Es war eine Zeit der Rebellion, der Revolution, des Kampfes, der Besetzungen und Streiks – und der lebenden, atmenden Hoffnung darauf, dass die alte Ordnung kollabiert und eine neue Gesellschaft möglich ist. An 1968 erinnern vielleicht am besten les évenements (die Ereignisse) vom Mai und Juni in Frankreich: ein Tsunami von Demonstrationen, Barrikaden und Besetzungen von Fabriken und Universitäten. Die rote Fahne wurde über Fabriken gehisst, Protestierende sangen die Internationale, und revolutionäre Slogans schmückten Plakate, Banner und Mauern, wie etwa: „Die Menschheit wird nicht eher glücklich sein, als bis der letzte Kapitalist an den Eingeweiden des letzten Bürokraten aufgehängt ist.“ Als im Zuge des größten industriellen Aufstandes in Frankreich 150 Millionen Arbeitstage im Zuge von Streikaktionen verlustig gingen, warnte die Pariser Polizei vor einer vorrevolutionären Situation, und Frankreichs Premier Georges Pompidou erklärte im Fernsehen, die Aufständischen seien entschlossen, „die Nation und die Grundfesten unserer freien Gesellschaft zu zerstören.“[1]

In London flogen Feuerwerkskörper, als Hunderttausende aus Protest gegen den Vietnamkrieg versuchten, die US-Botschaft zu stürmen. In Italien wurden quer durch das Land Universitäten besetzt, als die sogenannte Sessantotto-Bewegung den morschen Status quo in Frage stellte. Eine Vorahnung des ‚heißen Herbst‘ des Folgejahres, als die italienische Gesellschaft von Streiks erschüttert wurde. Hier fielen 60 Millionen Arbeitstage aus.[2]

In Westdeutschland demonstrierten zehntausende Studierende und Arbeiter*innen gegen den Vietnamkrieg, gegen ein rechtes Medienestablishment, das gegen die Linke hetzte, und gegen ein politisches System, das noch immer Kontinuitäten zum Nationalsozialismus aufwies. In Mexiko-City wurde einer aufbegehrende Studierendenbewegung mit enthemmter Gewalt der Regierung begegnet; hunderte wurden durch das Regime dahingemetzelt. In der Tschechoslowakei wurde der sogenannte ‚Prager Frühling‘ und der Versuch, einen ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ aufzubauen, durch den Einmarsch der Armee des Warschauer Paktes beendet. Die Vereinigten Staaten wurden durch die Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung, der Antikriegsbewegung und durch massenhafte studentische Besetzungen und Proteste erschüttert, die von den immer radikaleren Students for a Democratic Society angeführt wurden.

Das ist der Hintergrund, vor dem wir dieses Manifest lesen müssen. Es war eine Zeit des Gärens und der wachsenden Desillusionierung – mit dem keynesianischen Konsenskapitalismus, dem westlichen Imperialismus und dem stalinistischen Autoritarismus. Die britische Neue Linke, die in diesem Manifest ihren klaren politischen Ausdruck findet, lässt sich von diesen Entwicklungen nicht trennen.

Wenn wir das Manifest heute lesen, fallen uns sowohl die Ähnlichkeiten wie auch die Unterschiede zur Gegenwart ins Auge. Da ist die Kritik einer offensichtlichen Ungleichheit von Vermögen und Einkommen und einer erschreckenden Armut: damals zählte man 14 Prozent als in Armut lebend, heute über ein Fünftel,[3] wobei die meisten britischen Haushalte unterhalb der Armutsgrenze heute „working poor“ sind. Das Manifest macht sich kühn für „eine sozialistische Richtung der Wohnungspolitik“ stark. Heute stehen durch den Ausverkauf des öffentlichen Wohnungsbaus Millionen auf den Wartelisten für Sozialwohnungen und sind einem unregulierten, unsicheren, oft erpresserischen privaten Mietmarkt ausgeliefert. Die Obdachlosigkeit ist seit 2010, als die Tories an die Macht kamen, um 169 Prozent gestiegen.[4]

Das Manifest begrüßt den Nationalen Gesundheitsdienst NHS zu Recht als „großangelegten Versuch, eine neue Qualität der zivilen kommunaler Versorgung sicher zu stellen“, beklagt aber „marode Krankenhäuser, schlechte Löhne und Arbeitsbedingungen“ und „das Austrocknen des öffentlichen Sektors zugunsten privater medizinischer Versorgung“. Das heutige NHS wurde privatisiert und vermarktlicht und erlebte – unter New Labour wie auch unter den Tories – die größten Kürzungswellen seit seiner Gründung. Hinzu kommt der wachsende Druck durch die Angriffe auf die Finanzierung sozialer Versorgungsleistungen. Krankenpfleger*innen mussten innerhalb eines Jahrzehnts eine Lohnkürzung von real 12 Prozent hinnehmen, während der Abbau von Personal und die Länge der Wartelisten krisenhaft zunehmen.

Damals forderte das Manifest, mit Hilfe von öffentlichem Eigentum „die spaltenden Kräfte der Konkurrenz durch kommunale Zusammenarbeit ersetzen“. Zu Recht, wie sich zeigen sollte. Die Privatisierung von Wasser, Energie und Eisenbahnwesen endeten in einem Desaster. Die Ticketpreise zählen zu den höchsten in ganz Europa, das Netz wird durch Übernutzung ruiniert, während die Subventionen sogar ungleich höher sind als in den Zeiten von British Rail. Die Wasserprivatisierung ist eine solches Fiasko, dass selbst die Financial Times die Möglichkeit der Verstaatlichung in Erwägung zog und erklärte, der Ausverkauf erscheine „kaum anders als ein organisierter Betrug“.[5] Zugleich griff das Manifest aber auch den barbarischen Überfall der USA auf Vietnam an. Bis heute haben die von den USA angeführten katastrophalen Kriege in Afghanistan, Irak und Libyen unvorstellbare menschliche Verluste hinterlassen – hunderttausende Tote, Millionen Verletzte und Traumatisierte, Millionen Vertriebene, Milliarden verschwendete Dollar, wirtschaftlich ruinierte Nationen – und den Aufstieg extremistischer Gruppen.

Sicherlich gibt es viele Unterschiede zwischen der Zeit, in der das Manifest entstand und unserer Gegenwart. Der Stalinismus ist faktisch verschwunden, sowohl als real existierendes soziales System wie auch als eine geballte politische Kraft in den westlichen Gesellschaften. Als das Manifest geschrieben wurde, regierte ein sozialdemokratischer Konsens Britannien und den größten Teil der westlichen Welt im Sinne des nach dem Zweiten Weltkrieg begründeten Klassenkompromiss. Zwar war dieser völlig unzureichend und deckte mit seinen Lösungen die vom Kapitalismus verursachten tiefen Wunden zumeist nur oberflächlich ab – in einer Weise, die sich leicht beseitigen ließ und dann auch beseitig wurde. Doch mit seiner Verbindung von starken Gewerkschaften, hoher Besteuerung von Reichtum, Verstaatlichung einzelner Sektoren der Wirtschaft und weitreichender staatlicher Eingriffe erzeugte dieser Klassenkompromiss die größte Kombination von ökonomischem Wachstum und gesteigertem Lebensstandard in der britischen Geschichte.

Das jetzige Zeitalter ist nicht mehr von Prosperität gekennzeichnet: noch immer leiden wir unter den verheerenden wirtschaftlichen Konsequenzen des Zusammenbruchs der unregulierten Finanzmärkte. Die Austerität hat insbesondere schlecht bezahlte Beschäftigte, Menschen mit Behinderung und eine ganze Generation junger Menschen ins Elend gestürzt, während soziale Infrastrukturen zerlegt wurden. Die Ideologie, die uns heute regiert, ist der Neoliberalismus. Er verficht die maximale Vernichtung des Öffentlichen zugunsten der Marktkräfte, das Zurückstutzen der Steuern für Reiche, die massenhafte Deregulierung und die Zerstörung kollektiver Organisierung. Als Folge wurden den britischen Beschäftigten die schlimmsten Lohnkürzungen von allen OECD-Ländern mit Ausnahme Griechenlands aufgenötigt, und zwar über den bisher längsten Zeitraum seit vielleicht dem achtzehnten Jahrhundert.

Dennoch gibt es eine herausstechende Ähnlichkeit zwischen beiden Zeitaltern. Das Manifest wurde in der Zeit eines wachsenden linken Bewusstseins geschrieben. Wie das Manifest belegt, war die Linke dabei, eine schlüssige Alternative zur bestehenden Gesellschaftsordnung herauszuarbeiten und zu artikulieren. Im Gegensatz dazu war die heutige Linke bis vor kurzem noch fragmentiert, isoliert, in der Defensive und zum großen Teil mit dem Versuch beschäftigt, existierende Errungenschaften vor dem Rollback zu bewahren. Das hat sich in einer Weise geändert, die viele der Unterzeichner*innen des Manifests sehr überraschen würde.

Das Manifest war sehr skeptisch gegenüber dem Potenzial der Labour Party, zum Vehikel sozialistischer Transformation zu werden, es war voller Verachtung für das stolz proklamierte Selbstverständnis der Partei, sie sei eine Koalition. Man glaubte, dass dies Bauernfängerei sei, die lediglich dazu beitrage, die Linke zu integrieren und zu zähmen sowie von Macht und Einfluss abzuschneiden. Es ist deshalb einigermaßen erstaunlich, dass der linke Labour-Flügel 2015, als er sich in einer historisch einmaligen Situation der Schwäche befand, mit Jeremy Corbyn die Führung der Partei übernahm. Nach 18 Monaten internen Kampfes war diese Führung in der Lage, der britischen Öffentlichkeit zu den Wahlen von 2017 ein Manifest zu präsentieren und 40 Prozent der Stimmen zu gewinnen, was auch die Position innerhalb der Partei absicherte.

Großbritannien befindet sich seither in einer neuen politischen Ära. Der neoliberale Konsens ist in sich zusammengefallen. Er wird nicht länger als naturgegeben angesehen. Seine Vorkämpfer*innen mussten sich wieder auf ihre Grundlagen besinnen und ihre Vorstellungen und Ideologien grundlegend verteidigen, zum ersten Mal im Verlaufe einer ganzen Generation. Tory-Abgeordnete befinden sich in einem Zustand persönlicher Panik und fürchten, dass der Zusammenbruch ihrer Regierung das Ende des Thatcherismus einläutet und den Weg für eine transformative sozialistische Regierung bereitet, wie es sie womöglich noch in keiner westlichen Gesellschaft gegeben hat.

Genau jetzt ist die Zeit für die Linke, wie das Manifest ehrgeizig die Grundlagen für eine ganz neue Gesellschaft zu legen, statt an der bankrotten und zerfallenden herrschenden Ordnung herumzuflicken, die im Kriegszustand mit den Sehnsüchten und Bedürfnissen von Millionen von Menschen steht. Wie das Manifest seinerzeit zu Recht formulierte: „Nur ein fortgeschrittener Sozialismus birgt die Chance, die menschliche Kontrolle zurückzugewinnen“

Im Jahr 2017 untermauerte Corbyns Labour-Manifest einen radikalen, inspirierenden Ausbruch aus dem  Neoliberalismus. Die Steuern für die oberen fünf Prozent der Top-Verdiener*innen und die großen Unternehmen sollen angehoben und die City of London mit einer Steuer für finanzielle Transaktionen belegt werden, die in das Gesundheits- und Bildungssystem investiert werden sollen. Ein riesiges Programm für Sozialen Wohnungsbau soll aufgelegt werden und der private Mietmarkt reguliert werden. Eisenbahn, Energie und Wasser würden in öffentliches Eigentum überführt werden. Die Rechte der Lohnabhängigen sollen wiederhergestellt und das Machtverhältnis zu ihren Gunsten verschoben werden. Ein gesetzlich festgelegtes existenzsicherndes Mindesteinkommen („living wage“) würde eingeführt werden. Studiengebühren würden abgeschafft und die Last der Verschuldung von den Schultern junger Leute genommen werden, die es gewagt hatten, von universitärer Bildung zu träumen.

Doch dieses Labour Manifesto kann nur als bescheidener Anfang gesehen werden. Eine breite Linke muss sich dafür stark machen, diese Vorschläge noch auszuweiten, sowohl bevor Labour an die Macht kommt wie auch nach einem Wahlsieg. Durch eine breite Massenbewegung sollte Labour gedrängt werden, sich nach der Regierungsübernahme zu radikalisieren – und den definitiven Bruch mit dem Kapitalismus zu wagen.

Nehmen wir die Steuern: die Labour-Partei schlägt einen neuen Einkommenssteuersatz von 45 Prozent für Einkommen über 80.000 Pfund vor – das betrifft die obersten fünf Prozent –  und einen Satz von 50 Prozent für Einkommen über 123.000 Pfund – das betrifft die obersten zwei Prozent der Einkommensbezieher. Die Körperschaftssteuer würde Schritt für Schritt von 19 auf 26 Prozent erhöht werden. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass die Spitzensteuersätze selbst zu Thatchers Regierungszeit bei über 60 Prozent lagen, und dass wohlhabendere Länder – wie Dänemark und Schweden – Spitzensteuersätze über 50 Prozent haben. Selbst mit den von Labour vorgeschlagenen Steuererhöhungen hätte Britannien noch den niedrigsten Satz innerhalb der Industriestaaten der G7. Und es gibt schlagende Argumente, für noch höhere Sätze zu plädieren: sie sind notwendig, um weitere Investition in soziale Dienstleistungen zu tätigen, um die Wirtschaft zu transformieren und um groteske Ungleichheiten abzubauen. Damit sind nicht nur Einkommen gemeint. Der neugewählte Führer der schottischen Labour-Partei, Richard Leonard, schlug eine Vermögenssteuer in Höhe von einem Prozent für die reichsten zehn Prozent vor: eine Politik, die unbedingt auf ganz Großbritannien ausgedehnt werden sollte.

Dann ist da noch das Thema Arbeitszeit. Die Arbeiterbewegung und die Linke haben in der Geschichte immer für eine kürzere Wochenarbeitszeit gekämpft. Dieses Thema muss wiederbelebt werden. Der technologische Fortschritt sollte genutzt werden, um einen höheren Lebensstandard zu erreichen und dabei die Arbeitszeit zu senken. Wie es im Manifest von 1968 heißt: „In einer Klassengesellschaft wird die große Zahl der Menschen nur als Arbeitskräfte auf einem Arbeitsmarkt angesehen und das Gemeinwohl bleibt randständig.“ Einen so großen Teil unseres Lebens aufzugeben, um für andere zu arbeiten, beraubt uns unserer Freiheit, schadet unserem seelischen und körperlichen Wohlbefinden, stiehlt uns wertvolle Zeit mit unseren Familien und uns lieben Menschen – und es hindert uns daran, unseren kulturellen Horizont zu erweitern. Untersuchungen weisen darauf hin, dass weniger Arbeitszeit die Produktivität erhöhen könnte, unsere CO-2-Bilanz verbessern, Arbeit zu denjenigen umverteilen könnte, die sie suchen und uns alle glücklicher machen könnte.

Auch in der Ausweitung des öffentlichen Eigentums müssen wir noch weiter gehen. Das Top-down-Modell der Verstaatlichungen der Nachkriegszeit wurde vom rechten Parteiflügel entwickelt, nicht zuletzt von Herbert Morrison, der im Übrigen der Großvater von Peter Mandelson ist. Die Labour-Linke – von Tony Benn bis zu Jeremy Corbyn – bekennt sich seit langem zu einem anderen Modell: demokratisches Gemeineigentum unter Beteiligung von Arbeiter*innen, Nutzer*innen und Konsument*innen. Das Manifest von 1968 spricht davon, „den Begriff öffentliches Eigentum neu zu bestimmen.“ Der heutige Labour-Vorschlag zum öffentlichen Eigentum des Energiesektors schließt beispielsweise nicht den Aufbau eines zentral kontrollierten und geleiteten Unternehmens ein, sondern sieht eher lokales Eigentum auf Gemeindeebene vor.

Tatsächlich stellt sich die Frage: wenn das Modell des kollektiven Eigentums für Güter wie Energie, Bahnwesen und Wasser funktionieren könnte, warum dann nicht auch anderswo? In der Tat hat Labour das ‚Recht, zu besitzen‘ (‚right to own‘) in die Debatte gebracht: also das Recht für Beschäftigte, ihre Firmen aufzukaufen. Die gesellschaftliche Linke sollte hier in eine breite Offensive gehen und für eine umfassende Sozialisierung und Demokratisierung der britischen Wirtschaft argumentieren.

Ein Vorgänger ist Schwedens sogenannter Meidner-Plan der 1970er Jahre, der Unternehmen die Abgabe von Anteilen an Beschäftigtenfonds auferlegen wollte, die von Gewerkschaften gehalten würden.[6] Diese Fonds würden sich dann Stück für Stück einen Mehrheitsanteil aneignen.[7] Auch andere Beispiele sind bemerkenswert: Singapur wird oft absurderweise als libertäres Paradies beschrieben, obwohl so gut wie alles Land und beinahe das gesamte Wohnungswesen in staatlichem Eigentum sind. Seine in Holdings zusammengefassten und durch den Staatsfonds gemanagten staatliche Unternehmen spielen die zentrale Rolle in der Wirtschaft. Singapur ist ein Beispiel für staatlich geführte Entwicklungspolitik. Solche Holdings werden auf eine „Armlänge“ Distanz zum Staat gehalten und sind hocheffizient. Natürlich ist Singapur insgesamt ein undemokratisches Modell, aber das Beispiel zeigt die Vorteile des öffentlichen Eigentums.

In einem sozialistischen Britannien würde solches öffentliche Eigentum mit demokratischen Prinzipien verbunden. Hier wäre noch eine weitere Debatte zu führen: Können neue Technologien für die demokratische Planung der Ökonomie eingesetzt werden und dabei helfen, die tragischen Fehler der totalitären sowjetischen Kommandoökonomie zu vermeiden?

Das Manifest der Neuen Linken von 1968 fing den Geist der Zeit ein. Es erkannte die wachsende Sehnsucht nach einer neuen Gesellschaftsordnung, die die Grenzen des Keynesianismus aufbrechen würde, das Scheitern des Stalinismus anerkennen und sich gegen die brutalen Amokläufe des westlichen Imperialismus stellen würde. Heute muss sich einen neue Linke neuen Herausforderungen stellen:  dem zerbröckelnden Neoliberalismus, dem selbstzerstörerischen Desaster der Austerität und dem Elend des sogenannten Kriegs gegen den Terror.

Eine radikal transformative sozialistische Agenda ist nicht nur wünschenswert: sie ist der einzige politisch machbare Ansatz von links. Die gemäßigte Linke (center-left) in Europa akzeptierte zuerst die Grundsätze des Neoliberalismus oder ergab sich ihnen, dann kapitulierte sie vor der Austeritätspolitik oder setzte diese sogar um. Die wahlpolitischen Konsequenzen waren eine Katastrophe.

In den 00er Jahren konnte die spanische Sozialistische Arbeiterpartei fest damit rechnen, mindestens 40 Prozent der Wahlstimmen zu bekommen. Dieser Wert ist mit der Herausforderung der aufrührerischen linksradikalen Podemos auf um die 20 Prozent eingebrochen. Die griechische PASOK stürzte von über 40 Prozent Stimmenanteil im Jahr 2009 in nur wenigen Jahren auf rund vier Prozent. Die deutsche Sozialdemokratie konnte 2017 mit Martin Schulz, der von der Labour-Rechten einst als Vorbild bejubelt worden war, nur 20 Prozent der Stimmen gewinnen, der niedrigste Wert seit der Nachkriegszeit. Die französische Sozialistische Partei erreichte bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2017 lächerliche 6 Prozent und verblieb gänzlich im Schatten der radikalen Kandidatur von Jean-Luc Mélenchon. Die niederländische Partei der Arbeit vereinte im Jahr 2012 ein Viertel der Stimmen auf sich; fünf Jahre später waren es noch knappe sechs Prozent. Diese Aufzählung ließe sich weiter fortsetzen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die 40 Prozent der  britischen Labour-Partei nahezu übernatürlich. Die zweite Ausnahme bildet Portugal, wo eine von der radikalen Linken unterstützte sozialistische Regierung einige Austeritätsmaßnahmen zurückgewiesen hat.

Ohne ein radikales, transformatives linkes Projekt steht die nativistische, populistische, gegen Immigration gerichtete Rechte – angeführt von Donald Trump – bereit, das Vakuum zu füllen. Um es mit einem geflügelten Wort zu sagen: there is no alternative, es gibt keine Alternative. Nur ein neuer Sozialismus kann Antworten auf die von der zerfallenden Gesellschaftsordnung hervorgerufenen Ungerechtigkeiten und Missstände geben. Wie eine YouGov-Umfrage im Juni 2017 herausfand, glaubten 43 Prozent der Brit*innen daran, dass die Lebensbedingungen mit einer sozialistischen Regierung in Großbritannien deutlich besser würden; nur 36 Prozent votierten für „schlechter“.[8] Ob es um Gemeineigentum oder progressive Besteuerung geht: die Einstellungen in Großbritannien verschieben sich schon seit langem zugunsten einer linken Agenda.
Natürlich ist eine sozialistische Regierung nicht unvermeidlich. Die wahlpolitische Kraft der britischen Tories ist eine der respekteinflößendsten auf diesem Planeten. Zwar sind sie im Moment von Panik und Chaos ergriffen, doch die tiefgreifende Polarisierung der Wählerschaft zeigt an, dass die nächste Wahl noch lange nicht von Labour gewonnen ist. Die machtvollen und organisieren Interessen, die den zerfallenden Zustand verteidigen und eine Menge Geld dafür aufwenden, die Tories zu stützen, werden dem Schiff nicht kampflos beim Sinken zuschauen.

Dennoch ist die Lektion der letzten Jahre klar: Erfolg kann nur eine selbstbewusste und durchsetzungsfähige radikale Linke haben, die sich darauf vorbereitet, in die Offensive zu gehen. Das ist der Geist, der das Manifest der Neuen Linken von 1968 durchweht. Dessen Einsichten mögen zu einer anderen Ära gehören, doch gerate heute haben wir viel aus ihnen zu lernen.

Dieser Text ist entnommen aus dem Buch „The May Day Manifesto 1968“, das von Raymond Williams herausgegeben wird und in Kürze bei Verso erscheint. Aus dem Englischen von Corinna Trogisch

[1] France Enragée: The Spreading Revolt, Times, 24. Mai 1968

[2] Andrew Glyn: Capitalism Unleashed: Finance, Globalization, and Welfare. Oxford University Press, 2006: 4-5

[3] May Bulman: Fifth of UK population now in poverty amid worst decline for children and pensioners in decades, major report reveals, Independent, 4. Dezember 2017

[4] Patrick Butler: Rough sleepe numbers in England rise for seventh year running, Guardian, 25. Januar 2018

[5] Jonathan Ford: Water privatization looks little more than an organized rip-off, Financial Times, 10. Dezember 2017

[6] Robin Blackburn: Banking on Death: Or, Investing in Life: The history and future of Pensions. Verso Books, 2002, 14-15.

[7] Peter Gowan and Mio Tastas Viktorsson: Revisiting the Meidner Plan‘, Jacobin, 22. August 2017

[8] Milan Dinic: ‚What if we had a socialist government: Owning a signed copy of Mein Kampf; Fame and Personality; YouGov.co.uk, 16. Juni 2017

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