Ölimporten erheblich reduzieren. Der größte Coltan-Produzent noch vor Kongo ist Australien. Gehört Australien zum »anderswo«?
Dass Ressourcenextraktion im »globalen Süden« eine große Rolle spielt, eine größere als die Handelsvolumina in US-Dollar das vermuten lassen, zeigen diese Zahlen. Die genauen Zusammenhänge freilich nicht: Nach den bilanzierten Zahlen, die nicht zwischen Verbrauch in der Produktion und im Konsum unterscheiden, sank von 1980 bis 2008 der Pro-Kopf-Verbrauch in Europa sogar von 16,3 auf 13 Tonnen. Offenbar ein Effekt der Abwanderung der materialintensiven und schmutzigen Produktion nach Asien: Wenn Kohle und Öl nach China geliefert werden und damit Plastikspielzeug für Europa hergestellt wird, bleibt jede Menge Müll in China, der nicht dem Verbrauch Europas zugeordnet wird. In den Bilanzen erscheint er als Materialverbrauch in China. Eine genaue Analyse kann sich ohnehin nicht allein auf Statistiken stützen, sondern muss konkrete Produktionsprozesse untersuchen. Nur so lässt sich eine Ahnung davon entwickeln, wie gebrauchswertorientierte Produktionsketten und gerechtere, bedürfnisorientierte Verteilsysteme aussehen könnten. »Nutzung der Senken«: Hier scheint mir der Befund am klarsten. Die produzierten CO2-Äquivalente pro Kopf sind im »globalen Norden« am höchsten. Wenn nicht die in den Staaten produzierten Klimagase, sondern unabhängig vom Ort der Produktion alle CO2-Äquivalente verglichen werden, die während der Herstellung der konsumierten Waren entstanden sind, dann fällt die Bilanz noch deutlicher aus. Die Schäden sind aber in ärmeren Weltgegenden am deutlichsten zu spüren.4
Von dem Anstieg des Meeresspiegels sind selbst Bewohner*innen einer Pazifikinsel betroffen, die weder ausgebeutet werden, noch unter Werttransfer leiden oder Rohstoffe liefern. Der Punkt macht klar: Wir leben vielleicht nicht »auf Kosten«, aber auf jeden Fall zulasten anderer. Rechnungen zum ökologischen Fußabdruck versuchen, das abzubilden.
In der weiteren Diskussion sollten vor allem die Punkte eins und zwei genauer untersucht werden, um eben nicht auf einer moralischen Ebene stehenzubleiben, sondern um die (Klassen-)Kämpfe, aber auch Lebensstilentscheidungen aufzuspüren, die einen transformatorischen Charakter haben könnten. Erst ein besseres Verständnis der Prozesse von der Ressourcenausbeutung bis zum Konsum eröffnet die Chance, eine reale, das heißt mit den Gesetzen in der Physik und Biologie in Einklang stehende Alternative zu denken.
Um eine moralische Frage, die der Begriff »imperiale Lebensweise« stellt, kommen wir aber nicht herum: Ist die globale Ungleichverteilung des Reichtums, 5 sind der Müllexport, die Auslagerung extrem ungesunder Arbeitsplätze, die Zerstörung von natürlichen Lebensgrundlagen oder die extrem ungleich verteilte Lebenserwartung bedauerliches Schicksal oder änderbarer Skandal? Ohne den Skandal zu benennen – und das leistet der Begriff imperiale Lebensweise –, wird bei den relativ Privilegierten kein Interesse entstehen, diese Verhältnisse zu ändern. Wer den Skandal nicht empfindet, wird nur versuchen, zu den relativ Privilegierten zu gehören und seine Privilegien zu verteidigen, egal wie hoch seine objektive Ausbeutungsrate ist. 6
Strategische Kopfschmerzen
Mir scheint es notwendig, die hinter dem Begriff »imperiale Lebensweise« stehende Analyse zu schärfen. Aber an der Grunddiagnose kommt eine internationalistische Linke nicht vorbei: Ein Leben auf dem materiellen Konsumniveau der deutschen Mittelschicht (oder wahlweise der französischen, russischen, indischen, chinesischen oder US-amerikanischen) ist jedenfalls insofern imperial, als sie nicht verallgemeinerbar ist. Unter den herrschenden Bedingungen gilt aber nahezu weltweit ein solcher Konsumstandard als erstrebenswerter Wohlstand. So wie die meisten Verbrauchsgüter heute hergestellt werden (und einige lassen sich wohl kaum anderes produzieren), geht das nur, wenn andere anderswo zur Produktion beitragen, ohne sie selbst zu verbrauchen, und andere anderswo unter den produktionsnotwendigen Zerstörungen leiden. An dieser unangenehmen Erkenntnis hat jede Linke schwer zu kauen. Sie bedeutet, dass sich die extreme Ungleichheit auf dem Globus nicht durch bloße Umverteilung oder mit mehr »Entwicklungshilfe« – die gerade als Mittel zur Bekämpfung von Fluchtursachen wieder hoch im Kurs steht – abschaffen lässt. Aber diese strategischen Kopfschmerzen sollten nicht dazu verleiten, die Physik der globalen Produktions- und Konsumptionsketten zu verleugnen oder die Ungleichheit hinzunehmen.
1 Mit Senken werden für gewöhnlich die Aufnahmekapazitäten für CO2 bezeichnet. Müllabladeplätze lassen sich aber in unserem Zusammenhang auch dazuzählen.
2 Hier kommt es nicht darauf an, die Debatte um die Dependenztheorie zu entscheiden und die Begriffe ungleicher Tausch und Werttransfer zu definieren. Nehmen wir einfach an: Die unterschiedlichen Lebensverhältnisse beruhen nur zum kleineren Teil auf offener Gewalt und Betrug, zum größeren auf Produktivitätsunterschieden und auf dem Erfolg der wohlfeilen Waren auf dem Markt.
3 Der Umstand weist auch darauf hin, dass es sich bei der Weltwirtschaft nicht einfach um ein Nullsummenspiel handelt (was wir verbrauchen, wird anderen weggenommen). Vielmehr ist ja die Masse des produzierten Warenreichtums gestiegen, und zwar deutlich mehr als die Weltbevölkerung.
4 Lessenich (2017) benutzt hierfür den Begriff des »ungleichen ökologischen Tauschs« der Soziologen Andrew Jorgenson und James Rice.
5 Auch die Unterschichten in den industrialisierten Ländern verdienen mehr als die meisten Bessergestellten im »globalen Süden«. Zum Beispiel liegt das Durchschnittseinkommen der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung von Guatemala unter dem der ärmsten zehn Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung (Korzeniewicz/Moran 2009, zit. nach Lessenich 2017, 157f).
6 Tatsächlich scheinen mir die Angst vor Migrant*innen und Flüchtlingen und die aggressive Abwehr zumindest zum Teil von dem halbbewussten Wissen um diesen Skandal gespeist. Nicht die Menschen, die tatsächlich nach Deutschland kommen, bedrohen »unseren« Wohlstand. Sie wollen jedoch an der »imperialen Lebensweise« teilhaben und erinnern damit daran, dass die extreme Ungleichverteilung der Lebenschancen auf unserem Planeten kein auf Dauer haltbarer Zustand ist. Die »Wirtschaftsflüchtlinge« sind die Träger dieser Botschaft. Aber das ist eine andere Debatte.