Die Partei will z.B. weder Rüstungsbetriebe noch Schlüsselunternehmen der Produktion verstaatlichen, weil sie sich dann zu Verteidigungspolitik und Innovationskonkurrenz in ein Verhältnis setzen müsste. Das Feld einer linken oder gar sozialistischen Politik kann sie so nicht besetzen.
Das Problem einer »Reflexlinken« ist: Sie ist in ständiger Gefahr, in Konflikten im falschen Lager zu stehen und Menschen zu verraten, mit denen sie eigentlich solidarisch sein müsste. Frieden um jeden Preis und ohne Militär heißt dann auch, die Ukraine preiszugeben. Rüstungsexporte prinzipiell auszuschließen, heißt am Beispiel von Israel dann auch: Das Risiko eingehen, dass der Staat Israel in einem Konflikt mit denjenigen Staaten und Milizen der Region, die sein Existenzrecht nicht anerkennen, möglicherweise untergeht. Keine aktive Wirtschafts- und Strukturpolitik einzufordern, heißt, sich nicht um die zukünftigen Arbeitsplätze der Beschäftigten zu kümmern und auf der Seite strukturkonservativer Interessen zu stehen. Mit solchen Positionen ist die Partei links der Mitte nicht konkurrenzfähig.
2. Die Linke muss im sozialen Verteilungskampf mehr Biss gewinnen
In der Gründungsphase hatte die Linkspartei stark überproportionalen Zuspruch bei Wähler*innen-Gruppen mit niedrigeren Einkommen und prekärer Position auf dem Arbeitsmarkt. Dieser Zuspruch hat seit 2011/2012 kontinuierlich abgenommen. Das belegen die qualitativen Nachwahlbefragungen (Abschneiden bei »Arbeitern« und »Erwerbslosen«) ebenso wie die Langzeitstudien der GLES. In ihrer Gründungsphase hatte die Partei mit den Forderungen nach Mindestlohn und Reform des Hartz-IV-Systems ein starkes Thema, das breite gesellschaftliche Resonanz hatte, umsetzbar war, auch von allen Praktiker*innen in der Partei geteilt wurde und auf eine unmittelbare Verbesserung der Lebenssituation vieler Menschen zielte. Dazu hat die Partei heute keine vergleichbare sozial- und arbeitsmarktpolitische Kernbotschaft.
Mögliche Kandidaten wären: Das Klimageld; die einheitliche und vollversichernde Kranken- und Pflegeversicherung; staatlich geregelte Energiepreise mit Sozialtarif; Infrastrukturgarantien (Kita, Bäcker, Bus und Bank) für Kommunen und Stadtteile; ein Entgeltgleichheitsgesetz, das die ungleiche Bewertung von »Hand, Herz, Hirn« ebenso abbaut wie die von Abschlusspapier und Berufserfahrung; das Prinzip »Für Kinder darf man nicht draufzahlen«; oder die Reform der Schuldenbremse. Dazu sind Arbeitsprozesse nötig, die auswählen, was ernsthaft umkämpft werden kann, weil es »in der Luft liegt«, und eine wirklich durchsetzungsorientierte Politik dazu. Weder der Kampf ums letzte Krankenhaus noch die einigermaßen periphere Auseinandersetzung ums Grundeinkommen können eine zeitgemäße, offensive Kernbotschaft, was Die Linke wirklich und unmittelbar zugunsten der sozial Benachteiligten ändern würde und will, ersetzen.
3. Die Linke muss die inhaltliche Auseinandersetzung mit Rechts aufnehmen
Weder wahltaktisch noch politisch darf sich die Partei darauf beschränken, einen Verteilungskampf in einem immer schmaler werdenden Feld links der Mitte zu führen. Wenn rechte Positionen kontinuierlich mehr Grund in der gesellschaftlichen Debatte gewinnen, muss Die Linke die Auseinandersetzung damit aufnehmen. Dabei hilft es nichts, vor dem Rechtsruck zu warnen und diese Positionen zu skandalisieren. Man muss sich von links in die gesellschaftliche Diskussion werfen.
Zentral ist dabei das Thema Migration. Die Auseinandersetzung mit Rechts kann dabei nicht nur menschenrechtlich geführt werden. Sie erfordert eine linke Position auf der Linie: Eine Industriegesellschaft braucht Zuwanderung, auch solche aus sozialen und wirtschaftlichen Motiven. »Dichtmachen« wäre wirtschaftliche und gesellschaftliche Selbstabwicklung. Zuwanderung macht Probleme, braucht starke Integrationssysteme und wird die Gesellschaft langfristig verändern. Aber Zuwanderung ist eine zentrale Chance, demografische Probleme auf beiden Seiten zu lösen. Dazu ist allerdings notwendig, den Unterschied zwischen Asyl, Schutz und sozio-ökonomischer Zuwanderung ebenso zuzulassen wie die Erkenntnis, dass überforderte Kommunen, Konkurrenzen auf dem Wohnungsmarkt und Integrationskonflikte tatsächlich existieren.
Weitgehender Konsens in der Auswertung der Europawahl ist: Es funktioniert nicht, über alles nicht reden zu wollen, worüber sich die Gesellschaft gerade mit Leidenschaft streitet. Wenn die wahlentscheidenden Themen Friedenssicherung, soziale Sicherheit, Zuwanderung, Klimapolitik und Wirtschaftswachstum lauten, kann die Partei dem nicht ausweichen. Sich Wegducken ist keine Strategie im Kampf gegen Rechts.
4. Die Linke muss die »Linksliberalismus«-Debatte führen
Sahra Wagenknecht hat die Debatte um den „Linksliberalismus« nicht erfunden; die US-Linke führt sie seit der Wahlniederlage von 2016. Sie ist auch notwendig: Der Anspruch auf fortschrittliche Gesellschaftsveränderung und der Anspruch auf soziale Gleichheit, auf Umverteilung von oben nach unten, sind nicht identisch. Beides zusammen konstituiert Die Linke als gesellschaftliche und politische Kraft, steht aber in Spannungen und Widersprüchen zueinander. Für linke Reformpolitik ist es von großer Bedeutung, ob beide Tendenzen und Zielgruppen sich berühren, überschneiden, zusammengehen – oder ob sie auseinanderstreben, auseinanderfallen, auseinandergetrieben werden.
Zu betonen, dass beides zusammengehört und zusammengehen kann, reicht nicht. Was die Linkspartei in der aktuellen gesellschaftlichen Umbruchsphase versäumt hat, ist, Berechenbarkeit entlang von klaren Leitlinien zu entwickeln. Etwa: Gleichstellung von Lebensformen betrifft alle; Sprachpolitik hat eine schmale Grenze zur Besserwisserei; die untere Einkommenshälfte muss von den Kosten der Transformation freigestellt werden; Klimatransformation bemisst sich an der Wirksamkeit und nicht an der reinen Lehre oder symbolischen Fragen. Nur so kann der Zustand überwunden werden, dass zwischen dem Klagen über den »Lützerath-Sündenfall« und dem Klagen über das »Heizungsdiktat« niemand abschätzen kann, wie sich die Linkspartei wirklich verhalten würde, wenn sie real etwas zu sagen hätte.
Wenn die gesellschaftliche Debatte sich auf »progressiver Liberalismus versus autoritärer Populismus« reduziert, wenn Politik als Kulturkampf zwischen Milieus inszeniert wird, verliert das linke Lager. Der entscheidende Punkt in der „Linksliberalismus“-Debatte ist: Diejenigen mit weniger Einkommen und unsicherer Arbeitsmarktposition sind nicht per se gegen Modernisierung und Transformation – sie haben aber eine berechtigte Skepsis. Sie verfügen nicht über die privaten oder machtmäßigen Ressourcen, äußere Umbrüche selbst abzufedern oder durch Lobbyarbeit sicherzustellen, dass ihre spezifischen Probleme und Anliegen dabei berücksichtigt werden.
Das ist der Ort, an dem Die Linke ein politisches Angebot machen muss, das sich vom rückwärtsgewandten Angebot des BSW ebenso abgrenzt wie von einem grünbewegten „Klima first, sozialer Ausgleich später“. Keine Maschinenstürmerei, sondern Kampf um die Nutzung der technologischen Veränderungen für die Beschäftigten und die Bevölkerung, und um ihren Einfluss auf die Gestaltung dieser Veränderungen. Kein Vertrauen darauf, dass die Veränderungen schon »auf lange Sicht zum Nutzen aller« wirken und »vielen gute individuelle Möglichkeiten« bieten würden, sondern Beharren darauf, dass dies hier und jetzt kollektiv verhandelt werden muss. Einfordern von Institutionen und Arrangements, in denen diese Verhandlung verbindlich geführt werden kann. Setzen auf öffentliche Akteure, bei denen die Privilegien des Kapitaleigentums durch politisch-demokratische Einwirkung ausbalanciert und perspektivisch überwunden werden können. All das, anders gesagt, was die fortschrittlichen Kräfte der Arbeiterbewegung immer getan haben, wenn schnelle Veränderungen von Produktions- und Lebensweise neue Möglichkeiten eröffnen, aber auf Kosten und Knochen von Beschäftigten und breiter Bevölkerung gehen, wenn sie nicht in die Bahnen von Interessenvertretung und gesellschaftlicher Rationalität gelenkt werden.
5. Die Linke braucht eine machtpolitische Perspektive
Alle Inhalte, Forderungen und Alternativen sind nichts wert, wenn man keinen Weg angeben kann, auf dem man sie durchsetzen will. Eigentlich war die Durchsetzungsperspektive der Linkspartei bei ihrer Gründung mit der Figur des »strategischen Dreiecks« geklärt: Die Verbindung von Bewegungspolitik, grundsätzlichen Systemalternativen und Teilhabe an demokratischer Machtausübung, sprich parlamentarische Opposition und Regierungsbeteiligungen. Das ist kein spannungsfreies Verhältnis, weshalb es im Grundsatzprogramm auch als Herausforderung bezeichnet wird, aber nur auf allen drei Beinen kann eine linke Partei stehen.
Während das Dreieck in Kommunal- und Landesverbänden gelebt wird – was dazu beiträgt, dass die Linkspartei dort immer noch eine feste Größe in der politischen Landschaft ist – wird es von Der Linken als Bundespartei nicht verkörpert. Obwohl der weit überwiegende Teil der eigenen Wähler*innen und des eigenen Potenzials selbstverständlich davon ausgeht, dass die Beteiligung der Linkspartei an einer Bundesregierung ein logisches Element einer Durchsetzungsstrategie sein müsste, befindet sich die Partei permanent auf der Flucht davor. Die Wählerwanderungen zeigen, dass das ein Fehler ist.
Den allermeisten Menschen ist es nicht egal, wer regiert, schon gar nicht in Krisenzeiten. Wenn die Linkspartei 2025 erneut deutlich macht, dass sie für Alternativen zur Ampel oder zur GroKo prinzipiell nicht zur Verfügung steht, wird sie nicht gewählt werden. Das zu vermeiden erfordert mehr als Lippenbekenntnisse kurz vor der Wahl: ernsthaftes Interesse an anderen Mehrheiten, realistische Einschätzungen der anderen Parteien, Vorbereiten von Möglichkeiten.
6. Die Linke muss Partei der Demokratie sein
Die Demokratie ist durch das Erstarken rechtsextremer Kräfte ernsthaft bedroht. Die Massenproteste gegen Rechts haben auf das rechtsextreme Strategietreffen in Potsdam reagiert, das deutlich machte: Teile der AfD sind bereit, Grundrechte einzuschränken oder aufzuheben, und eine eigene Machtübernahme durch Gewalt und Verfassungsbruch unumkehrbar zu machen. Das hat eine andere Qualität als das bloße Propagieren von fremdenfeindlichen und anti-pluralen Parolen. Die Unterscheidung zwischen falschen und entsolidarisierenden Forderungen der Rechten und der realen Gefahr, dass ihre Machtbeteiligung in einen autoritären Umbau mündet, ist entscheidend. Auf dieser Grundlage muss von allen demokratischen Kräften gefordert werden, diese Machtbeteiligung zu verhindern und notfalls auch zu schwierigen Bündnissen untereinander bereit zu sein.
Gleichzeitig stimmt es, dass die aktuelle Demokratie nicht gut funktioniert. Das demokratische Versprechen, dass grundlegende Entscheidungen »vom Volk ausgehen« und dabei soziale Gleichheit herrschen soll, ist derzeit unzureichend erfüllt. Dazu trägt die Internationalisierung von Ökonomie und Politik ebenso bei wie die sozial und regional sehr ungleichen Möglichkeiten der Einflussnahme, etwa durch die geringere zivilgesellschaftliche Dichte im ländlichen Raum und im Osten, oder die ungleiche Lobbystärke sozialer Gruppen. Zunehmend müssen Fragen entschieden werden, die jenseits von Parteiprogrammatiken liegen oder wo am Ende nur Abwägungsentscheidungen bleiben – von Fragen der Verkehrsführung bis zur Impfpflicht, von Baumaßnahmen bis zur Organspende. Und bestimmte Entscheidungen, wie die zwischen Verschuldung oder Abbau öffentlicher Aufgaben, sind selbst dem normalen parlamentarischen Mehrheitsentscheid entzogen, weil sie in Verfassungsrang erhoben wurden, wo sie nicht hingehören.
Die Konsequenz ist: Mehr Demokratie wagen. Mehr Entscheidungen vor Ort durch Volksabstimmung fällen. Mehr Einfluss verteilen, durch regionale Wirtschaftsräte und durch eine Reform des Betriebsverfassungsrechts. Repräsentativ, aber zufällig ausgewählten Bürgerräten Konsultations-, Initiativ- und Vetorechte einräumen. Alle Parteien arbeiten mit Fokusgruppen und versuchen die Ergebnisse für sich zu nutzen – warum sie also nicht den Parteien wegnehmen und zu einem neuen Element direkter Demokratie machen? Parteien sollen sich auf ihren Auftrag zur politischen Willensbildung konzentrieren, aber nicht alle Entscheidungsprozesse und Einflusswege monopolisieren. Umgekehrt dürfen legitime politische Entscheidungen nicht den Parlamenten entzogen und den Gerichten überantwortet werden. Und auch wenn Brüssel und New York weit weg sind: Wer bestimmte Entscheidungen und Entwicklungen überhaupt noch demokratisch beeinflussen will, kommt um eine Vertiefung der EU und mehr Kompetenzen für die UN nicht herum.
Die Verteidigung der Demokratie erfordert, beides voneinander zu entwirren: Die Notwendigkeit für eine neue Demokratisierung und den Angriff auf demokratische Grundprinzipien. Demokratischer Sozialismus ist hier gefordert, sich einzumischen und einen Beitrag zu leisten – und das Feld nicht anderen zu überlassen.
Das Glas ist noch nicht halbvoll
Eigentlich ist der Weg sichtbar und die nötigen Veränderungen machbar: Eine Friedenspolitik, die sich übers Ziel definiert und nicht über Tabu-Listen (Waffenlieferungen, UN-Einsätze, NATO). Eine Wirtschaftspolitik, die den aktiven Staat fordert nicht nur in der Daseinsvorsorge, sondern auch in der Steuerung von Investitionen und Transformation. Eine Schwerpunktsetzung, die Die Linke als Partei des Energiepreisdeckels, der Infrastrukturgarantien, eines gerechten Lohnsystems, der Bürgerversicherung und einer Überwindung der Schuldenbremse in Szene setzt. Ein offensives Angreifen rechter Positionen zu Migration und Klimatransformation als Aufforderung, sich selbst ins Knie zu schießen. Ein Benennen der Unterschiede zu SPD und Grünen, die jeder sieht: Die SPD gibt Druck von rechts zu schnell nach, die Grünen sind im Zweifelsfall zu Klimapolitik ohne sozialen Ausgleich bereit – statt dem Abfeiern von Alleinstellungsmerkmalen, für die sich offensichtlich niemand interessiert. Das Signal, dass die Probleme der dysfunktionalen Ampel nur durch ein Mitte-Links-Bündnis überwunden werden könnten. Eine Gleichzeitigkeit von »Demokratie verteidigen« und »mehr Demokratie wagen«, auch mit dem Mut, Parteien-Monopole zu kritisieren. Anders gesagt: Ein demokratischer Sozialismus, der in der Realität lebt und nicht rechthaben will, sondern sie verändern.
Allerdings ist die Lage der Partei noch erheblich davon entfernt, dass das Glas halb voll wäre. Der Entwurf des Leitantrags für den Bundesparteitag geht immer wieder in die richtige Richtung und bleibt dann doch stehen oder biegt falsch ab. Vorsichtige Andeutungen einer Neubestimmung und das Gespenst des Weiter-So stehen darin nebeneinander. Der Bewerbungsprozess zum Parteivorsitz scheint eher nicht davon geprägt sein, die Partei zur Überwindung ihrer selbstgewählten Blockaden zu drängen. Eine Verständigung zwischen den derzeit debattenstarken Strömungen – der Bewegungslinken, der progressiven Linken und der »Rückbesinnungslinken« – auf ein inhaltliches und personelles Reformpaket, das die unterschiedlichen Anliegen zusammenführt, ist bislang nicht in Sicht. Auf die Frage, »was wird jetzt anders?«, gibt es noch keine Antwort.
Linke Politik arbeitet auf der Grundlage: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. In der zurückliegenden Zeit hat die Linkspartei auf der Grundlage gearbeitet, dass die Wahrheit ihr selbst nicht zumutbar sei, nicht einmal ihren Führungsgremien. Damit muss Schluss sein. Wer sich nicht weiterentwickelt, stirbt. So viel Wahrheit muss jetzt sein.