»Lebenstraum? Ach, weiß ich nicht. Lebenstraum hab’ ich nicht. Will halt nicht arbeitslos werden später. Das ist so das Schlimmste, was passieren könnte.«
Jerome, 18 Jahre, Auszubildender bei Opel Bochum1

Hauptaufgabe der Gewerkschaften ist es, die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen einzudämmen. Inwieweit ihnen das gelingt, hängt von den jeweiligen Organisationsformen und Strategien sowie den Kräfteverhältnissen ab. Der Fall General Motors/Opel ist in dieser Hinsicht lehrreich. Da Opel in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich an Marktanteilen verloren hat und sich praktisch permanent in der Krise befand, waren die Beschäftigten ständig mit Angriffen auf ihre Löhne und Arbeitsbedingungen konfrontiert. Unter diesem Druck haben sich neue Ansätze einer europäischen Organisierung herausgebildet, die jedoch deutliche Grenzen haben.

Europäische Betriebsräte erkämpfen Rechte

Der in Detroit ansässige Konzern General Motors (GM) gründete 1986 ein europäisches Hauptquartier in Zürich, um das Geschäft der bis dahin relativ eigenständigen Tochterunternehmen wie Opel in Deutschland und Vauxhall in Großbritannien stärker zu zentralisieren. Der Einfluss der IG Metall und des Gesamtbetriebsrats (GBR) auf die Leitung der Adam Opel AG wurde dadurch relativiert. Als Anfang der 1990er Jahre die Deindustrialisierung in Ostdeutschland mit einer Konjunkturkrise im Westen zusammenfiel und zahlreiche Unternehmen massiv Stellen abbauten, schloss der GBR mit der Konzernleitung einen ersten Standortvertrag. Zusagen zum Erhalt der deutschen Produktionsstandorte und zur Weiterbeschäftigung der Auszubildenden wurden mit Zugeständnissen des GBR zur Kostensenkung erkauft. Alle deutschen Automobilhersteller und viele Unternehmen anderer Branchen schlossen damals ähnliche Vereinbarungen ab. Es bildete sich ein Muster des concession bargaining für die nächsten 20 Jahre, das nicht auf Deutschland beschränkt blieb. Der 1993 geschlossene Vertrag hatte eine Laufzeit von vier Jahren, doch bereits 1996 waren die Betriebsräte mit neuen Restrukturierungsplänen konfrontiert, die mit Überkapazitäten und sinkenden Marktanteilen in Europa begründet wurden.

In der Zwischenzeit hatte der Europäische Rat eine Richtlinie über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats (EBR) in Unternehmen verabschiedet, die in mehreren Ländern der Europäischen Union tätig sind. In Deutschland wurde sie 1996 in nationales Recht umgesetzt. Die Einrichtung von EBRen war damit verpflichtend, sie sollten jedoch lediglich Informations- und Konsultationsrechte – nicht wie deutsche Betriebsräte auch Mitbestimmungsrechte – besitzen.

Im Fall von GM verfolgte das Management die Strategie, Umstrukturierungen der Produktion jeweils mit den Betriebsräten oder Gewerkschaftern der einzelnen Standorte auszuhandeln und durch die Inszenierung eines konzerninternen Standortwettbewerbs die Kosten zu senken. Die Einrichtung eines EBR war dabei offensichtlich hinderlich, weshalb die Kommunikation mit dem EBR auf das gesetzlich Notwendige beschränkt wurde.

Im Jahr 2000 kündigten GM und Fiat eine Allianz an, bei der der Einkauf sowie die Motoren- und Getriebefertigung der beiden Konzerne in zwei Joint Ventures zusammengelegt werden sollten. Ein erheblicher Personalabbau und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen waren zu erwarten. Der EBR organisierte mit Hilfe des Europäischen Metallgewerkschaftsbunds (EMB) europaweite Aktionen und bewegte GM schließlich zu Verhandlungen über ein europäisches Rahmenabkommen. Ziele waren der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen, eine umfassende Sicherung von Arbeitsbedingungen im Falle eines Betriebsübergangs, ein fünfjähriges Rückkehrrecht der Beschäftigten in ihr bisheriges Unternehmen, die Übernahme sämtlicher Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge, die Anerkennung der bisherigen Belegschaftsvertreter, Gewerkschaften und Betriebsräte in den neuen Gemeinschaftsunternehmen sowie die Einhaltung bereits gegebener Investitions- und Produktionszusagen für die einzelnen Standorte.

Kritische Vertrauensleute im Werk Bochum waren mit der sich abzeichnenden Kompromisslinie zwischen dem EBR und GM nicht einverstanden. Nachdem es dort dreimal zu kurzzeitigen Produktionsausfällen durch Belegschaftsversammlungen gekommen war, folgte am 14. und 15. Juni ein Streik, der aufgrund ausbleibender Komponentenlieferungen aus Bochum schon bald zu Produktionsausfällen in anderen GM-Werken führte. Die Forderung der Bochumer: »Wir bleiben eine Belegschaft, ein Betriebsrat.« Nachdem das Management den Beschäftigten zugesichert hatte, dass auch im Falle von Ausgliederungen der bisherige Betriebsrat zuständig bleibe und der bisherige Lohn unbefristet weitergezahlt werde, wurde der Streik abgebrochen. Am 6. Juli 2000 schließlich unterzeichneten GM, der EBR und der EMB ein europäisches Rahmenabkommen. Es legte fest, dass die GM-Beschäftigten, die in die Joint Ventures mit Fiat wechseln sollten, weiterhin wie Beschäftigte von GM behandelt werden und keine Nachteile haben würden. Die bisher für sie zuständigen Betriebsräte und Gewerkschaften sollten das Vertretungsrecht behalten und alle Tarif- und Betriebsvereinbarungen weiterhin gelten. Der EBR von GM war damit nicht mehr nur ein Gremium mit Informations- und Konsultationsrechten, sondern er war effektiv zum Verhandlungspartner des Managements geworden.

Es folgten eine Reihe von Auseinandersetzungen: im Winter 2000/2001 um den Abbau von 6 000 Arbeitsplätzen in Europa und die Schließung des Vauxhall-Werkes in Luton, im Sommer und Herbst 2001 um das Restrukturierungsprogramm »Olympia«, im Herbst 2004 um den angedrohten Abbau von 12 000 Arbeitsplätzen in Europa und die Lokalisierung der zukünftigen Vectra-Produktion, im Frühjahr und Sommer 2006 um die Schließung des Werks in Azambuja (Portugal), im Frühjahr 2007 um die Schließung des Werks in Antwerpen und die Lokalisierung der zukünftigen Astra-Produktion. Sie alle verliefen nach einem ähnlichen Muster: Der EBR versuchte mit Unterstützung des EMB europaweite Protestaktionen zu organisieren und das Management durch Verhandlungen zu Rahmenvereinbarungen zu bewegen, durch die betriebsbedingte Kündigungen und Werksschließungen verhindert werden sollten. Dabei wurden durchaus Teilerfolge erreicht. Die Schließung des Werkes in Luton beispielsweise konnte verhindert werden, allerdings wurde die Zahl der Beschäftigten um die Hälfte reduziert. Bezüglich des Restrukturierungsprogramms »Olympia« erreichte der EBR eine Rahmenvereinbarung, wonach die angestrebte Reduzierung der Produktionskapazität auf europäischer Ebene ausgehandelt werden sollte. Gleichzeitig sollten alle bestehenden Tarif- und Betriebsvereinbarungen gewahrt werden. Damit wurde allerdings nicht verhindert, dass in den nachfolgenden lokalen Verhandlungen erhebliche Lohnsenkungen und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen akzeptiert wurden.

Mit dem ›wilden‹ Streik der Beschäftigten in Bochum vom 14. bis 20. Oktober 2004 erreichten die Auseinandersetzungen einen Höhepunkt, an dem auch die Differenzen zwischen der stärker politisierten und widerständigeren Belegschaft in Bochum und anderen Standorten sowie die Uneinigkeit innerhalb der Interessenvertretung deutlich wurde. Die Führung der IG Metall und der Betriebsrat im Rüsselsheimer Stammwerk drängten darauf, den Streik zu beenden. Parallel dazu gelang es dem Management, die Belegschaftsvertreter in Rüsselsheim und Trollhättan (Schweden) gegeneinander auszuspielen – beide machten erhebliche Zugeständnisse, um Investitionszusagen zu erreichen. Nach dem ergebnislos abgebrochenen Streik folgte ein »Zukunftsvertrag« für die deutschen Werke, der u.a. Nullrunden bei Löhnen und Gehältern für mehrere Jahre sowie eine Kürzung des Weihnachtsgelds festschrieb. Die Schließung des Werkes in Azambuja konnte trotz dreiwöchiger koordinierter Aktionen an allen europäischen Standorten von GM nicht verhindert werden. Die Schließung des Werks in Antwerpen wurde 2007 zwar abgewendet, aber letztlich nur bis 2010 aufgeschoben.

Der EBR reagierte zumeist defensiv, bemühte sich aber um eine gemeinsame Produktionsplanung, die auf eine gleichmäßige Auslastung aller Produktionsstandorte und die Sicherung der Arbeitsplätze ausgerichtet war – eine wegweisende Alternative zu dem vom Management weiterhin inszenierten Wettbewerb zwischen den einzelnen Standorten.

Mit Verschärfung der Unternehmenskrise spitzte sich die Lage ab 2008 zu. Im Jahr 2010 schloss der EBR die bisher letzte europäische Rahmenvereinbarung zur Sanierung des Unternehmens und stimmte dabei einer Senkung der Lohnsumme in Europa um 265 Millionen Euro zu. Doch schon bald forderte das Management weitere Lohnsenkungen und kündigte – nach der Schließung des Werks in Antwerpen und dem Bankrott des Tochterunternehmens Saab in Schweden – nun auch die Stilllegung der Fahrzeugproduktion in Bochum an. Hatte der EBR im März 2012 noch angekündigt, nicht mehr lokal über weitere Zugeständnisse zu verhandeln, ließ sich diese Linie schon im Mai nicht mehr durchhalten. Um die Produktion des neuen Astra nach Ellesmere Port zu ziehen, schloss die britische Gewerkschaft einen neuen Tarifvertrag ab, der erhebliche Lohnsenkungen beinhaltete.

Grenzen

Was ist aus diesen Auseinandersetzungen zu lernen? Mit Hilfe des EBR ist es bei General Motors Europe/Opel zeitweise gelungen, die Konkurrenz der Beschäftigten der verschiedenen Standorte dadurch einzudämmen, dass lokale Verhandlungen über Zugeständnisse bei Löhnen und Arbeitsbedingungen verweigert wurden. Dies ist bemerkenswert, auch wenn diese Solidarität immer wieder brüchig war und in der Annahme, durch Zugeständnisse die Arbeitsplätze am eigenen Standort sichern zu können, letztlich aufgegeben wurde.

Durch das international solidarische Handeln der Lohnabhängigen war das Management gezwungen, den Europäischen Betriebsrat als Verhandlungspartner anzuerkennen – ein Beispiel dafür, wie in Kämpfen neue Formen der Interessenvertretung entstehen können. Die europäischen Rahmenvereinbarungen zielten in erster Linie darauf, betriebsbedingte Kündigungen und Werksschließungen zu verhindern. Wegweisend war vor allem der Versuch einer gemeinsamen, standortübergreifenden Produktionsplanung als Gegenmodell zum konzerninternen Wettbewerb – auch wenn dies nur ansatzweise umgesetzt werden konnte.

Es ist mehrfach gelungen, europaweite Proteste gegen Werksschließungen zu organisieren, an denen sich auch Belegschaften beteiligten, die von der Arbeitsplatzvernichtung an anderer Stelle vermeintlich oder tatsächlich profitiert hätten. Die Proteste waren allerdings nicht machtvoll genug, um Werksschließungen letztendlich zu verhindern. Gerade da, wo ›wilde‹ Streiks wie in Bochum begannen, ökonomischen und politischen Druck zu entfalten, versagten Betriebsräte und Gewerkschaftsführungen den Streikenden die Unterstützung.

Die Standortsicherungsvereinbarungen der letzten zwanzig Jahre haben klar gezeigt, dass ein Arbeitsplatzabbau alleine durch den Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen und Standortschließungen nicht zu verhindern ist. Dies gilt nicht nur im Fall von GM/Opel, sondern auch für andere Unternehmen der Automobilindustrie (Jürgens/Krzywdzinski 2006). Der Regelungsgehalt der europäischen Rahmenvereinbarungen blieb insgesamt so gering, dass auch bei ihrer Einhaltung genügend Spielraum für lokale Zugeständnisse im Rahmen der Standortkonkurrenz blieb. Dennoch wurde der Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Standorten durch die übergeordnete europäische Ebene erleichtert. So konnten beispielsweise Vertreter des EMB bei Konflikten moderierend tätig werden und das Handeln an den verschiedenen Standorten koordinieren. Vorsitzende von EBR ebenso wie Vorsitzende von GBR können diese Funktion nur bedingt übernehmen, da sie gleichzeitig jeweils auch noch Vertreter einer bestimmten Belegschaft sind. Generell ist die Beteiligung von Gewerkschaften notwendig, um solidarisches Handeln der Lohnabhängigen an verschiedenen Standorten zu ermöglichen. Die Ressourcen dafür scheinen sich durch die Fusion des EMB mit zwei anderen Gewerkschaftsdachverbänden zum Dachverband industriAll eher vermindert zu haben (vgl. Schäfer-Klug in diesem Heft). Die Kampfkraft der Beschäftigten ist durch die Umstrukturierungen und die zahlreichen Zugeständnisse der letzten 20 Jahre erheblich angegriffen. Während die Beschäftigten bei Opel Bochum beispielsweise in der Vergangenheit immer wieder spontan gestreikt haben, scheinen sie gegenwärtig kaum noch in der Lage, den Schließungsplänen des Managements etwas entgegenzusetzen (vgl. Schaumberg 2012; Candeias 2012). Auch europaweit koordinierte Aktionen der Belegschaften wie bei der Werksschließung in Azambuja 2006 scheinen bei GM/Opel momentan unrealistisch.

Durch die jahrelangen Zugeständnisse sind übertarifliche Lohnbestandteile auch in der Automobilindustrie weitgehend abgeschmolzen worden. Demnächst stehen die tariflichen Regelungen selbst zur Debatte. Die jahrelange Verrechnung von Tariferhöhungen mit übertariflichen Zulagen hat zudem zu einer Situation geführt, in der für die Beschäftigten immer unklarer wird, warum sie sich noch gewerkschaftlich organisieren und streiken sollen. Selbst in der Autoindustrie, der Leitbranche des Modells Deutschland und dem Kernbereich der IG Metall, naht bei der Fortsetzung der bisherigen Politik eine Situation, in der die Gewerkschaft ihre eigenen Tarifverträge und ihre eigene Organisation unterminiert.

1 Mit dieser Aussage beginnt der sehenswerte Dokumentarfilm »Arbeit – Heimat – Opel« von Ulrike Franke und Michael Loeken für den WDR, in dem eine Gruppe von Auszubildenden bei Opel Bochum porträtiert wird, die ihre Ausbildung während der Krise 2009 begannen. Siehe: www.youtube.com/watch?v=tGK7s5BQbgw

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