Die Liste der Bereiche und Branchen, in denen ein radikaler Umbau erforderlich ist, ließe sich um einiges verlängern. Der Agrarbereich und die Finanzwirtschaft sind ebenso bedeutsam wie der Hochtechnologiesektor, dem eine Scharnierfunktion zufallen könnte. Generell gilt jedoch: Industriepolitik funktioniert nicht ohne gut finanzierte soziale Infrastruktur, die Gesundheit, Pflege, Erziehung, Bildung und Mobilität zu öffentlichen, für alle zugänglichen Gütern macht. Diese Tätigkeiten werden häufig in prekärer Beschäftigung ausgeübt, als Frauen- und migrantische Arbeit abgewertet. Derart festgefahrene Strukturen lassen sich wohl nur mithilfe einer längst überfälligen Care Revolution (Winker 2015) aufbrechen, die unabdingbarer Bestandteil einer Nachhaltigkeitswende ist. Den wohlfahrtsstaatlichen Arrangements kommt dabei eine entscheidende Rolle zu.
Ein Umsteuern in Richtung des skandinavischen Wohlfahrtsstaatsmodells reicht heutzutage aber keineswegs aus. Nicht alle notwendigen Sorgetätigkeiten können öffentlich bereitgestellt werden. Darum bedarf es eines selbstbestimmten Mix aus öffentlichen und privaten Sorgeleistungen. Ihr wichtigster Anknüpfungspunkt ist das Zeitregime. Eine kurze Vollzeit von 30 bis 32 Wochenarbeitsstunden im Rahmen einer Viertagewoche würde erwünschte und freiwillige Arbeitszeitverlängerung für Unterbeschäftigte bedeuten, aber auch strikte Arbeitszeitverkürzung für Überbeschäftigte. Der Fach- und Arbeitskräfteknappheit könnten solche Maßnahmen ebenfalls entgegenwirken und sie böten Spielraum für unbezahlte, ehrenamtliche Arbeiten zugunsten von Gesellschaft und Demokratie.
Ökologischer Wohlfahrtsstaat als Übergangsprojekt
Diese Beispiele deuten an, was möglich wäre. Die Realität im Osten bleibt einstweilen deutlich dahinter zurück. Wie lässt sich das ändern? Wohl wissend, dass linke Politik – zumal unter Kriegsbedingungen – über wenig Einflussmöglichkeiten verfügt, beschränke ich mich auf einige Vorschläge.
Der erste mag überraschen, denn er setzt an den sogenannten weichen Faktoren an und lautet: »Köpfe hochnehmen!« Charakteristisch für viele Regionen der östlichen Peripherie ist das Empfinden, mehrfach abgewertet zu sein – als »Ossi«, prekär Lebende*r, Arbeiter*in ohne Aufstiegsmöglichkeit oder schlicht als Bürger*in »zweiter Klasse«. Linke Politik darf dieses Empfinden nicht verstärken, sie muss im Gegenteil zeigen, dass für eine lebenswerte Zukunft jede*r gebraucht wird. Das heißt nicht, die Lage schönzureden, wie es große Teile der politischen Klassen seit vielen Jahren praktizieren, sondern das Selbstbewusstsein zu stärken und deutlich zu machen, dass Weltgestaltung vor Ort möglich ist – ein Vorhaben, das auch denen eine Stimme geben muss, die ansonsten kein Gehör finden.
Das führt zum zweiten Vorschlag, den ich als »Aufklärung mittels (Weiter-)Bildung« bezeichne. Dabei geht es um mehr als nur um berufliche Fortbildung. Benötigt wird ein gesellschaftlich verbreitetes Wissen um die Vielschichtigkeit und Komplexität der Transformation. In diesem Sinne müssen Bildungseinrichtungen – Schulen, Hochschulen und Universitäten – zu Institutionen einer neuen Aufklärung werden, die systematisch Transformationswissen generieren und vermitteln. Gerade weil unklar ist, welche fachlichen Qualifikationen im engeren Sinne künftig benötigt werden, ist die Vermittlung von außerberuflichen Fähigkeiten, die Offenheit für Transformationsprozesse ermöglichen, von zentraler Bedeutung. Hier könnten die neuen Bundesländer mutig vorangehen. Wichtig wären durchlässige Grenzen zwischen beruflicher Praxis und universitärem Studium, die Aufwertung von Handarbeit durch Ermöglichung von Doppelqualifikationen (Berufsabschluss plus Studium), die Finanzierung der Weiterbildung an Hochschulen durch eine Bildungskarenzzeit nach österreichischem Vorbild sowie die Ausbildung von Transformationslotsen in interdisziplinären Studiengängen.
Eine solche Politik liefe darauf hinaus, die neue Aufklärung mit einem beschleunigten Ende der billigen Dinge – billige Arbeitskraft und billige Natur – zu verbinden. Diese Entwicklung ist bereits im Gange. Der gemeinsame Verkehrsstreik von ver.di und EVG, Lohn- und Gehaltsforderungen über 10 Prozent sowie das strategische Bündnis von Gewerkschaft und Klimabewegung im ÖPNV signalisieren, wie die neue Aufklärung materiell zu erden ist. Werden ökologische Nachhaltigkeitsziele ohne soziale Gerechtigkeitsdimension proklamiert, erscheint dies Beschäftigten mit niedrigen und mittleren Einkommen, denen unter Inflationsbedingungen zusätzliche Verluste drohen, als Versuch einer ideologischen Beherrschung durch privilegierte Gruppen. Wie Lucas Chancel (2022) in einer bahnbrechenden Studie zeigt, hat zu der Emissionsreduktion von ca. 25 Prozent zwischen 1990 und 2019 vor allem die untere Hälfte der Bevölkerung beigetragen, während die Eliten ihre Emissionen deutlich erhöht haben. Deshalb löste es berechtigte Widerstände aus, wenn ausgerechnet die ärmeren Gruppen die Hauptlast der Transformation tragen sollen. Die Streiks im öffentlichen Dienst klagen zu Recht eine Umverteilung zugunsten »kleiner Geldbörsen« ein, denn Qualität aus nachhaltiger Herstellung hat ihren Preis. »Besser statt mehr – für alle, nicht für wenige« ist das progressive Gegenprogramm zu marktzentrierter Klimapolitik. Gerade im Osten sind höhere Löhne und Gehälter insbesondere für die unteren Einkommensgruppen eine Minimalbedingung, um ein Ausbluten des öffentlichen Dienstes und eine Abwanderung aus schlecht bezahlten Dienstleistungstätigkeiten zu verhindern. Insofern macht es trotz knapper Kassen auch aus kommunaler und Länderperspektive Sinn, gewerkschaftliche Plädoyers für eine Gemeinwohlökonomie nach Kräften zu unterstützen. Mit der Veränderung individueller Konsumgewohnheiten allein ist dabei wenig zu erreichen.
Stattdessen muss es darum gehen, Investitionsentscheidungen an gesellschaftliche Ziele zurückzubinden und zu demokratisieren. Hier sind besonders dicke Bretter zu bohren, denn die bloße Ausweitung von betrieblichen oder unternehmensbezogenen Mitbestimmungsmöglichkeiten garantiert keineswegs, dass sich Belegschaften für ökologisch nachhaltige Produkte und Produktionsverfahren entscheiden. So ist die Kritik an E-Fahrzeugen in den Betrieben der Fahrzeugindustrien weit verbreitet. Die Schlussfolgerung ist jedoch häufig, noch länger am konventionellen Antriebsstrang festzuhalten. Dem lässt sich entgegenwirken – zum Beispiel mit einem Transformationsgeld, finanziert durch eine Vermögens- und Transformationsabgabe wohlhabender Haushalte und gewinnträchtiger Unternehmungen. Dies würde denen Sicherheit bieten, die ihren halbwegs gut bezahlten Job in einer Karbonbranche verlieren und um ihren Status bangen.
Ein »ökologischer Wohlfahrtsstaat« (Dörre 2023) könnte zum Leitbild einer Übergangsstrategie werden, die sich mittelfristig als mehrheitsfähig erweist. Eine Stärkung der Daseinsvorsorge und der Nahversorgungsbereiche, der radikale Umbau von Exportindustrien und das Zurückschrumpfen der Rentenökonomie, allen voran des Finanzsektors, wären die Koordinaten für ein solches Programm. Hierin eingebettet ließe sich eine zukunftsorientierte, integrative Industriepolitik verfolgen, die Transformation mit der Aussicht auf eine bessere Gesellschaft verbindet.
Der Osten – Entwicklung statt Schrumpfung
Schrumpfung ist ein untaugliches Rezept für diesen Übergang. Sich selbst überlassen, schrumpfen die meisten ostdeutschen Regionen von allein. Altersbedingt und ohne nennenswerte Zuwanderung verringert sich die Zahl der Erwerbstätigen. Da es einen Arbeitsmarkt in permanentem Ungleichgewicht nicht geben kann, finden die Geschäfte dann in anderen Weltregionen statt. Die Folge wird ein massiver Wohlstandsverlust durch unterbliebene Investitionen sein, der sich allein im Jahr 2023 auf durchschnittlich 7 000 Euro pro Kopf summieren dürfte (Otte 2023). Rezepte, die die Arbeits- und Produktmenge halbieren wollen, um die Klimaziele zu erreichen, würden im Osten selbst dann nicht funktionieren, wenn sie von einem interventionsfähigen Staat durchgesetzt würden, der dem des britischen Kriegskapitalismus gliche (Herrmann 2022, kritisch: Dörre et al. 2022). Von der autoritären Note solcher Rezepturen einmal abgesehen, würden sie zudem nicht nur in der östlichen Peripherie die grundsätzlich misstrauische Haltung gegenüber dem »Nachhaltigkeitstalk« politischer Eliten verstärken.
Wird regionale Transformation unter Ausblendung sozialer Gerechtigkeit praktiziert, nehmen große Teile nicht zuletzt der Arbeiterschaft des Ostens den ökologischen Diskurs als Instrument ideologischer Beherrschung durch bessergestellte Klassen wahr. Das ist einer der Gründe, weshalb die imaginäre Revolte der radikalen Rechten, die den Klimawandel leugnet oder stark relativiert, mit ihrer fiktiven Aufwertung des Lebens »normaler« Leute im Osten auf überdurchschnittlich große Sympathie stößt. Hier liegt das politische Haupthindernis für einen neuen Aufbruch Ost: Nahezu alles, was die AfD tut, blockiert die Wende nicht nur zu ökologischer, sondern auch zu sozialer Nachhaltigkeit. Das ist fatal, weil die radikale Rechte in den Parlamenten der neuen Länder über eine Sperrminorität verfügt, die sämtliche Spielarten nachhaltiger Industrie- und Infrastrukturpolitik blockiert. »Ausbluten Ost« ist die unvermeidliche Konsequenz dieser Politik.
Ändern lässt sich das nur, wenn sich Politik im Osten – wie auch in allen anderen vom Strukturwandel gebeutelten Regionen – an erfolgreichen Beispielen nachhaltiger Entwicklung und nicht der Schrumpfung orientiert. Hierzu zählt etwa das nordschwedische Skellafteå, wo die gezielte Anwerbung von Migrant*innen sowie antizyklische, gegen Schrumpfung gerichtete Investitionen sowie ein Ausbau der sozialen Infrastruktur für erfolgreiche Entwicklung sorgte (vgl. Schmalz/Hinz in diesem Heft). Kurzum: Politiker*innen wie Thomas Zenker werden im Osten gebraucht. Von links unterstützt man sie am besten, wenn man sie von Marktillusionen, aber auch von naiver Staatsgläubigkeit befreit. Industrie- wie strukturpolitische Konzeptarbeit und die Erprobung von Alternativen in den Nischen des alten Systems, gepaart mit Druck aus Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und regionalen Initiativen, sind dafür kein hinreichender, gleichwohl ein unverzichtbarer Schritt.