»Passive« Jugendliche als Zielscheibe
Entsprechend den Konzepten der ›aktivierenden‹ Arbeitsmarktpolitik zielt die Jugendgarantie auf Jugendliche und junge Erwachsene, die als passiv beschrieben werden (die sogenannten NEETs, s.o.). Obwohl die EU-Kommission mit Verweis auf Eurostat-Daten selbst darauf aufmerksam macht, dass strukturelle Faktoren wie ein Migrationshintergrund, die Herkunft aus einem einkommensschwachen Haushalt, eine Behinderung oder das Leben in einem abgelegenen Gebiet die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass jemand der Gruppe der NEETs angehört (vgl. Europäische Kommission 2012, 4), verfolgt sie einen Lösungsansatz, der die Ursachen der ›Passivität‹ beim Individuum sucht. Es geht vor allem darum, employability, die ›Beschäftigungsfähigkeit‹ zu verbessern. Die Frage, ob die zunehmend besser ausgebildeten Jugendlichen auch auf ein entsprechendes Arbeitsplatzangebot treffen oder ob sie trotz besserer Ausbildung nicht letztlich um eine gleichbleibende oder gar relativ schrumpfende Zahl von Arbeitsplätzen konkurrieren, wird gar nicht gestellt. Schauen wir uns die Zahlen an: Der Anteil der Graduierten in der EU-28 stieg in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen von 34,5 Prozent im Jahr 2007 auf 45,6 Prozent im Jahr 2012. Im selben Zeitraum stieg die Arbeitslosenquote der AkademikerInnen in dieser Altersgruppe von 11,5 Prozent auf 18,1 Prozent. Es gibt also in der EU immer mehr HochschulabsolventInnen, zugleich steigt die Zahl der erwerbslosen AkademikerInnen. Der ständige Wechsel zwischen Erwerbstätigkeit und Aus- und Weiterbildung wird zum Leitbild erhoben – im Einklang mit der Vorstellung des »lebenslangen Lernens«. De facto wird das Bildungssystem verstärkt als Zwischenlager für Erwerbslose genutzt, verändert sich aber auch qualitativ dadurch, dass es stärker der Arbeitsmarktpolitik untergeordnet wird. Bildung als Mittel der Emanzipation und der allseitigen Entwicklung des Individuums tritt weiter in den Hintergrund, während die »berufliche Kompetenzförderung« und der nahtlose Übergang von der Ausbildung zur Arbeit in den Vordergrund rücken. Das Scheitern des Letzteren wird als mangelnde Übereinstimmung des Bildungswesens mit den Qualifikationsanforderungen der Unternehmen interpretiert; daraus wird der Bedarf abgeleitet, das Bildungswesen weiter im Sinne ›der Wirtschaft‹ zu reformieren. In diesem Sinne ist eines der zentralen Vorhaben der EU im Rahmen der Beschäftigungspolitik für Jugendliche, einen »Qualitätsrahmen für Praktika« zu schaffen und eine »Europäische Ausbildungsallianz« zur Förderung dualer Ausbildungssysteme nach deutschem Vorbild voranzutreiben.
Ein Gespenst geht um: der »Unternehmergeist«
Eines der Ziele der Jugendgarantie ist es, den »Unternehmergeist« junger Leute zu fördern: »Erfolgreiche Unternehmer sind als Rollenmodelle wichtig für die Förderung des Unternehmergeistes bei jungen Menschen«, so die Europäische Kommission (ebd., 26f). Die »Unterstützung bei kontinuierlicher Beratung junger Menschen zu Unternehmensgründung und Selbständigkeit« sowie die »Bereitstellung von mehr Gründungshilfen« werden als Mittel zur Umsetzung der Jugendgarantie gesehen. Durch die Einführung von »Unternehmensgründungsunterricht« soll bereits in der Schule der Unternehmergeist geweckt werden. Das Rezept ist einfach: Wenn partout kein Job gefunden werden kann, dann machen sich eben alle selbständig, bis die offizielle Statistik stimmt. Dafür gibt es auch materielle Anreize. Der Plan der spanischen Regierung zur Umsetzung der Jugendgarantie sieht zum Beispiel vor, für die ersten Monate der Selbständigkeit eine »Flatrate« bei Steuern und Abgaben einzuführen und den Bezug von Arbeitslosenhilfe zu ermöglichen, die zugleich als »Kapital« genutzt werden soll. Die Konkurrenzfähigkeit solcher Existenzen ist zutiefst fragwürdig und nicht von Sanktionsmechanismen losgelöst, für die sich »Hartz IV« und alle früheren Workfare-Programme als Vorbild erweisen. Das Risiko des Einkommensverlustes bei Erwerbslosigkeit wird dabei komplett auf das Individuum abgewälzt. Alle Maßnahmen, die die EU-Kommission für die Umsetzung der Jugendgarantie vorgeschlagen hat, beruhen auf den »Grundsätzen der gegenseitigen Verpflichtung«, die die Teilnahme an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen vorschreiben und Sanktionen bei mangelnder Kooperationsbereitschaft von Betroffenen beinhalten können. Die Kommission warnt, die Jugendgarantie könne ein »moralisches Risiko« beinhalten, wenn junge Menschen sich darauf verließen, dass Angebote an sie herangetragen werden. Diese Gefahr dürfte allerdings gering sein, denn fraglich ist eher, ob es überhaupt genügend ›Angebote‹ gibt beziehungsweise ob solche mit den von der EU zur Verfügung gestellten Mitteln geschaffen werden können.
Umverteilung zugunsten des Kapitals
Dass der Marktmechanismus als solcher kein ausreichendes Angebot an Arbeitsplätzen bereitstellt, erkennt implizit auch die Kommission an, wenn sie vorschlägt, »Einstellungsanreize« zu schaffen, um die Jugendgarantie umzusetzen. Als Ursache der mangelnden Bereitschaft der Unternehmen, junge Erwachsene einzustellen, gelten unter anderem – der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie entsprechend – zu hohe Löhne und ›Lohnnebenkosten‹. So fordert die Kommission unter anderem einen »budgetneutralen Abbau der Steuerbelastung der Arbeit«, das heißt, die Lohn- und Einkommensteuer sollen gesenkt und die indirekten Steuern und Abgaben erhöht werden. Die Forderung nach einer »Budgetneutralität« ergibt sich aus der Austeritätspolitik, die die Kommission gleichzeitig verfolgt. Eine solche Umschichtung von direkten zu indirekten Steuern würde es der Kommission zufolge erlauben, die Bruttolöhne zu senken, sodass Unternehmen entlastet werden und ihre Arbeitsnachfrage sich erhöht. Unter den Tisch wird dabei gekehrt, dass ein solcher Umbau des Steuersystems verteilungspolitisch regressiv ist und gerade die Kaufkraft der unteren Einkommensgruppen, der Erwerbslosen, der RentnerInnen und Studierenden schmälert, was zur Folge hat, dass die von ihnen ausgehende effektive Nachfrage sinkt, sodass weitere Arbeitsplätze abgebaut werden. Zuschüsse für die Einstellung schwer vermittelbarer Jugendlicher sind ein weiteres Mittel zur Umsetzung der Jugendgarantie, welches den Unternehmen zugute kommt. Um Anstellungen zu fördern, können zum Beispiel in Spanien die Beiträge zur Sozialversicherung gesenkt werden oder komplett entfallen. Eines der Programme bezieht sich auf eine Kombination von Teilzeitbeschäftigung und Weiterbildung, wobei der Beitrag zur Sozialversicherung für bis zu zwölf Monate gemindert werden kann. Das sogenannte First-Job-Programm sieht vor, dass für Personen, die keine Aussicht auf eine unbefristete Anstellung haben, temporäre Beschäftigungsverhältnisse erleichtert werden. Die gesamten Kosten der Unternehmen für sogenannte Traineeships können für eine Dauer von sechs Monaten bis zu drei Jahren vom Staat übernommen werden. Unternehmen, die befristete Beschäftigungsverhältnisse in unbefristete umwandeln, erhalten für drei Jahre Subventionen zu den Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe von 500 Euro jährlich für männliche Beschäftigte und 700 Euro jährlich für weibliche Beschäftigte (Ministerio de empleo y seguridad social 2013). Fraglich ist dabei, ob derartige Lohnsubventionen insgesamt zu einer Erhöhung des Arbeitsplatzangebots führen oder nur die Mitnahmeeffekte gestärkt werden.
Wanderer, das Kapital ruft!
Last but not least soll auch die Förderung der »Arbeitskräftemobilität« in der EU zur Umsetzung der Jugendgarantie beitragen. Wer also auf dem nationalen Arbeitsmarkt keinen Job findet, soll zur Emigration angeregt werden. Dazu sollen die Informationssysteme über Jobangebote grenzüberschreitend ausgebaut werden – als läge es nur an mangelnden Informationen, wenn Menschen trotz mangelnder Perspektiven ihr Heimatland nicht verlassen wollen. Vorgesehen sind ferner der Ausbau von Kontaktstellen, »Sensibilisierungskampagnen« und die Förderung von Freiwilligenorganisationen, die Mentoringprogramme anbieten. Die dazu zur Verfügung stehenden Mittel sind allerdings sehr beschränkt. Die Zahl der bei dem EURES-Portal gemeldeten jungen Menschen, die in der gesamten EU nach Arbeit suchen, ist seit 2010 stark angestiegen, wobei die höchsten Zuwächse in Griechenland (394 Prozent), Spanien (295 Prozent) und Italien (196 Prozent) zu verzeichnen waren. Im Rahmen des MobilPro-EU-Programms haben zum Beispiel das spanische Arbeitsministerium und das deutsche Ministerium für Arbeit und Soziales 2013 das Job-of-My-Life-Programm vereinbart, mit dem 5 000 spanische Jugendliche innerhalb von vier Jahren eine Ausbildung oder einen Arbeitsplatz in Deutschland erhalten sollten. Bereits im April 2014 musste das Programm wegen einer zu hohen Anzahl an Bewerbungen zeitweise ausgesetzt werden (vgl. Berlingieri et al. 2014, 80f). Im europäischen Durchschnitt sind die Mobilitätsintentionen laut Eurobarometer seit 2011 allerdings gesunken. Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass MigrantInnen sich in den Zielländern häufiger als Einheimische in befristeten Arbeitsverhältnissen oder Teilzeitjobs wiederfinden und für die Arbeit, die sie ausüben, oft überqualifiziert sind (Europäische Kommission 2014).
Ein Teufelskreis wird geschaffen
Die Jugendgarantie der EU ist der untaugliche Versuch, das Problem der Jugendarbeitslosigkeit isoliert von den es konstituierenden ökonomischen Verhältnissen zu behandeln. Quantitativ ist das Programm unzulänglich, weil die verfügbaren finanziellen Mittel, gemessen an der Zahl der betroffenen Personen, viel zu gering sind. Es ist aber auch qualitativ untauglich, weil es die Ursachen der hohen Jugendarbeitslosigkeit verkennt. Zunächst muss festgehalten werden, dass eine mehr oder minder hohe Erwerbslosigkeit eine Funktionsbedingung der kapitalistischen Produktionsweise ist, wie Karl Marx in Das Kapital gezeigt hat. Wenn die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität über der des Sozialprodukts liegt, nimmt die Zahl der Erwerbslosen tendenziell zu. Was die EU angeht, so ist empirisch festzustellen, dass die Wachstumsraten des Sozialprodukts seit Mitte der 1970er Jahre rückläufig sind und dass die Zahl der Erwerbslosen über die Konjunkturzyklen hinweg zugenommen hat. Unter dem Vorwand, die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, wurden Standards für Jugendliche und junge Erwachsene geschaffen, welche die des eigentlichen Arbeitsrechts unterlaufen. Dadurch werden diese in überdurchschnittlichem Maße in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt und gehören daher auch zu den ersten, die Opfer von Krisen werden. Krisen haben zunächst die Entlassung von LeiharbeiterInnen und die Beendigung befristeter Beschäftigungs- und Ausbildungsverhältnisse zur Folge, wodurch die Jugendarbeitslosigkeit stärker als die allgemeine Erwerbslosigkeit ansteigt. Dies gibt dann wieder Anlass zu einer neuen Runde von Maßnahmen zur Förderung der prekären Beschäftigung von Jugendlichen, nach dem Motto: besser ein prekärer Job als gar kein Job. Die Jugendgarantie der EU reiht sich insofern ein in eine lange Reihe von neoliberalen Arbeitsmarktreformen und Sondermaßnahmen für Jugendliche, die einen Teufelskreis von Arbeitslosigkeit und Prekarisierung befördern. Die Jugendlichen scheinen jedoch nicht länger bereit, den politischen Ausverkauf ihrer Zukunft kommentar- und kampflos hinzunehmen. Das Aufbegehren gegen die europäische Krisenpolitik muss also auch als Absage an die europäische Jugendarbeitsmarktpolitik gelesen werden.