"Wir sind gerade dabei, von einem unverhofften Erbe zu leben,
das wir in Form fossiler Brennmaterialien unter der Erde gefunden haben.
Dieses Material wird sich aufbrauchen. Dauerndes Wirtschaften
ist allein über die laufende Energiezufuhr der Sonne möglich."
Wilhelm Ostwald, Der energetische Imperativ, Leipzig 1912
Ohne Energie geht nichts. Ohne Energie gäbe es kein Leben. Energie ist aber nicht gleich Energie. Welche Quelle genutzt, welche Energie eingesetzt wird, das hat wirtschaftliche, politische und kulturelle Konsequenzen – lokal und global. Alle könnten das wissen; doch es wird verschleiert, nicht zuletzt von sogenannten Energie-Experten. Die entpolitisierten, auf CO2-Emissionen reduzierten Klima debatten verdecken mehr als sie zeigen. Stellen wir uns vor, es gäbe die Klima gase aus fossilen Energien und ihre Wirkungen auf die Ökosphäre nicht. Wäre das Energiesystem dann intakt? Keineswegs. Die fundamentalen Energieprobleme blieben. Deshalb spreche ich über Energiesysteme und von einem Energie systemkonflikt statt von Klimakatastrophen. Zwischen den konventionellen – fossilen und atomaren – Energien einerseits und den erneuerbaren andererseits liegen Welten. Schon ihr erster Unterschied ist fundamental: Den negativen ökologischen Auswirkungen ersterer steht die Chance einer emissions freien bzw. zumindest klimaneutralen Versorgung mit letzteren gegenüber. Ein zweiter Unterschied ist nicht weniger bedeutsam: Der Erschöpfbarkeit herkömmlicher steht die Unerschöpflichkeit erneuerbarer Energien gegenüber – unerschöpflich jedenfalls nach menschlichem Ermessen, also solange die Sonne existiert, was nach heutigen Erkenntnissen noch etwa fünf bis sieben Milliarden Jahre der Fall sein wird.
Der Umgang mit den verbliebenen Resten herkömmlicher Brennstoffe ist indes alles andere als beruhigend. Wann immer Geologen ein Erdöl-, Erdgas- oder Kohlevorkommen entdecken, scheint automatisch festzustehen, man müsse diese fördern. Als gäbe es einen Verbrennungszwang. Das hat pathologische Züge, die allerdings als realpolitische und wirtschaftliche Erwägungen durchgehen. Die globale Pyromanie gefährdet die menschliche Zivilisation. Erdöl und Erdgas reichen noch 35 Jahre – vielleicht auch nur 25, wenn der Verbrauch weiter zunimmt. Kohle reicht schätzungsweise ein paar Jahrzehnte länger, Uran wird schon in naher Zukunft aufgebraucht sein. Die Zeit wird kommen, in der Menschen nur noch erneuerbare Energien nutzen können. Lange dachte man, so weit sei es erst in ein paar hundert Jahren. Verstärkt wurde diese Illusion in den 1950er Jahren durch die Nutzung der Atomenergie. Eine ganze Generation, im Osten wie im Westen, verlor sich in der Fixierung auf ein technologisches Höher, Schneller, Weiter und: Komplexer, Zentralisierter, Abhängiger. Wenn sich in Ost und West etwas nicht unterschied, dann die Entwicklung der Energiewirtschaft. Nicht zufällig ist sie das Einzige, was in Russland von der Sowjetunion unver ändert übernommen wurde.
Es bleibt uns noch ein Zeitfenster von zwei bis drei Jahrzehnten, um den Wechsel zu erneuerbaren Energien herbeizuführen. Dass die immer größer werdenden Disparitäten der Lebensverhältnisse auf diesem Erdball entscheidend mit dem herkömmlichen Energiesystem zusammenhängen, ist vielen Experten nicht bewusst. Sie sind Teil des Problems.
Fossile Abhängigkeiten
Damit sind wir beim dritten Unterschied angelangt. Er ist struktureller Art: Das Energiesystem wird von den Energiequellen vorgegeben. Energie wird immer dezentral verbraucht, eben dort, wo Menschen arbeiten und leben. Die Gewinnung herkömmlicher Energien erfolgt aber zentral, weil sich die Ressourcen nur an relativ wenigen Plätzen der Welt befinden. Erneuerbare Energien dagegen werden von Natur aus allerorten angeboten. Die Räume des Verbrauchs können mit den Räumen der Energiegewinnung direkt gekoppelt werden – das ist bei den herkömmlichen nicht möglich. Die Globalisierung führt daher strukturell zu zunehmender Abhängigkeit der über den ganzen Erdball verstreuten Energie-Konsumländer von immer wenigeren Produzenten. Im Zuge der bald zweihundert Jahre andauernden Nutzung fossiler Brennstoffe sind mehr und mehr Quellen erschöpft und die Förderung konzentriert sich auf immer weniger Standorte. 60 Prozent des globalen Ölaufkommens stammen aus vierzig so genannten giant fields. Im Golf von Mexico ist beispielsweise eines davon. Diese 40 Großfelder sind auf weniger als 15 Länder verteilt. Bei Erdgas ist es nicht anders. Kohleexportländer gibt es noch vier, Uranexportländer sechs oder sieben. Von den Quellen spannt sich das Energienetz über den Erdball bis in die letzten Dörfer – soweit eben die Kaufkraft reicht. Wo keine Kaufkraft vorhanden ist, nehmen sich die Leute die vorhandene Naturenergie. Im Kampf um die nackte Existenz reißen sie Sträucher aus oder roden Wälder, ohne sie zu erneuern. Wer über die Armut in der sogenannten dritten Welt spricht, ohne den Zusammenhang zum Energiesystem herzustellen, weiß nicht, wovon er redet.
Die Entkopplung der Räume des Verbrauchs von den Räumen der Energiegewinnung prägte die Struktur der Weltwirtschaft: Sie machte den Energiesektor zu ihrem größten, umsatzstärksten und politisch einflussreichsten Teil. Von ihm hängen de facto alle anderen ab. Zwar ist es Industrieländern nach dem Ende der Kolonialzeit nicht mehr ohne Weiteres möglich, fremde Ressourcen kostenlos aus der Erde zu holen und sich anzueignen. Doch von den ehemaligen Kolonien gelang es bisher nur den OPEC-Ländern, sich einen größeren Gewinnanteil an den auf ihren Territorien geförderten Rohstoffen zu sichern. Damit gibt es in der Schlussphase des herkömmlichen Energiesystems zwei Gewinner: die trans nationalen Liefergesellschaften und die Förderstaaten. Die Mineralölkonzerne fahren in dieser Niedergangsphase der Ölwirtschaft historische Rekordgewinne ein. EXXON verbuchte im Jahr 2009 einen Gewinn von 45 Milliarden US-Dollar, BP und Shell von je 25 Milliarden. Die Gewinne der Förderstaaten sind ebenfalls enorm. Nach jahrelanger kolonialer Ausbeutung wird dies in den Ländern selbst als historische Gerechtigkeit betrachtet. Man buhlt um sie, man arrangiert sich mit ihnen, oder man führt Krieg. Es hätte weder den Golfkrieg noch den Irakkrieg gegeben, wenn auf der arabischen Halbinsel nur Bananen angebaut würden. Auch China ist in diesem System der Energiekriege inzwischen angekommen, wie der Konflikt in Darfur zeigt. Wie die USA in Saudi Arabien will China sich hier sein eigenes Öl-Reservat sichern. Das wahre Gesicht der zivilisierten Welt zeigt sich in der Ressourcenausbeutung. Es ist ein absolut zynisches System. Der Kampf um Demokratie und Menschenrechte ist nur Maskerade.
Förderlizenzen, Förder- und Aufbereitungstechnik und die Transportinfrastruktur, die für die Nutzung konventioneller Energien notwendig sind, prägen das Weltenergiesystem. Rohstoffe werden mit Milliardenaufwand über Tausende von Kilometern bewegt – in Riesentankern, über Schienen und durch Pipelines. In China beträgt die Kohlefracht 40 Prozent des gesamten Transportaufkommens auf Schienen. Die Energiequelle bestimmt die Umwandlungstechnologien und sogar die Unternehmensformen. Die multinationalen Energiekonzerne sind heute mächtiger als einzelne Regierungen. Deshalb konnte die Energiewirtschaft mit der deutschen Regierung 2010 über Gesetze verhandeln, als sei sie ihr gleichgestellt.
Mit Sonne und Wind zur Energieautonomie
Das gegenwärtige globale Energiesystem ist auf die herkömmlichen Energien zugeschnitten. Wer meint, es aufrecht erhalten und nur die Energiequellen auswechseln zu können, irrt. Es gibt kein quellenneutrales Energiebereitstellungs system. Die Wahl der Energiequelle bestimmt das Energiesystem. Sie bestimmt, was weiter zu geschehen hat, um die Energie verfügbar zu machen. Für erneuer bare Energien etwa brauchen wir keine Fördertechnik, sondern nur andere Energieumwandlungstechnologien. Auch kann Energie überall da gewonnen werden, wo sie gebraucht wird. Der Wechsel von herkömmlichen Energien zu erneuerbaren Energien ist – wenn man es richtig macht – ein Wechsel von Import energien zu heimischen Energien. Es ist ein Irrtum zu glauben, man müsste zum Beispiel die Sonnenenergie dort herholen, wo mehr Sonne scheint. Warum Transportaufwand generieren, weil woanders vielleicht ein bisschen billiger produziert werden kann? Warum die Wertschöpfung wieder in die Hand weniger geben, wenn man sie selbst bewerkstelligen kann? Es ist nicht ökonomisch, alles auf Produktionskosten zu reduzieren, ohne den gesamten Aufwand in den Blick zu nehmen. Energieautonomie ist weltweit möglich. Sie ist eine Ausgangsbasis, um die riesigen wirtschaftlichen und sozialen Diskrepanzen in der Weltgesellschaft zu überwinden. Man muss kein Experte sein, um zu ermessen, wie groß die Konfliktdimension beim Wechsel vom einen Energiesystem zum anderen ist. Die herkömmliche Energiewirtschaft wird verschwinden. Erneuerbare Energien bedingen andere Technologien, eine andere industrielle Entwicklung, andere Konsumenten strukturen, andere politische Verhältnisse. Was so einfach klingt, ist von hoher politischer Brisanz. Erneuerbare Energien sind die einzigen, die den Namen »sozial« verdienen. Sie sind die einzigen, wenn man so will, »linken« Energiequellen. Das haben noch nicht alle Linken erkannt. Es geht um einen Wechsel von wenigen Anbietern, von großen Kraftwerken und Raf- finerien zu vielen in unterschiedlicher Größenordnung, die in der Summe die gro- ßen ablösen. Das bedingt auch einen Wechsel in den Eigentums verhältnissen. Neue Unternehmensformen werden entstehen, und wir werden zu dem zurückkommen, womit alles anfing: Einer kommunalen Energiewirtschaft, wie sie zu Beginn der Industrialisierung entstand. Sie ist der einzige überlebensfähige Teil der heutigen Energiewirtschaft. Der Wechsel zu erneuerbaren Energien führt langfristig zu ihrer Revitalisierung. Für die Wirtschaftsstrukturen bedeutet dies: weg von der Kapitalakkumulation in der Hand weniger, hin zu einer breiten Kapitalstreuung.
Welche Ausmaße das hat, soll eine Beispielrechnung zeigen: Die durchschnittlichen Energiekosten in Deutschland betragen gegenwärtig ca. 2 500 Euro pro Kopf und Jahr. Wer seine Kraftstoffrechnung, seine Stromrechnung und seine Heizrechnung addiert, kommt nicht auf diesen Betrag. Doch in allem, was wir sonst noch an Dienstleistungen in Anspruch nehmen oder an Konsumgütern kaufen, stecken Energiekosten. Sie sind hinzuzurechnen. Zurzeit importieren wir 90 Prozent der Energie. Stellen wir uns eine Region mit einer Million Einwohnern vor. Hier werden jedes Jahr ca. 2,5 Milliarden Euro (abzüglich zehn Prozent) für Energie ausgegeben. Nach einem Wechsel zu erneuerbaren Energien würden diese 2,25 Milliarden nicht abfließen, sondern im eigenen regionalen Wirtschaftskreislauf bleiben. Das ist gleichbedeutend mit einem Wirtschaftsförderprogramm, das selbst in üppigsten finanzwirtschaftlichen Zeiten keine Regierung der Welt bezahlen könnte. Außerdem schont es die Umwelt. Denn in dieser Rechnung sind die sozialen Schäden, die Gesundheitsschäden und die Umweltschäden der herkömmlichen Energieversorgung noch nicht enthalten.
Voraussetzung für den Wechsel
Für den Energiesystemwechsel gibt es drei Ansatzpunkte. Am ersten wurden bereits vor zehn Jahren die zentralen Weichen gestellt: das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Durch die garantierte Einspeisevergütung und den prioritären Netzzugang schuf es Investorenautonomie. Dass es durchgesetzt werden konnte, erscheint im Nachhinein fast wie ein Wunder. Es ist das erste Energiegesetz, das gegen den erklärten Willen der Energiewirtschaft erlassen wurde. Zweitens muss den erneuerbaren Energien Vorrang in der Bauleitplanung eingeräumt werden. Der ist nötig für den Wechsel von wenigen Großkraftwerken und Raffinerien zu vielen mittleren und kleineren, die in der Summe die großen ersetzen. Dabei ist jedes einzelne Vorhaben genehmigungsbedürftig, weil es Raum beansprucht. An dieser Stelle wird in manchen Regionen nach Kräften blockiert. In Sachsen- Anhalt werden heute rund 45 Prozent des Strombedarfs durch – in den vergangenen neun Jahren gebaute – Windkraftwerke erzeugt. In Bayern und Baden-Württemberg dagegen sind es jeweils 0,8 Prozent, in Hessen 2,1 Prozent. Sachsen-Anhalt ist nicht reicher als die anderen Länder und es liegt auch an keiner windigen Küste. Die Ursache für diese Differenz liegt in der Politik jener Landesregierungen, die an Atomenergie und Großkraftwerken festhalten. Sie behaupten deren Alternativlosigkeit, während sie die Alternativen erfolgreich verhindern, indem sie Baugenehmigungen verweigern.
Der dritte wesentliche Punkt ist die Stärkung der Marktchancen für erneuerbare Energien. Jeder würde den Kopf schütteln, wenn wir forderten, verkeimtem Schmutzwasser, das Kinder krank macht und zu Seuchen führt, dieselben Marktchancen und Preise zuzugestehen wie sauberem Trinkwasser. Der schmutzigen Kohle-, Erdöl- und Atomenergie mit all ihren Folgewirkungen werden aber dieselben Marktchancen eingeräumt wie erneuerbaren Energien. Diese Marktverzerrung ist nur aufhebbar, wenn herkömmliche Energien in Anbetracht ihrer Folgekosten angemessen besteuert und erneuerbare in Anbetracht ihrer Folgekostenneutralität praktisch steuerfrei gestellt werden. Nicht die puren Energiepreise zu sehen, sondern die ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Nutzungsfolgen der jeweiligen Energiequellen mit in die Rechnung einzubeziehen, ist eine immens wichtige ethische Frage. Es kann heute keine linke Energiepolitik geben, die nicht auf erneuerbare Energien setzt und die Ablösung herkömmlicher so stark wie möglich vorantreibt. Wir befinden uns in einem Wettlauf mit der Zeit. Wechseln wir zu erneuerbaren Energien erst, wenn es keine anderen mehr gibt, wird es zu spät sein.
Vortrag bei der RLS-Konferenz »Power to the People«, Berlin, 30.9.2010; Hermann Scheers letztes Buch: Der energethische Imperativ: 100% jetzt. Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist, München 2010