Ein gängiger Mythos besagt, bei der Tea-Party-Bewegung handele es sich um eine rein rechtslibertäre, also marktradikale Bewegung, die mit der ›alten‹ Christlichen Rechten nichts gemein habe. Sie kümmere sich um Wirtschaftsfragen und individuelle Freiheit und pflege eine Abneigung gegen ›Bevormundung‹ aller Art – wie Besteuerung, die Regulierung von Schusswaffen und Drogengebrauch sowie kirchlich-religiöse (Moral-) Vorschriften. Die Christliche Rechte hingegen sei eine Bewegung des Wertekonservatismus, die insbesondere (religiöse) Bevormundung anstrebe. Sie habe zudem keine ökonomische Agenda, sondern führe lediglich einen ›Kulturkrieg‹ gegen den »säkularen Humanismus«, wie der konservative Fernsehmoderator Bill O’Reilly seine Gegner zu bezeichnen pflegt. Es gehe also vor allem gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau, sprich für ein Abtreibungsverbot, gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und für eine Aufhebung der Trennung von Kirche und Staat.
Nun existieren innerhalb der US-Rechten in der Tat verschiedene Strömungen: Autoritärer Evangelikalismus und libertärer Marktradikalismus stehen in einem gewissem Widerspruch. Dieser ist allerdings in erster Linie ein Klassenwiderspruch. Seit den 1990er Jahren kam es zwar auch in der Politik, in der Wirtschaft und in Hollywood sowie an den Hochschulen zur Herausbildung einer evangelikalen Elite (Lindsay 2007). Dennoch ist der Evangelikalismus bis heute ein Phänomen der unteren und absteigenden Mittelklassen im ländlichen und suburbanen Raum, insbesondere in den Südstaaten und im Mittleren Westen. 58 Prozent aller Evangelikalen verfügen über ein Jahreseinkommen von unter 50000 US-Dollar – im Gegensatz zu 53 Prozent im nationalen Durchschnitt. Ärmer sind nur die Zeugen Jehovas und schwarze Protestantengemeinden.
Der sozialdarwinistische Rechtslibertarismus ist dagegen die Ideologie des gewerkschaftsfeindlichen Kleinbürgertums sowie junger, aufstiegsorientierter, urbaner und global wettbewerbsfähiger Eliten von Lohnabhängigen (oft mit Hochschulabschlüssen in wirtschaftsnahen Fachbereichen). Er gibt sich ordoliberal und kritisiert zuweilen die Bankenrettungen als Ausdruck eines »crony capitalism« (Ron Paul), also einer Vetternwirtschaft zwischen politischen und ökonomischen Eliten. Letztlich bedient er aber die Deregulierungs-, Liberalisierungs- und Privatisierungsinteressen der transnationalisierten US-Bourgeoisie, als Moment eines MitteOben-Bündnisses. Die Republikanische Partei scheint also zerrissen zwischen zwei Klassen und ihren ideologischen Tendenzen. Doch eine Überbetonung dieser Differenzen verkennt die relative Einheit der amerikanischen Rechten.
Der Mythos von einem Gegensatz zwischen rechtslibertär und rechtsautoritär beruht auf einer falschen Dichotomisierung von vermeintlich ideellen Werten und Kultur auf der einen und ökonomischen, also materiellen Interessen auf der anderen Seite. Thomas Franks so berühmte wie ideologietheoretisch problematische These aus What’s the Matter With Kansas?, der zufolge die Christliche Rechte ihre Anhänger mit ›Wertediskussionen‹ von ihren ›wirklichen‹ materiellen Interessen ablenke, erwies sich mit dem Aufstieg der Tea Party seit Februar 2009 klar als Irrtum: Vier von zehn Wählern bekannten sich 2010 als Unterstützer und wählten rechts, nicht trotz sondern wegen ihres Marktradikalismus (vgl. Solty 2012).
Die These, bei der Tea Party handele es sich ab 2009 ideologisch und personell um eine andere Rechte als bei der Christlichen Rechten zwischen 1980 und 2008, ist unhaltbar. Die Tea Party war von Beginn an eine in rechtsreligiöser und marktradikaler Sprache zugleich artikulierte Sammelbewegung des US-Rechtspopulismus. Marktradikalismus und christlich-rechter Autoritarismus bilden in ihr einen ideologischen Gesamtzusammenhang.
Nun gilt grundsätzlich, dass Religion im Kapitalismus von verschiedenen politischen Lagern in Dienst genommen werden kann. Der Sozialismus ist mit der Bibel, dem Koran und der Thora ebenso begründet worden wie Kapitalismus und Autoritarismus. Die Christliche Rechte rechtfertigt mit dem autoritären Offenbarungskapitel aus der Bibel beispielsweise die mindestens 100000 getö- teten Zivilisten im Irakkrieg, während linke Christen mit der Bergpredigt die Notwendigkeit begründen, die kapitalistischen Marktkräfte einzuhegen. Obwohl in den urbanen Mittelklassen die Anzahl der Atheisten steigt (Wicker 2008) und auch in der Arbeiterklasse der Anteil derjenigen, die sich nicht länger einer religiösen Institution oder Gemeinschaft zuordnen (Douthat 2012, 142f), geben in den USA immer noch fast 90 Prozent der Bevölkerung an, an ein ›höheres Wesen‹ zu glauben. Sozialistische Bewegungen müssen sich deshalb in den USA zwangsläufig (auch) in religiöser Sprache artikulieren. Das gilt umso mehr, als der Atheismus hier als antidemokratische liberale Elitenideologie auch historisch eher eine reaktionäre Rolle gespielt hat (Unger 2006). Historisch gesehen hat sich in den USA jedoch eine organische Einheit von Marktradikalismus und christlichem Fundamentalismus entwickelt, die rechte Tendenzen innerhalb religiöser Gemeinschaften verstärkt hat. Es ist deshalb nicht uninteressant, sich diese Geschichte zu vergegenwärtigen.
Zur Genealogie (rechts)religiöser Sozialstaatsfeindlichkeit
Die politische Religionsgeschichte in den USA verlief lange mehr oder weniger parallel zu der in anderen kapitalistischen Kernländern. Mit Blick auf die USA hatte Max Weber die protestantische Ethik als Quelle des Kapitalismus interpretiert. Im demokratisierten und individualisierten Protestantismus ist der sündige Gläubige sozusagen doppelt frei: frei von der Autorität des katholischen Priesters, frei aber auch von der emotionalen Geborgenheit, die der hierarchisch-paternalistische Katholizismus durch Beichte, Vergebung und Ablasshandel gewährte. Die furchterregende (Vor-Gott-)Einsamkeit des Sündigen kulminierte in der calvinistischen Prädestinationslehre: Der weltliche ökonomische Erfolg sei Ausdruck der Liebe Gottes. Nur mit rigoroser Arbeitsdisziplin, Spartätigkeit und Akkumulation könne der sozial individuierte Gläubige der panischen Angst vor der Sünde und der Hölle begegnen.
Trotzdem bildete sich mit der Entstehung des Proletariats, der Krise des Laisser-faire-Konkurrenzkapitalismus in der Großen Depression von 1873 bis 1896 und mit dem zeitgleichen Aufstieg der sozialistischen Arbeiterbewegung auch in den USA eine religiöse Linke heraus. Dies galt besonders für den Katholizismus, der vom Vatikan und von der ersten, vierzig Jahre lang gültigen Sozialenzyklika Rerum novarum (1891) und der daraus entwickelten katholischen Soziallehre bestimmt wurde. Für die politische Tragfähigkeit des New Deal waren die urbanen katholischen Arbeiter-Milieus sogar entscheidend (Meyerson 2004), was nicht zuletzt Ergebnis einer geschickten gegenhegemonialen Politik der Arbeiterbewegung selbst war. In (lokalen) Bündnissen bei Streiks etc. war es ihr gelungen, die tief sitzende traditionell-religiöse Skepsis gegenüber einem linken Säkularismus genauso abzubauen wie die Ablehnung gegenüber dem Ausbau des Sozialstaats im Zuge des New Deal. Letzterer widersprach in einer katholischen Sichtweise dem Subsidiaritätsprinzip, insbesondere der zweiten Sozialenzyklika Quadragesimo anno (1931). Diese strategische Orientierung der Arbeiterbewegung ermöglichte es schließlich, auch aus den Reihen evangelikaler Protestanten, die freilich kein ›natürlicher Bündnispartner‹ waren, MitstreiterInnen zu gewinnen.
Nach dem historischen Scheitern sozialistischer Bestrebungen in den USA – spätestens im Zuge des Kalten Krieges, einschließlich der Kommunistenverfolgungen der 1950er Jahre – und angesichts der historischen Unfähigkeit der US-Arbeiterbewegung, das bürgerliche Parteiduopol zu brechen, spielte die politische Religion schließlich eine zunehmend starke Rolle dabei, den keynesianischen Welfare– zum neoliberalen Workfare-Staat umzubauen. Dies hat vor allem mit der Spezifik der Sozialstaatlichkeit in den USA zu tun. Allgemein gesprochen, hängt die Akzeptanz jedes Wohlfahrtsstaates von seiner Reichweite ab: Je universeller er ist, je größer also der Anteil der Menschen aus den Mittelklassen ist, die von ihm profitieren, umso akzeptierter sind die damit einhergehenden höheren Steuern, und umso schwerer ist es für das Kapital, populäre öffentliche Sozialsysteme zu rekommodifizieren.
In den USA hat sich der Sozialstaat besonders partikularistisch entwickelt, was unter anderem daran liegt, dass die Religion anders als in Westeuropa zu keinem Zeitpunkt staatliche Religion war. Der religiöse Antietatismus lässt sich darauf zurückführen, dass die USA durch Puritaner gegründet wurden, die sich auf der Flucht vor staatlicher Unterdrückung befanden. Zudem entwickelten sich die USA seit der Zeit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 unter Bedingungen eines Laizismus, also einer strikten Trennung von Staat und Religion. Aus diesen Gründen entstand niemals eine ›Christdemokratie‹. Und das Sozialsystem ähnelt – mit Einrichtungen wie Essensmarken (seit 1964) oder der Krankenversicherung Medicaid für die Armen (seit 1965) und Medicare für Rentner und Behinderte (seit 1966) – in den USA eher der fragmentierten und stigmatisierenden paternalistischen Armenfürsorge des Feudalismus und einer Ad-hoc-Sozialpolitik als einem arbeits- und sozialrechtsbasierten universellen Wohlfahrtsstaat.
Als in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren die vom Kapital forcierte neoliberale Globalisierung zu einer »Steuerkrise des Staates« (James O’Connor) führte, war es diese Partikularität des US-amerikanischen Sozialstaates, die die hegemoniale Konstruktion eines Mitte-Oben-Bündnisses ermöglichte und damit eine Vertiefung des neoliberalen Umbaus beförderte. In den klassistisch und rassistisch aufgeladenen Angriffen auf afroamerikanische ›welfare queens‹ spielte die calvinistischprotestantische Sozialstaatsfeindlichkeit eine wichtige Rolle. Auch die vermeintlich bloß Wertkonservativen trugen die Demontage sozialstaatlicher Strukturen im Sinne einer Wiederherstellung der Marktkräfte gegen die Sünde der Faulheit aktiv mit.
Die Feindseligkeit der Christlichen Rechten gegenüber öffentlichen Sozialleistungen speiste sich außerdem aus einer Skepsis gegenüber dem Zentralstaat als solchem. Für Evangelikale aus den Südstaaten und dem Mittleren Westen sowie für viele Katholiken steht dieser seit der Roe-v-Wade-Entscheidung1 des Obersten Gerichtshofes nicht zuletzt für ein Recht auf Abtreibung.