Der erste Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen vom vergangenen Sonntag zeigte auf den ersten Blick eine verstörende Kontinuität. Erneut konnten sich der wirtschaftsliberale Emmanuel Macron und die ultrarechte Marine Le Pen an die Spitze setzen. Erneut schaffte es die politische Linke nicht, sich für die entscheidende Stichwahl am 23. April zu qualifizieren. Doch von einer simplen Wiederholung der Ereignisse des Jahres 2017 zu sprechen, täuscht. Denn diese Wahlen haben das etablierte Parteiensystem der V. Republik endgültig zerstört.
Konservative und Sozialdemokraten schwach wie nie, Grüne enttäuschen
Allen voran die beiden dominanten Strömungen der letzten Jahrzehnte: Die Sozialdemokratie und die „postgaullistischen“ Republikaner erlebten jeweils das größte Desaster ihrer Geschichte. Während die sozialdemokratische Kandidatin Hidalgo auf unter zwei Prozent abstürzte, verfehlten die Republikaner zum ersten Mal die Fünf-Prozent-Hürde. Das hat zur Folge, dass keine Wahlkampfkostenerstattungen fließen werden, was beide Parteien in ärgste finanzielle Bedrängnisse führen dürfte.
Besonders die Republikaner mussten am Sonntag erkennen, dass die identitär-neoliberale Politik von den rechten Mitbewerber*innen überzeugender vertreten wurde. Emmanuel Macron hatte nicht nur sämtliche wirtschaftspolitischen Kernforderungen der Partei, wie weitere Steuersenkungen für Vermögende oder mehr Repression gegen Erwerbslose, übernommen. Auch fremdenfeindliche und sicherheitspolitische Akzente finden sich bei Macron. Er will im großen Stil Menschen ohne legale Aufenthaltstitel ausweisen und die Polizeiapparate weiter ausbauen. Zudem verabschiedete die seine Administration sieben Sicherheitsgesetze, die alle elementare Grundrechte phasenweise oder dauerhaft einschränken. Auf der anderen Seite nagte Eric Zemmour am Wähler*innenreservoir der Partei. Die Tiraden des Fernsehjournalisten gegen Muslime, Feminist*innen, und Bürgerrechtler*innen und sein Einsatz für reaktionär-katholische Werte nebst ebenfalls ausgeprägtem wirtschaftsliberalen Positionen waren für die großbürgerliche Klientel der Partei attraktiv(Bellouezzanne/de Royer 2022).
Die Sozialdemokratie, die letztes Jahr noch große Siege bei den Regionalwahlen gefeiert hatte, muss sich der neuen bitteren Realität stellen, auf nationaler Ebene nun eine Kleinstpartei ohne große politische Bedeutung geworden zu sein. Insbesondere die Amtszeit des Staatspräsidenten Hollande dürfte das Band zu den linken Fraktionen der traditionellen Wähler*innenschaft zerschnitten haben. Er war 2012 als linke Alternative zum konservativem Amtsvorgänger Sarkozy angetreten und hatte in seiner Regierungszeit nicht nur das Arbeitsrecht dereguliert und reiche Haushalte entlastet, sondern auch den Ausnahmezustand und drastische Antiterrorgesetze beschlossen.. Jene gesellschaftlichen Fraktionen der PS-Wähler*innen, die sich positiv zu Hollandes angebotsorientierter Wirtschaftspolitik bekannten, wählten 2017 direkt Macron, was sie dieses Jahr wiederholten.
Doch auch die Grünen mussten am Sonntag lernen, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Mit gerade einmal 4,8 Prozent verfehlten auch sie diese finanziell existenzielle Hürde. Dabei hatte es bei den Kommunal-und Regionalwahlen der letzten beiden Wahlen noch so ausgesehen, als könnten sich die „alten“ Parteien behaupten und die Grünen mit vielbeachteten Wahlsiegen in Lyon und Bordeaux an die Spitze des „Mitte-Links“-Lagers setzen.
Doch mit den verschärften sozialen Folgen der Pandemie, und zuletzt dem Krieg in der Ukraine schien die Ökologiefrage als wichtiges Alltagsproblem der Französ*innen langsam zu verschwinden. Nun zeigte sich, dass der Rückhalt besonders der Grünen auf wirtschaftlich gut situierte Innenstadtquartiere begrenzt bleibt. Nicht umsonst waren die Wähler*innen der Grünen am vergangen Sonntag die einzigen, die die Problematik der schwindenden „Kaufkraft“ nicht als zentralen Grund für ihre Wahlentscheidung angaben. Während des gesamten Wahlkampfes, der sich zum teuersten der Parteigeschichte entwickeln sollte, überschätzten die Grünen die eigene Mobilisierungsfähigkeit. Die großen Wahlsiege bei den Kommunalwahlen im Juni 2020 beruhten nämlich auf breiten Bündniskonstellationen, denen mit mitunter auch Parteien und Bewegungen aus dem linken Spektrum, wie „La France insoumise“ angehört hatten (Dejean 2022). Versuche aller linken Formationen, sich Mitte des vergangenen Jahres auf eine halbwegs gemeinsame Strategie für die Wahlen des Jahres 2022 zu einigen, waren allerdings gescheitert. Die Grünen wurden sich selbst mit der Sozialdemokratie nicht mehr einig und starteten so allein in den Präsidentschaftswahlkampf, nachdem sich Yannick Jadot im Rahmen eines Referendums knapp gegen Sandrine Rousseau vom linken Flügel der Partei durchgesetzt hatte.
La France insoumise als „linksgrüne“ Alternative
Von den Krisen der übrigen linken Formationen konnte am Sonntag nur die Bewegung „La France insoumise“ (LFI) profitieren, an deren Spitze Jean-Luc Mélenchon seine dritte und letzte Präsidentschaftswahlkampagne führte. Nachdem es in den letzten beiden Jahren so schien, als sei der Zenit des Projekts nach wenig berauschenden Wahlergebnissen im Nachgang der Präsidentschaftswahlen 2017 überschritten, starte LFI im Herbst des vergangenen Jahres eine langsame Aufholjagd in den Umfragen. Dies lag nicht zuletzt an dem langfristig geplanten Wahlkampf. So wurde bereits früh die überarbeitete Version des Wahlprogramms „L`avenir en Commun“ (die gemeinsame Zukunft) als programmatische Grundlage vorgestellt. Zudem suchten Aktivist*innen gezielt die sozialen Brennpunkte auf, um Menschen zur Wahlregistrierung zu bewegen und die Programmatik der Partei vorzustellen. Dieses scheint aufgegangen zu sein. Jean-Luc Mélenchon konnte in vielen besonders benachteiligten Gemeinden bis zu 60 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen auf sich vereinigen. Es gelang hier sogar gegen den Trend die Wahlbeteiligung leicht zu steigern. Gleichzeitig räumte LFI der Ökologie eine zentrale Rolle ein. Die Bewegung hatte eine Plattform kreiert, die für Expert*innen und interessierte Bürger offenstand und dem wahlkämpfenden Mélenchon inhaltlich zuarbeiten sollte. Sämtliche Produktions- und Versorgungskreisläufe sollten nachhaltig werden, die Atomkraft samt ihrer militärischen Komponente überwunden und umweltfreundliche Energieproduktion gefördert werden.
Diese Fokusverschiebung zur Ökologie änderte nichts daran, dass sich LFI weiterhin scharf gegen jede Form des deregulierten Finanzmarktkapitalismus wendete, Vergesellschaftungen von Grundlagenindustrien ganz oben auf die Agenda setzte und die Ersetzung der aktuellen Präsidialrepublik durch eine VI. Republik forderte. Mit dieser Programmatik gelang es Mélenchon besonders, gebildete junge Menschen aus den urbanen Zentren an LFI zu binden. Zudem unterstützten ihn Beschäftige aus dem öffentlichen Dienst mit ihrer Stimme, sowie in starkem Maße migrantisch geprägte proletarische Millieus. Man muss sich allerdings darüber klar sein, dass viele Wähler*innen Mélenchon nicht aus voller Überzeugung wählten. Laut Umfragen sahen ihn viele als aussichtsreichsten linken Kandidaten, der einen erneuten Einzug der ultrarechten Marine Le Pen in die Stichwahl verhindern könnte. Dazu fehlten Mélenchon am Ende knapp 420.000 Stimmen. Diese Lücke hätte geschlossen werden können, hätte die einst mächtige Kommunistische Partei (PCF) nicht eigenständig kandidiert, sondern LFI wie bei der vergangenen Präsidentschaftswahl 2017 unterstützt. So kamen die knapp 800.000 Stimmen des PCF-Parteichefs Fabian Roussel nicht Mélenchon zugute, sondern halfen Marine Le Pen zum Einzug in die Stichwahl. Verantwortlich für den Bruch zwischen LFI und dem PCF sind unterschiedliche strategische Bewertungen des Parteiensystems der V. Republik, aber auch die Sorge vieler Aktivist*innen des PCF, von LFI politisch endgültig überflüssig gemacht zu werden. Mitunter konnte man im Wahlkampf den Eindruck gewinnen, dass Roussel eher damit beschäftigt war, Mélenchon politisch schaden zu wollen, als den Kandidat*innen der Rechten.
Wie weiter?
Von den Krisen des politischen Systems der V. Republik konnte erneut der Amtsinhaber Macron profitieren. Es ist ihm gelungen, jenes Viertel der Gesellschaft um sich zu scharen, das mit seiner Politik zufrieden ist und deren finanzielle Situation gut bis ausgezeichnet ist. Macron würde gerne das gesamte rechte Lager jenseits Le Pens in einer großen Partei vereinigen, um seine Machtbasis konsolidieren zu können. Viele höhere Funktionäre aus der Privatwirschaft finden sich unter seinen Wähler*innen, allerdings auch sehr viele Rentner*innen. So stimmten über 40 Prozent der über 70Jährigen am Sonntag für den Staatspräsidenten. Jene Altersgruppe ist aber von Reformplänen der „Macroniten“ so gut wie nicht betroffen. Weder die kommende Rentenreform, noch drohende Studiengebühren, oder der Ausverkauf des Öffentlichen Dienstes belastet diese Generation unmittelbar.
Marine Le Pen erhielt erneut den Großteil ihrer Stimmen außerhalb des urbanen Raums. Sie wird in den kommenden zwei Wochen versuchen, sich als Vertreterin einer vermeintlich „antimacronitischen“ Front zu inszenieren und auf die sozialen Verwerfungen seiner Amtszeit verweisen. Abgesehen davon, dass sie den Arbeiter*innen verspricht, durch die Diskriminierung von Zuwander*innen Milliarden öffentlicher Gelder einzusparen, vertritt auch sie nur eine Politik der Entlastung privater Unternehmen durch die Senkung von Steuern und Sozialabgaben. Der Versuch, gezielt die Wähler*innen Mélenchons zu umwerben, dürfte also scheitern. Fraglich bleibt, ob sie erneut, wie schon 2017, mit Wut im Bauch für Macron stimmen, oder ob sie dieses Mal zu Hause bleiben, was Le Pens Chancen deutlich erhöhen dürfte.
Vom Ausgang der Stichwahlen dürfte aber auch abhängen, ob es LFI dieses Mal gelingt, für die im Juni anstehenden Parlamentswahlen die Wähler*innen vom Sonntag erneut zu mobilisieren. Im Jahre 2017 und den Folgejahren war diese „Re-Mobilisierung“ der flüchtigen Wähler*innenschaft nicht gelungen. Für den Aufbau einer starken, zukunftsfähigen Linkspartei in Frankreich wäre dies aber die Grundlage. Nur so ließe sich der nominalen Dominanz der rücksichtslosen Klassenherrschaft eines Emmanuel Macron eine andere Alternative entgegenstellen als den rassistischen nationalen Kapitalismus des „Rassemblement national (RN)“ von Le Pen.