Baustellen der AKP-Macht
Die Ereignisse der letzten Monate zeigen, dass der Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) nun etwas zum Verhängnis wird, was sie vormals stark gemacht hat: ihr Bauwahn. Nicht nur die vielbesprochenen Megaprojekte, sondern die ununterbrochene Bautätigkeit im ganzen Land symbolisieren das Machertum der AKP und trieben lange Zeit den türkischen Wirtschaftsboom an – nur dass inzwischen verwaiste und halb fertiggestellte Gebäudezeilen mitunter auch dessen Instabilität vor Augen führen. Überall in den Städten und auch auf dem Land haben die von der Regierung beauftragten Firmen – oftmals gegen den Widerstand der Bevölkerung – Areale zur profitablen Nutzung erschlossen, zum Teil auch getrieben von dem Drang der AKP, sich alles Geschichtliche zugunsten eigener Deutungen gefügig zu machen. Das sukzessive zur Superbehörde aufgeblasene Ministerium für Umwelt und Städtebau ist der ideale Vollstrecker dieser Politik. Seit dem Dachverband der Architekten- und Ingenieurskammern (TMMOB), einem der wichtigsten Kritiker der Regierungspläne für den Gezi-Park, im Sommer 2013 per Gesetz jedwedes Mitspracherecht bei zukünftigen Bauprojekten abgesprochen wurde, hat das Ministerium die alleinige Oberhoheit in Sachen Stadtplanung. Um ein Haar wäre es bei der Premiumbaustelle auf dem Taksim-Platz, einem für das nationale Selbstbild der Türkei zentralen Ort, auf die Errichtung eines weiteren schnöden Konsumtempels und einer Megamoschee hinausgelaufen. Stattdessen heißt es jetzt »Baustelle Demokratie«. Lange Zeit prangte im Gezi-Park die Zeile eines berühmten Gedichtes von Nazım Hikmet, dessen Übersetzung lautet: »Einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald wollen wir leben.« Und nicht zufällig sind ›ein paar Bäume‹ zum Symbol der Sehnsüchte der Menschen nach anderen Formen des Städtischen, der Kommunikation und Kollektivität jenseits des Marktes geworden (vgl. Tuğal und Hammond/Angeli in LuXemburg-Online, Juli 2013). Es brach sich eine Gegenöffentlichkeit Bahn, die rhizomatisch wirkte und gesellschaftliche Gruppen miteinander ins Gespräch brachte, die einander sehr fremd waren und zuvor bar jeder Empathie nur Schreckensbilder voneinander gezeichnet hatten. Alles Mögliche, von Drohungen bis hin zur Pressezensur, wurde von staatlicher Seite gegen diese Gegenöffentlichkeit aufgeboten. Aber sie überlebte dank der Neuen Medien und nicht zuletzt dank der guten alten Mund-zu-Mund-Propaganda.
Baustelle Sozial- und Familienpolitik
Eine so vielgestaltige und umfassende Dynamik wie der Gezi-Widerstand entsteht nicht von heute auf morgen. Er hat eine komplexe Vorgeschichte. Dazu gehört, dass die ehemaligen Privilegien der säkularen Eliten unter dem Druck der Privatisierung und dem Ausbau der AKP-Macht in den letzten Jahren zu bröckeln begannen. Die von dieser Verschiebung vorangetriebene gesellschaftliche Polarisierung zwischen religiösem und säkularem Nationalismus hatte schon länger Unbehagen und Kritik ausgelöst. Diese kritischen Stimmen und Bewegungen waren noch zu schwach, um zu einem grundlegenden Umschwung zu führen, dennoch war an vielen einzelnen Orten auch vor den Ereignissen rund um den Gezi-Park schon eine spektrenübergreifende Verständigung geprobt worden. Die autoritäre und stigmatisierende Politik der AKP, die so viele kritische Köpfe ins Gefängnis gebracht und Duckmäusertum sowie Heuchelei gefördert hat, istan ihre Grenzen gestoßen. Gestützt hat sie sich in den vergangenen Jahren nicht zuletzt auf eine spezifische Sozial- und Familienpolitik. Für diejenigen, die zuvor von Leistungen ausgeschlossen waren, brachte sie durchaus einen Fortschritt (vgl. Steckner 2012). Angelehnt an die Soziologin Aksu Bora lassen sich die sozial- und familien politischen Initiativen der letzten Jahre aber auch als Eingeständnis begreifen, dass die so heftig beworbene und als verbindliches Ideal ausgegebene konservative Familie kein Selbstläufer ist, sondern erheblicher Unterstützung bedarf – sei es in materieller oder ideologischer Form. Tendenzen wie steigende Scheidungsraten oder die Entwicklung der Türkei hin zu einem Einwanderungsland haben zu einer unübersehbaren Ausdifferenzierung von Lebensstilen in den großen Städten beigetragen. Aber auch dass sich AtheistInnen als ›Familien‹ zu Wort melden und Kritik an der Bildungspolitik formulieren oder dass Eltern von Lesben und Schwulen sich eine Lobby schaffen, zeigt, dass erhebliche Bewegung ins Zusammenleben und -arbeiten gekommen ist – trotz der konservativen Normen. Dank Gezi haben endlich völlig unterschiedliche Lebensmodelle an Sichtbarkeit gewonnen. So finden etwa Transen, nach jahrelanger brutaler Verfolgung und Morden, die mühsam an eine breitere Öffentlichkeit gebracht werden mussten, endlich mehr Unterstützung in der türkischen Gesellschaft. Es schien in den letzten Jahren des Öfteren so, als hätten die AKP-Kader mit ihren geschlechterpolitischen Vorstößen die Schmerzgrenzen der Gesellschaft oder eher die ihrer artikulationsfähigsten Teile austesten wollen. Jahrelang stieg die Zahl der Gewaltverbrechen gegenüber Frauen in der Türkei an. Feministische Forscherinnen brachten dies ähnlich wie in etlichen arabischen Ländern mit einer Krise der Männlichkeit in Zusammenhang (vgl. Kandiyoti 2001). Damit ist unter anderem gemeint, dass ›männliche‹ Formen der Vermittlung von Arbeit und Leben zunehmend dysfunktional werden gegenüber den gesellschaftlichen Anforderungen. Hinzu kommt, dass viele Frauen in der Türkei auch nicht mehr so gefügig auf Gewalt oder deren Androhung reagieren und der ›Geschlechterkampf‹ insgesamt offener ausgetragen wird. Ein fulminantes Eingeständnis des häuslichen Unfriedens kam im Wahlkampf 2011 von der Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei): Sie wollte familiäre Hilfen nicht länger den Ehemännern, sondern gezielt den Frauen zukommen lassen, damit diese ihrer Bestimmung entsprechend Verwendung fänden.
Baustelle Generationen und Geschlechter
Die enorme Popularität von Sırrı Süreyya Önder, einem Abgeordneten der prokurdischen BDP (Partei für Frieden und Demokratie), dem sogar Chancen auf das Bürgermeisteramt in Istanbul nachgesagt werden, verdankt sich zu einem guten Teil seinem Spiel mit Männlichkeit. Auf der einen Seite vertritt er einen modernisierten linken Humanismus, der für Feminismus und Schwulen- und Lesbenrechte ebenso offen ist wie für religiöse Opposition, und steht damit in der Nationalversammlung den bellenden Soldatentypen à la Tayyip Erdoğan prägnant gegenüber. Auf der anderen Seite ist er dafür bekannt, auf Provokationen harsch zu reagieren und des Öfteren auszurasten – eine Eigenschaft, die Männern so gern nachgesehen und als Qualifikationsmerkmal ihrer Persönlichkeit honoriert wird. Das macht sein Profil widersprüchlich, aber eben auch lesbar für breite Teile der Gesellschaft. In der landesweiten Gezi-Bewegung, das ist sicher, gibt es viele junge Frauen und Männer, denen Typen wie Önder gefallen. Es wurde längst nicht genug darüber geschrieben, dass in Gezi-Land und bei Önder gelacht werden darf. Fragen des Humors, wie über wen oder was man lachen darf oder was für wen lustig ist, haben eine tiefe Bedeutung für Demokratieentwürfe. Wo es mit der geschlechtlichen Subjektivierung hingeht, ist in der Türkei schon lange nicht mehr so klar – unabhängig davon, was die Regierungspartei propagiert. Der Typus, den Tayyıp selbst verkörpert – der des bevormundenden, bisweilen frauenhasserischen und religiös legitimierten Patriarchen –, ist eine Variante von Männlichkeit, die nicht ausgedient hat, aber auch nicht mehr die frühere Geltung beanspruchen kann. Für viele jüngere Männer taugt sie zur Orientierung eigentlich nicht mehr. Entsprechend liegt Erdogan kommunikativ auch immer häufiger daneben. Dennoch soll die Rede von den Baustellen keineswegs suggerieren, alles und jedes sei im Umbruch und alles möglich. Wo das rot-weiße Flatterband verläuft, ist umkämpft. Trotz Gezi ist vieles auf der formalpolitischen Ebene beim Alten geblieben: Weiterhin existiert das antidemokratische Wahlgesetz mit seiner Zehn-Prozent-Sperrklausel, es gibt keinen wirklichen Durchbruch im ›Friedensprozess‹ mit den Kurden, der Mangel an glaubwürdigem politischen Personal ist weiterhin frappant und die politischen Spektren sind immer noch in einer Dynamik der gegenseitigen Geiselnahme gefangen. Ob Önder wirklich eine Chance hat, Bürgermeister von Istanbul zu werden, oder ob etwa die aus einem prokurdischen Bündnis von Linken und Aleviten hervorgegangene Demokratiepartei der Völker (HDP) mit findigen Bündnissen mehr bewirken kann, als die Opposition zu spalten – all das ist gegenwärtig nicht abzusehen. Doch nun zu den TrägerInnen der Gezi-Proteste. Über die apolitisch geglaubte Jugend, die in den vergangenen Monaten massenhaft demonstriert hat und in Aus-einandersetzungen mit der Polizei involviert war, ist bereits viel geschrieben worden. Sie verbindet größtenteils, dass sie zur Erholung von diesen Aktivitäten bei einer Frauengeneration im besten bis gehobenen Alter einkehrt, die ihnen Essen kocht, die Gasrückstände aus der Kleidung wäscht und zusieht, dass neben dem Protest der Alltag bestritten wird. Dass diese Frauen in den Parks und auf den Straßen nicht die Masse stellten, macht sie mitnichten weniger relevant. Vielmehr war ja eine der Selbsterkenntnisse des Gezi-Widerstands, dass er im hohen Maß auch von den älteren Generationen getragen wurde. »Opa ist im Gezi-Park« war vielfach gesprüht auf diversen Mauern und Wänden zu lesen. Und im Internet kursierten Witze über die Kontrollanrufe der Mütter, auf die ihre Kinder in der Regel antworteten: »Alles okay, Mama, wir sind sowieso in der hinteren Reihe.« Bezeichnend ist hier, dass ›Opa‹ selbst auf den Platz zieht, während ›Mama‹ nur anrufen kann, also die alte Chose. Das Satiremagazin Penguen schrieb den ›Mamas‹ indes die Antwort auf den Leib: »Was macht ihr denn da hinten? Kommt gefälligst zu uns in die erste Reihe!« Und auch dies ist Teil der Realität: So haben sich viele Frauen ab 50, versehen mit der Legitimität und der Wut von Müttern, die ihre Kinder schützen wollen, tatsächlich den Räumpanzern entgegengestellt. Um eine der Wirkungsebenen des Gezi-Widerstands zu erfassen, ist es nützlich, sich in Erinnerung zu rufen, welche massenhaften und prägenden Mobilisierungen von Frauen es in der Geschichte der Republik gegeben hat, denn hier wird ein Unterschied zu heute sichtbar. Zu Beginn der Republik und noch etliche Dekaden danach wurde eine vornehmlich auf städtische und bürgerliche Teile der Gesellschaft ausgedehnte Bildungsoffensive wirksam. Weibliche Leitbilder vereinten Familien- und Berufstätigkeit und vermittelten damit vielen Frauen ein großes Selbstbewusstsein – auch wenn das Konzept teils widersprüchlich war und nur bedingt einem Ideal von Geschlechtergleichheit entsprach. Die Identität der heute im Alltagssprachgebrauch als »Tanten der Republik« (cumhuriyet teyzeleri) bezeichneten Frauen verweist auf diese Zeit. Sie sind Atatürk und seinen Reformen immer noch zutiefst dankbar und beseelt von der Idee, das damals Errungene vor Rückschritten bewahren zu müssen. Ab den 1960er Jahren waren Millionen von Frauen im Rahmen sozialistischer Politik aktiv und radikalisierten das Gleichheitskonzept in ihrem Sinne. Die gesellschaftlichen Realitäten sahen damals indes noch völlig anders aus. Am deutlichsten steht dafür der gewaltige Kontrast in der Erwerbstätigkeit von Männern und Frauen. Später in den 1990er Jahren stach die Schlüsselrolle von Frauen beim Aufstieg der Islamistischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi/RP) hervor. Unermüdlich kämpfte diesmal ein von den republikanischen Reformen unerreichtes und von den säkularen Eliten stigmatisiertes kulturelles Segment von Frauen in Millionenstärke um Sichtbarkeit, errang Rechtsbewusstsein und schuf eine alternative nationale Ikone: die Kopftuchkämpferin. Gleichzeitig führte der Aufstieg der islamistischen Bewegung auch aufseiten des säkular-nationalistischen Lagers zu einem frauenpolitischen Aufbruch und Gründungsboom: Neue Stiftungen und Vereine schossen wie Pilze aus dem Boden, um dem aus ihrer Sicht konservativen backlash etwas entgegenzusetzen. Eine wichtige Station dieses widersprüchlichen Prozesses waren die als »Frauendemonstrationen« titulierten massenhaften Protestveranstaltungen von nationalistisch und säkulär orientierten Kreisen anlässlich der Wahl Abdullah Güls zum Staatspräsidenten im Jahr 2007. Zu dieser Zeit war eine gesellschaftliche Größe namens ulusalcılar ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten: eine Strömung, die von borniertem Nationalismus (ulus = Nation) geprägt ist und auf Atatürk nichts kommen lässt. Gleichzeitig geht den ulusalcılar jede Empathie mit der kurdischen Minderheit ab. Hier haben die »Tanten der Republik« in gewisser Weise ihre neue Heimat gefunden, nachdem ›das Land‹ so recht keine mehr ist. ›Frauen‹ als eigenständige Stimmen gab es in der Türkei – so sehr Feministinnen sich das auch immer gewünscht haben mögen – in größerem Umfang eigentlich nie. Sie wurden immer einer bestimmten Partei oder dem Lager X oder Y zugerechnet. Erst im Kontext der Gezi-Bewegung gewannen Überzeugungen wie etwa die, dass Hassausbrüche und Übergriffe gegen bedeckte Frauen entschieden zu verurteilen sind, mehr Raum. Erstmals standen Frauen nun in großer Zahl auf der Straße oder stützten mit ihrer Arbeit politische Proteste, ohne sich gleich von vornherein zweifelsfrei einem politischen Lager zuordnen zu lassen – auch wenn der weit überwiegende Teil der Beteiligten sich wahrscheinlich als säkular bezeichnen würde. Das ist gesellschafts- und frauenpolitisch etwas Neues, wenn überhaupt nur vergleichbar mit den starken Protesten gegen die geplante Änderung des Abtreibungsgesetzes. Frauen, die – eher unfreiwillig – den Gezi-Widerstand symbolisieren, heißen etwa Ceyda Sungur. Das ist die Frau im roten Kleid, die als kritische Stadtplanerin und Angehörige des wissenschaftlichen Mittelbaus die Gezi-AktivistInnen ideal repräsentiert. 43 Prozent von ihnen haben Universitätsabschlüsse und sind, worauf zu Recht hingewiesen worden ist, abhängig beschäftigt (Karaağaç/Yılmaz 2013). Hinter Gezi steht auch die globale Erfahrung der Abwertung von Bildungsabschlüssen. In der Türkei ist dies gleichzeitig die Erfahrung enttäuschter Erwartungen des säkular-kemalistischen Klientels, das verlorenen Pfründen hinterhertrauert.
Baustelle ›autoritärer Feminismus‹
Als der AKP noch in weiten Kreisen eine demokratisierende Wirkung zugesprochen wurde, im Jahr 2007, schwärmten viele BeobachterInnen, die Zeiten des ›autoritären Feminismus‹ seien vorbei.1 Gemeint sind damit atatürkistische bis ultranationalistische frauenpolitische Kräfte und Einrichtungen. Es gab und gibt jedoch bisher keinen gesellschaftlichen Wandel, der so radikal wäre, dass diese Teile der Frauenbewegung ihre Bedeutung gänzlich eingebüßt hätten. Auch die feministische Bewegung, so sehr sie sich auch kritisch abgrenzt, hat Verbindungen in dieses Segment. Für ihre eigene Handlungsfähigkeit ist das auch sinnvoll. Was die gesellschaftlichen Ziele betrifft, gibt es viele Überschneidungen: zuvorderst die Befürwortung von individueller Entscheidungsmacht für Frauen. Gleichzeitig gibt es umso mehr Widersprüche hinsichtlich der Frage, welche Wege gesellschaftlichen Wandels einzuschlagen sind, um dieses Ziel zu erreichen. Mitglieder und Zielgruppen von Organisationen wie zum Beispiel dem 1989 gegründeten frauenpolitisch sehr aktiven Verein zur Unterstützung zeitgemäßen Lebens oder der älteren Föderation der Frauenvereine der Türkei (gegr. 1957) leiden unter dem Verlust ihrer vormaligen Privilegien und tragen jene Geschichtsdeutung weiter, nach der einzig die AKP für Reaktion steht und deren Regierungszeit für den Ausverkauf nationaler Souveränität und den Abbau kultureller Errungenschaften. Aufgrund ihrer starken Verankerung im Bildungssystem und im karitativen Sektor, ihrer guten Verbindungen zu manchen Frauenforschungsstellen sowie als Teil der Frauenbewegung sind solche Institutionen bis heute wichtig. Sie bleiben wirksame Sozialisationsinstanzen im Leben vieler junger Frauen und spielen selbst für junge Männer eine Rolle. Dies hängt damit zusammen, dass es in der Türkei wenig explizite und schon gar keine von Parteien unabhängige Jugendarbeit gibt und es daher an Räumlichkeiten mangelt, an denen junge Menschen jenseits von Starbucks-Cafés oder anderen kommerziellen Orten zusammenkommen können. Angesichts des Gezi-Widerstands, den sie unmöglich einfach nur als Stärkung ihres eigenen Lagers deuten können, haben sich diese Frauenorganisationen mit vorsichtigen Erklärungen positioniert. Sie, die in einer eindeutig autoritären Tradition stehen, sind nun mit einer Bewegung konfrontiert, die auf Hierarchie und Autorität basierende gesellschaftliche Konfliktstrategien grundsätzlich infrage stellt. Teil ihrer Zielgruppe sind auch Frauen wie jene Mutter, die im Netz wochenlang für Aufregung sorgte. Auf einem Bild war zu sehen, wie sie für ihre Tochter, eine Gezi-Aktivistin, eine Lösung zum Schutz vor dem Tränengas der Polizei mischte. Sie soll sehr erfreut gewesen sein, dass sie damit so viele andere Menschen, insbesondere Eltern, erreichte und ermutigte. Wenig später verschwand das Bild aus dem Netz – umsichtige AktivistInnen mögen es vorsichtshalber entfernt haben, um einer rechtlichen Verfolgung der Betreffenden vorzubeugen. Es gab einen Prozess der Verständigung und Vertrauensbildung unter den AktivistInnen von Gezi, der sie nach Ansicht der Soziologin Zeynep Gambetti (2013) gegenüber Propaganda weitgehend immunisiert hat. Wenn die rhizomatische Wirkung der von Gezi ausgehenden Gegenöffentlichkeit anhalten sollte, wenn für die »vertrauensvollen Körper« (Gambetti) der Demonstrierenden weiterhin viele Türen offenstehen, dann ist dies vor allem den vielen Frauen mittleren und gehobenen Alters zu verdanken, die den Geist der Bewegung weitergetragen und ihr Selbstverständnis in den Monaten während und nach den Kämpfen um den Gezi-Park grundlegend verändert haben. Vielleicht wird es eines Tages neue weibliche Ikonen geben, die für das »Wunder von Gezi«, für die Auflösung von zuvor als unerbittlich geltenden Identitäten, stehen: die Gezi teyzeleri, die »Tanten von Gezi«. Und so wie sich vom inländischen Krieg gezeichnete Soldaten- und kurdische Friedensmütter nach jahrzehntelangen Annäherungsversuchen endlich zum Austausch trafen und ein Zeichen für Versöhnung setzten, werden vielleicht auch Gezi- und Polizistenmütter eines Tages zusammenkommen und sich gemeinsam zu Wort melden.