Wir hören, Wachstum sei das Allheilmittel in Wirtschaftskrisen, die Konstante im Aufschwung. Welcher Art auch immer die wirtschaftlichen Probleme von Staaten und Volkswirtschaften sind, die angebliche Lösung heißt Wachstum. Wachstum ist absichtslos. Wachstum ist alles; ohne Wachstum ist alles nichts. Bis in die jüngste Zeit hinein glauben Linke, Rechte und die Mitte an diesen Wachstums-Blues.

Dabei haben die bald neun Milliarden Menschen keine Chance, mit einer Ressourcennutzung auf dem Niveau der heutigen Industrieländer gemeinsam in Frieden zu leben. Als Rudolf Bahro dieses Dilemma benannte und als Gattungsproblem absichtslosen Wachstum für wesentlicher erklärte als die Klassenfrage der ungleichen Verteilung gesellschaftlichen Reichtums, da brach er ein Tabu. Er erntete Hohn, Hass und Haft. Die Tonnenideologie der realsozialistischen Wachstums-Euphoriker hatte sich ein paar Jahrzehnte später erledigt. Der Systemwechsel im Osten versprach den westlichen Volkswirtschaften Wachstum. Bis zum heutigen Tage ist das undifferenzierte Wachstumspathos die Lebenslüge aller Industrieökonomien geblieben. Dazu im Widerspruch steht, dass die Wirtschaft dem Menschen und der Umwelt dienlich und nützlich sein muss. Wachstum als Selbstzweck funktioniert nicht auf einem Planeten, dessen natürliche Ressourcen endlich sind. Dasjenige Wachstum, das auf die unendliche Vernutzung dieser Ressourcen abstellt, ist eine Illusion. Es geht also um die differenzierende Frage: Was soll wachsen und was schrumpfen? Was soll bleiben dürfen, was verschwinden? Was wollen wir uns leisten, was nicht? Nicht nur auf das rein numerische Zählen, sondern auf das Werten, Bewerten und Anstreben von Entwicklung kommt es an.

Physische Grenzen haben vor allem die ökologischen Lebensgrundlagen unserer Lebensweise. Die Geschwindigkeiten etwa, in der sich Nischen aus Wärme, Kälte, Sauerstoff und Nahrungsgrundlagen, in die sich die Menschheit eingerichtet hat, verändern, sind der Rahmen für Wachstum und Schrumpfung. Wirtschaftszweige können und müssen wachsen, sofern sie zukunftsfähig sind, andere werden verschwinden, auch wenn dies soziale Probleme hervorruft. Selbst in einer demographisch schrumpfenden Gesellschaft gibt es Wachstumsfelder, weil neue gesellschaftliche Bedürfnisse zum Beispiel an Pflegearbeit, Gemeinschaftsarbeit oder Bildung entstehen. Eine harte Klimapolitik – hätten wir sie denn – würde spezifische Wirtschaftsbereiche aufblühen lassen, während andere eingehen. Theoretisch sind Gesellschaften vorstellbar, die sich dynamisch mit wachsendem Neuen und schrumpfendem Alten entwickeln und in der Gesamtbilanz nicht wachsen – gerade so, wie es heute Gesellschaften gibt, die numerisch wachsen, aber wertmäßig schrumpfen. Es kommt auf die Qualität an – und auf die demokratische Meinungsbildung. Ansätze dafür gab es immer wieder, etwa in Deutschland in den 1970er Jahren, als rund um die Ölkrise gefragt wurde, was Lebensqualität ausmache. In den letzten Jahren fordert das Stichwort Nachhaltigkeit die längst fällige Debatte heraus. Sie muss um qualitative Effekte und gesellschaftliche Werturteile als Fundament allen Wachstums und allen Wirtschaftens gehen.

Mit notorischer Verwegenheit ignoriert das Wachstumspathos das Wissen um Qualität und Wirkungen: Wachstum wird schlicht als Bruttosozialprodukt gemessen und zum Wirtschaftsbarometer erhoben. Das Bruttosozialprodukt ist aber lediglich das gesamte Einkommen, das in einem Staat von Beschäftigten und Unternehmern erwirtschaftet wird, einschließlich der Einkünfte aus Kapitalerträgen. Gezählt wird alles: Wohlfahrtsgewinne, Verkehrsunfälle, reale Wertschöpfungen und soziale Dienstleistungen, das Abpumpen kontaminierten Grundwassers, die Kosten für Gesundheit oder die für Lärm und Luftverschmutzung, die Spekulationsspiele der Subprime-Jongleure und Investitionen in die ökologische Regionalwirtschaft. Das Abholzen und die Aufforstung eines Waldes haben eines gemeinsam: Alles ist Wachstum. Die Messung des Wachstums ist genauso einfältig wie seine Bestimmung. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) addiert, was sich in der Sache widerspricht. Es zählt statt zu differenzieren. Kein Schaden an der Umwelt ist groß genug, um nicht Wachstum auszulösen, vorausgesetzt, dass sich jemand findet, der dafür zahlt.

Es gibt Versuche, richtig zu zählen. Hier ist vor allem China zu nennen – ein Hort des HyperWachstums. In Europa hat es die Geschwindigkeit und das Ausmaß des chinesischen Wirtschaftswachstums zuletzt vor 200 Jahren gegeben, als Preußen ein Tigerstaat war. Im heutigen China weiß man jedoch gut Bescheid über das potemkinsche Ausmaß und die sozialen wie ökologischen Kosten des eigenen Wachstums. Straßen ersetzen Landschaft. Fruchtbare Böden erodieren unwiederbringlich und schwimmen davon. Die Luftverschmutzung macht die Städte unwirtlich. SüßwasserDelphine sucht man vergebens. Die Kosten des Umweltschutzes, die Folgen einer nach westlichem Vorbild individualisierten Lebensweise nagen am versprochenen Wohlstand. Man weiß: Die Rechnung ist unbezahlt. Man ahnt: Sie ist unbezahlbar. Jedes Quäntchen Wachstum hinterlässt ein Quantum Umweltschäden. Deshalb suchte China nach einer Alternative für die Messung eines um offensichtliche Öko-Schäden bereinigten Wachstums. Nicht die Kosten der Umweltverschmutzung, sondern nur, was wirklich Wohlstand schafft, sollte gemessen werden. Nicht das absichtslos Unsinnige, sondern nur der dauerhafte Wohlstand, das »Green GDP«, das Grüne BIP soll gemessen werden.

Mit Daten aus 2004 erblickte der erste Green-GDP-Bericht Ende 2006 für eine kurze Zeit das Licht der Öffentlichkeit. Präsident Hu Jintao hatte die Arbeit in Auftrag gegeben. Der Bericht wies laut der Chinesischen Regierungs-Website vom 11. September 2006 einen finanziellen Verlust durch Umweltverschmutzung von ca. 512 Milliarden Yuan aus (57,1 Milliarden Euro).Das waren damals gut drei Prozent der Volkswirtschaft. Unabhängige Kostenschätzungen gingen sogar noch weiter. Ihnen zu Folge rangierten die externen Umweltkosten bei acht bis 12 Prozent des jährlichen Wachstums (manche sprachen sogar von bis zu 15 Prozent). Für das Jahr 2002 würde das offizielle Bruttoinlandsprodukt um 44 Prozent fallen, würde man die negativen Faktoren wie die Vernutzung der Kohleressourcen, Landverluste, Wasser- und Umweltverschmutzung abziehen. Die (damals) jährlich 11,7 Prozent Wachstum würden auf weniger als ein Prozent reduziert. Mit anderen Worten: Das statistisch ausgewiesene Wirtschaftswachstum ist realwirtschaftlich nahe null.

China war der erste Staat, der eine solche ehrliche Bilanz zog. Doch blieb das Grüne BIP ein Experiment – ein Jahr später wurde es eingestellt. Die Erkenntnis war nicht akzeptabel, dass die enormen Wachstumsraten der chinesischen Wirtschaft, die global für Aufsehen und erhöhte Investitionsbereitschaft sorgten, letztlich nur kommunikative Fassade, aber nicht wirklicher Reichtum sind. Der schon in Auftrag gegebene Bericht für 2007 wurde nicht veröffentlicht.

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen: The Economist wusste bereits im Oktober 2005, dass aus der chinesischen Idee nichts werden würde. Unter dem Titel »The Greening of China« mutmaßte die Redaktion, dass das Grüne BIP nur ein Trick der chinesischen Umweltschützer sei, Aufmerksamkeit zu erzeugen, während man wohl ernstzunehmende und praktisch verwertbare Ergebnisse nicht zu erwarten hätte. Das stimmt, wenn man allein für praktisch hält, was in das Bild des Absichtslosen passt.

Indessen halten sich alle Industriestaaten sehr bedeckt, wenn es um Kostenwahrheit geht. Einen vergleichbaren Versuch zu einem offiziellen Grünen BIP hat es offiziell nirgendwo anders gegeben. Die deutsche Statistik der Umweltökonomischen Gesamtrechnung ist der auf Umweltdaten bezogene Teil der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Der Leitgedanke einer umweltorientierten Bilanz wird mit einer detailreichen Vielzahl von Fachstatistiken, nicht aber mit einer Gesamtaussage zu einem Grünen BIP umgesetzt. Die Frage nach der Kostenwahrheit des deutschen Wirtschaftswunders bleibt offen. In der Tat ist die Berechnung eines Grünen BIP kompliziert. Doch war nicht jeder Fortschritt mit dem Vorwurf konfrontiert, zu kompliziert zu sein?

Nichts regt die industriepolitischen Fantasien der Wirtschaftsführer so an wie die Stichworte »Wachstum« und »China«. Nichts regt die verteilungspolitischen Fantasien der Sozialpolitiker so an wie die Aussicht auf Wachstum. Beiden fehlt eine ernste Auseinandersetzung mit dem Ziel, nachhaltig und zukunftsverträglich zu wirtschaften sowie beim Streit um die soziale Gerechtigkeit endlich auch die Generationengerechtigkeit anzuerkennen. Absichtslosigkeit garantiert nicht die Abwesenheit von Verantwortung.