Großräschen in der Lausitz. Ich sitze mit Thomas Zenker in einem Café am Ufer eines gefluteten Tagebaus. Was der Bürgermeister der Kleinstadt berichtet, versetzt mich in Erstaunen. Die Stimmung helle sich auf. 
Die LEAG, das große Braunkohleunternehmen der Region, habe 1 000 neue Beschäftigte eingestellt, ein kurzzeitiges Hoch durch die energiepolitischen Folgen des Ukraine-Kriegs. Doch viel entscheidender sei, dass die LEAG einen Plan für ein alternatives Geschäftsmodell habe: Sie wolle zum größten Produzenten von grünem Wasserstoff in Deutschland werden. Anders als die vorigen Eigentümer, der schwedische Staatskonzern Vattenfall, dächten die neuen Eigentümer marktwirtschaftlich.

Drei Jahre zuvor hatte sich die Situation völlig anders dargestellt. LEAG-Belegschaft und Klimabewegung waren sich spinnefeind, es fehlten Perspektiven jenseits der Kohle. Das ändert sich nun, weil in zaghaften Ansätzen geschieht, was kapitalistische Marktwirtschaften im besten Falle leisten sollen: schöpferische Zerstörung. Die alten Industrien verschwinden und werden durch neue, umweltfreundlichere Wirtschaftszweige ersetzt – so die Hoffnung. Aktuell verzögern jedoch politische Maßnahmen einen Wandel. Wegen akuter Energieengpässe wurde die Braunkohleverstromung vorübergehend wieder hochgefahren. Doch wie es in Zukunft weitergeht, kann niemand sagen. Klimabewegungen und Umweltverbände erhöhen den Druck für einen Kohleausstieg vor 2038. Die meisten ostdeutschen Landesregierungen, die betroffenen Unternehmen und Belegschaften lehnen das jedoch ab.

»Die größte Gefahr einer ›Rolle rückwärts‹ resultiert aus einer Marktillusion, der sich zahlreiche Politiker*innen im Osten hingeben.«

Diese Auseinandersetzungen sind Teil eines umfassenderen Transformationskonflikts. Die Klimakrise verlangt einen radikalen Umbau der Wirtschafts- und Produktionsmodelle in Schlüsselsektoren wie Energie, Gebäude und Verkehr. Allerdings schrumpfen angesichts der Klimaprognosen die dafür verfügbaren Zeitbudgets. Wie lässt sich das Ruder also herumreißen? Können Marktmechanismen oder eher staatliches Handeln den überfälligen Umbau vorantreiben? Ergeben sich für ostdeutsche Regionen, die radikale Strukturbrüche hinter sich haben, sogar neue Chancen? Tatsächlich, so meine These, ist eine integrierte, planvolle, an Nachhaltigkeitszielen ausgerichtete Industrie- und Infrastrukturpolitik möglich. Sie wäre ein großer Sprung in Richtung einer dekarbonisierten und zugleich demokratisierten Wirtschaft. Gegenwärtig droht jedoch eher eine »Rolle rückwärts«. Dort, wo sich regionale Aufbrüche andeuten, bleiben auch gute Ansätze weit hinter den Anforderungen der so dringenden sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitswende zurück.

Die Marktillusion

Aktuell wird die Transformation durch das Management der Kriegsfolgen blockiert. So drohen durch den Import von Fracking-Gas als Ersatz für russische Energieträger Lock-in-Effekte. Die eigens eingerichtete Infrastruktur aus Flüssiggasterminals kann Pfadabhängigkeiten schaffen und die Energiewende ausbremsen. Die größte Gefahr einer »Rolle rückwärts« resultiert jedoch aus einer Marktillusion, der sich, ähnlich dem Bürgermeister von Großräschen, zahlreiche Politiker*innen im Osten hingeben. Von den bürokratischen Fehlplanungen des Staatssozialismus abgeschreckt möchten sie Eingriffe in den Preismechanismus tunlichst vermeiden und nehmen den Niedergang von Unternehmen in den Karbonbrachen allzu oft als Schicksal hin. Beim Kampf um Fördermittel sind erfahrungsgemäß diejenigen im Vorteil, die am lautesten rufen, wie etwa die Braunkohle-Lobby. Während in die Kohlereviere zig Millionen fließen, sieht es in der beschäftigungspolitisch ungleich bedeutenderen Auto- und Zulieferindustrie schlecht aus. »Wozu sollen wir uns für eine Industrie starkmachen, die niemand mehr braucht?«, so die häufige Einschätzung. In Sachsen-Anhalt gilt es daher schon als Erfolg, die Hälfte der Arbeitsplätze in den überwiegend kleinen Zulieferbetrieben zu erhalten. [1]

Die neue Lage am Arbeitsmarkt

Doch diese passive Haltung hat ihren Preis. Befinden sich Regionen einmal im Niedergang, wird es schwer, die Weichen neu zu stellen. Markt- und Preismechanismen allein können daran nichts ändern. Der Osten ist trotz des Aufholprozesses zur inneren Peripherie des bundesdeutschen Kapitalismus geworden. Viele Jahre war er das billige Fachkräftereservoir des Westens und die Lücke bei Löhnen und Gehältern ist immer noch groß. So liegt das durchschnittliche Entgeltniveau in der Thüringer Auto- und Zulieferindustrie bei ca. 66 Prozent des Bundesdurchschnitts. Das mag ein Extrembeispiel sein, doch findet sich im Osten eine hohe Zahl an Problemregionen mit stark unterdurchschnittlichen Löhnen, die wie ein Bleigewicht an der regionalen Wirtschaft hängen und fehlende Nachfrage, aber auch geringeren Innovationsdruck für Unternehmen zur Folge haben. Zudem wirken die niedrigen Löhne auf dem Arbeitsmarkt geradezu fatal. Gerade im Osten macht sich in vielen Branchen nicht nur Fach-, sondern Arbeitskräfteknappheit bemerkbar. Die Primärmacht der Beschäftigten wächst; sie können, sofern mobil und qualifiziert, mit den Füßen abstimmen. Wegen des personellen Aderlasses sind Restaurants, aber auch kleinere Betriebe in ihrer Existenz bedroht. Während größere Unternehmen wie Carl Zeiss in Jena mit verbesserten Arbeitsbedingungen reagieren – am Jenaer Standort wurde jüngst die 35-Tage-Woche eingeführt –, können oder wollen sich kleinere Unternehmen das so nicht leisten. Endhersteller und große Systemzulieferer geben arbeitsmarkt- und inflationsbedingte Preiserhöhungen an ihre Kunden weiter, kleinere Zulieferunternehmen müssen auf Preisvorgaben der Marktführer Rücksicht nehmen. Sie verfügen nicht über eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilungen (F&E) und können nur kurzfristig reagieren, statt den Wandel strategisch anzugehen.

Hinzu kommt die verbreitete, so marktradikale wie autoritäre unternehmerische Mentalität. Man will Herr oder Herrin im eigenen Hause sein, Gewerkschaften gelten als feindliche Organisationen, Tarife und betriebliche Mitbestimmung werden abgelehnt und die Kooperation in Unternehmenszusammenschlüssen gilt als unrealistisch und unnötig. Sicher gibt es auch innovationsfreundliche Unternehmen mit kooperativer Binnenkultur, etwa in der optoelektronischen oder der IT-Industrie. Doch die Organisationsschwäche sowohl von Gewerkschaften als auch von Industrie- und Wirtschaftsverbänden, die weit unterdurchschnittliche tarifliche Deckungsrate sowie die Schwierigkeiten, neue Betriebsräte zu gründen, wirken sich nachteilig auf die Bindung von Arbeitskräften aus. Das droht den ohnehin asymmetrischen Aufschwung Ost zu beenden – und zwar lange bevor bei wirtschaftlicher Entwicklung, Löhnen und Arbeitsbedingungen Westniveau erreicht ist. Lässt sich mit Industriepolitik daran etwas ändern? Werfen wir einen Blick auf Schlüsselbranchen der Transformation.

Endhersteller als Krisengewinnler

Viele Jahre trug die Auto- und Zulieferindustrie erheblich zum Beschäftigungsaufbau im Osten bei. Nun steht die Branche unter erheblichem Veränderungsdruck. Allein die Umstellung auf batterieelektrische Antriebe könnte mehr als eine Viertelmillion Arbeitsplätze kosten. Zwar werden neue Arbeitsplätze in der Produktion, der Wartung, beim Batterie-Recycling und im Forschungs- und Entwicklungsbereich entstehen, doch das muss nicht in Deutschland und schon gar nicht im Osten sein. Kurzfristig könnten die Autocluster in den Regionen Leipzig und Chemnitz/Zwickau zu den Gewinnern gehören. Die Werke von VW und BMW produzieren bereits für die neuen Antriebstechniken und werden je nach Markterfolg an Beschäftigung noch zulegen. Allerdings führt das nicht dazu, dass F&E-Kapazitäten in Richtung der neuen Länder verlagert werden, um Abhängigkeit von den Entscheidungs- und Innovationszentren im Westen abzubauen.
 

»Man will Herr oder Herrin im eigenen Hause sein, Gewerkschaften gelten als feindliche Organisationen, Tarife und betriebliche Mitbestimmung werden abgelehnt.«

Das ist gravierend, weil sich das Geschäftsmodell durch strukturelle Nicht-Nachhaltigkeit auszeichnet. Zwar sind die Endhersteller trotz gestörter Lieferketten und Ukraine-Krieg hochprofitabel. Gewinne machen sie jedoch vor allem mit Financial Services sowie mit hochpreisigen, spritfressenden bzw. energieintensiven Limousinen im Hochpreissegment. Die Antriebswende soll nichts am gewinnträchtigen Geschäftsmodell ändern, dafür sorgt schon die Konkurrenz durch den lange unterschätzten Tesla-Konzern. Der »Tesla-Schock« sitzt bei den etablierten Endherstellern tief. Künftig wird mit dem klassischen Produkt Automobil kaum noch Geld zu verdienen sein. Verschiebungen hin zur Elektronik und Sensorik stellen eine ernsthafte Bedrohung für die »verlängerten Werkbänke« in der Zulieferindustrie dar. Die Verwundbarkeit innerhalb der Lieferketten ließe sich verringern, wenn die Endhersteller bereit wären, ihre Zulieferer zu regionalisieren. Doch das geschieht nicht automatisch. So kommt die Bepolsterung im Opel-Werk Eisenach von weit her, obwohl sie in der Region hergestellt werden könnte. Der Bahnanschluss ins Werk ist stillgelegt, weil der Eigentümer Stellantis nicht mit der französischen Staatsbahn kooperieren will. Ausschlaggebend bleibt aber, dass die Auto- und Zulieferbetriebe im Osten, selbst die Endhersteller und Systemzulieferer, Entscheidungen über das Geschäftsmodell der Autoindustrie kaum beeinflussen können.

Woher kommt die Energie?

So bleibt die gesamte Fahrzeugherstellung im Osten auf ein Geschäftsmodell zugeschnitten, das weder sozial noch ökologisch nachhaltig ist. E-Fahrzeuge allein werden daran wenig ändern. Bevor ein E-Auto auf der Straße steht, hat die Herstellung bereits 20 Tonnen CO2 verbraucht. Jährlich bis zu 70 Millionen neue Pkw auf den Markt zu werfen, kann auch in der elektrifizierten Variante letztendlich nicht nachhaltig sein. 

Das gilt umso mehr, als ungeklärt ist, in welchem Umfang die Energie dafür tatsächlich aus erneuerbaren Quellen stammt. 2020 lag der Anteil der Erneuerbaren am Bruttoendenergieverbrauch in Deutschland bei 19,3 Prozent; die EU-Richtlinie von 2009 zielt auf 18 Prozent. Um 2030, wie geplant, 80 Prozent des Stroms mit erneuerbaren Energien abzudecken, muss die Umstellung dramatisch beschleunigt werden. Im Osten ist davon wenig zu spüren. Die Kanzler-Forderung, jeden Tag sechs neue Windräder an die Netze zu bringen, wird hier weit verfehlt. Ein Vierteljahr nach Verkündigung dieses Ziels ist in Thüringen und Sachsen kein einziges Windrad neu installiert worden. Dabei war Rot-Rot-Grün in Thüringen mit der Devise »Wind im Wald« angetreten. Nun blockiert eine implizite Allianz aus AfD, FDP und CDU nahezu jeglichen Fortschritt.

Ob die Pläne zum Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft daran etwas ändern können, lässt sich keineswegs absehen. Manchen Expert*innen gilt die mithilfe von Wasserstoff gespeicherte Energie, die über weite Strecken netzunabhängig lieferbar ist, als die nachhaltige Lösung. Dagegen spricht, dass grüner Wasserstoff auf absehbare Zeit knapp sein wird und es keinen wirklichen Markt mit langfristig kalkulierbaren Preisen gibt. Hinzu kommt, dass der Wirkungsgrad von Wasserstoff relativ niedrig ist, weil viel Energie benötigt wird, um damit Strom zu erzeugen. Angesichts der Knappheitsprobleme ist die Erwartung, grünen Wasserstoff zur Stromerzeugung überall variabel einzusetzen, völlig unrealistisch (vgl. Müller 2022). So bestimmen letztendlich die Unternehmen, wo die Reise hingeht.

Das gilt auch für den Osten, wo sich ein gemischtes Bild ergibt. So ist im mitteldeutschen Chemiedreieck ein Cluster aus »Leuchttürmen« für Wasserstofferzeugung, -speicherung und -transport versammelt. In Leuna errichtet der Weltmarktführer für Industriegase, Line, die derzeit größte PEM-Elektrolyseanlage (24 MW) weltweit. Im Zuge der strategischen EU-Förderprogramme wird die Infrastruktur mit einer Pipelineverbindung nach Salzgitter und bis hin zur Küste erweitert. In Thüringen hingegen weist die Standortkarte zahlreiche blinde Flecken aus. Die kleinteilige Wirtschaftsstruktur wird mit dezentralen Insellösungen unterlegt.

Der träge Staat – keine Alternative  

Das Wasserstoffbeispiel verweist auf ein Grundproblem der östlichen Peripherie. Alle wollen eine nachhaltige Wasserstoffwirtschaft, doch plant jedes Bundesland für sich, und in einigen der neuen Länder existieren gleich mehrere Wasserstoffstrategien nebeneinander. Das ist misslich, weil so Ressourcen vergeudet werden, was mithilfe einer intelligenten Rahmenplanung vermeidbar wäre. Hier sind Staatsaktivitäten gefragt, die dazu beitragen, innovative Ideen in die Praxis umzusetzen. Dass der Staat stets der schlechtere Unternehmer sei, ist ein Mythos, der von Wirtschaftsvertreter*innen und marktliberalen Politiker*innen immer wieder neu befeuert wird. Die Frage ist aber nicht ob, sondern wie der Staat interveniert. Die Rolle des Staates darf sich künftig nicht darauf beschränken, »im Falle des Versagens reaktiv Märkte zu reparieren«, vielmehr ist ein Staat erforderlich, der »Märkte explizit mitgestalten« kann und »die Richtung bestimmt, in der die Wirtschaft sich entwickelt« (vgl. Mazzucato 2021, 24). 

Hier liegt ein Kardinalproblem der östlichen Peripherie. Die staatlichen Apparate und Behörden sind oftmals mit Beamten und Beschäftigten besetzt, denen der Marktliberalismus in Fleisch und Blut übergegangen ist. Eine Folge ist grassierende industrie- und wirtschaftspolitische Fantasielosigkeit. Politik machen beschränkt sich hier häufig darauf, die Unternehmen zu fragen, was man tun oder lassen könne. Qualifizierung auf Vorrat, das habe die Wendezeit gezeigt, sei überflüssig, ja schädlich, argumentiert etwa die Thüringer Landesentwicklungsgesellschaft (LEG). Über Jahrzehnte operierte die Politik mit reichlich vorhandenen Arbeitskräften, niedrigen Löhnen, billiger Energie und geringer Steuerlast. Andere Mittel der Wirtschaftspolitik kennt man nicht. Konsens herrscht darüber, was es nicht geben darf: mehr Einfluss von Beschäftigten, Betriebsräten und Gewerkschaften. Wenn Betriebsräte eine Stabsstelle für Weiterbildung oder eine Technologieberatungsstelle fordern, mit fachlich kompetentem Personal und aufgeschlossen für die Anliegen von Beschäftigten, folgen Abwehrreaktionen (Michaelis et al. 2023). Von Staatsapparaten mit derart trägen Ausführungsorganen ist wenig zu erwarten.

Keine Industriepolitik ohne soziale Infrastruktur

Die Folge ist ein gravierender Wettbewerbsnachteil der neuen Länder. Selbst das kleine Saarland verfügt über eine ausdifferenzierte Infrastruktur mit einer Arbeitnehmerkammer, die Betriebsräte und Gewerkschaften fachlich berät. In Rheinland-Pfalz gibt es nicht nur einen tripartistisch zusammengesetzten Transformationsrat, sondern auch einen Transformationsminister. Man mag das als »Transformationskorporatismus« kritisieren und auf politische Defizite verweisen. Doch ein solches Modell ist allemal besser als unterlassenes Staatshandeln. Wo es Vergleichbares nicht gibt, wird die Transformation zur Dauerbelastung, die Akteure auf allen Ebenen beständig zu überfordern droht. 

Dabei wären große Schritte in Richtung Nachhaltigkeit durchaus gangbar. Nehmen wir den Sektor Verkehr, wo E-Fahr­zeuge bestenfalls eine Übergangslösung sein können. Zwar wird es Autos – zumal auf dem Lande und in der großstädtischen Peripherie – auch in Zukunft geben, doch der Pkw-Verkehr muss deutlich reduziert und in nachhaltige Mobilitätssysteme eingebettet werden, die kostengünstigen ÖPNV, Fahrrad und den Gang zu Fuß in optimaler Weise kombinieren. Verkehrsreduktion und -vermeidung werden auch andere Sektoren treffen wie den Gebäudesektor und die Bauwirtschaft. Die gesamte Bauweise und Städteplanung muss sich ändern und Autostädte müssen in Orte intelligenter Mobilität verwandelt werden. 

»Industriepolitik funktioniert nicht ohne gut finanzierte soziale Infrastruktur, die Gesundheit, Pflege, Erziehung, Bildung und Mobilität zu öffentlichen Gütern macht.«

Die Liste der Bereiche und Branchen, in denen ein radikaler Umbau erforderlich ist, ließe sich um einiges verlängern. Der Agrarbereich und die Finanzwirtschaft sind ebenso bedeutsam wie der Hochtechnologiesektor, dem eine Scharnierfunktion zufallen könnte. Generell gilt jedoch: Industriepolitik funktioniert nicht ohne gut finanzierte soziale Infrastruktur, die Gesundheit, Pflege, Erziehung, Bildung und Mobilität zu öffentlichen, für alle zugänglichen Gütern macht. Diese Tätigkeiten werden häufig in prekärer Beschäftigung ausgeübt, als Frauen- und migrantische Arbeit abgewertet. Derart festgefahrene Strukturen lassen sich wohl nur mithilfe einer längst überfälligen Care­ Revolution (Winker 2015) aufbrechen, die unabdingbarer Bestandteil einer Nachhaltigkeitswende ist. Den wohlfahrtsstaatlichen Arrangements kommt dabei eine entscheidende Rolle zu.

Ein Umsteuern in Richtung des skandinavischen Wohlfahrtsstaatsmodells reicht heutzutage aber keineswegs aus. Nicht alle notwendigen Sorgetätigkeiten können öffentlich bereitgestellt werden. Darum bedarf es eines selbstbestimmten Mix aus öffentlichen und privaten Sorgeleistungen. Ihr wichtigster Anknüpfungspunkt ist das Zeitregime. Eine kurze Vollzeit von 30 bis 32 Wochenarbeitsstunden im Rahmen einer Viertagewoche würde erwünschte und freiwillige Arbeitszeitverlängerung für Unterbeschäftigte bedeuten, aber auch strikte Arbeitszeitverkürzung für Überbeschäftigte. Der Fach- und Arbeitskräfteknappheit könnten solche Maßnahmen ebenfalls entgegenwirken und sie böten Spielraum für unbezahlte, ehrenamtliche Arbeiten zugunsten von Gesellschaft und Demokratie.

Ökologischer Wohlfahrtsstaat als Übergangsprojekt

Diese Beispiele deuten an, was möglich wäre. Die Realität im Osten bleibt einstweilen deutlich dahinter zurück. Wie lässt sich das ändern? Wohl wissend, dass linke Politik – zumal unter Kriegsbedingungen – über wenig Einflussmöglichkeiten verfügt, beschränke ich mich auf einige Vorschläge. 

Der erste mag überraschen, denn er setzt an den sogenannten weichen Faktoren an und lautet: »Köpfe hochnehmen!« Charakteristisch für viele Regionen der östlichen Peripherie ist das Empfinden, mehrfach abgewertet zu sein – als »Ossi«, prekär Lebende*r, Arbeiter*in ohne Aufstiegsmöglichkeit oder schlicht als Bürger*in »zweiter Klasse«. Linke Politik darf dieses Empfinden nicht verstärken, sie muss im Gegenteil zeigen, dass für eine lebenswerte Zukunft jede*r gebraucht wird. Das heißt nicht, die Lage schönzureden, wie es große Teile der politischen Klassen seit vielen Jahren praktizieren, sondern das Selbstbewusstsein zu stärken und deutlich zu machen, dass Weltgestaltung vor Ort möglich ist – ein Vorhaben, das auch denen eine Stimme geben muss, die ansonsten kein Gehör finden.

Das führt zum zweiten Vorschlag, den ich als »Aufklärung mittels (Weiter-)Bildung« bezeichne. Dabei geht es um mehr als nur um berufliche Fortbildung. Benötigt wird ein gesellschaftlich verbreitetes Wissen um die Vielschichtigkeit und Komplexität der Transformation. In diesem Sinne müssen Bildungseinrichtungen – Schulen, Hochschulen und Universitäten – zu Institutionen einer neuen Aufklärung werden, die systematisch Transformationswissen generieren und vermitteln. Gerade weil unklar ist, welche fachlichen Qualifikationen im engeren Sinne künftig benötigt werden, ist die Vermittlung von außerberuflichen Fähigkeiten, die Offenheit für Transformationsprozesse ermöglichen, von zentraler Bedeutung. Hier könnten die neuen Bundesländer mutig vorangehen. Wichtig wären durchlässige Grenzen zwischen beruflicher Praxis und universitärem Studium, die Aufwertung von Handarbeit durch Ermöglichung von Doppelqualifikationen (Berufsabschluss plus Studium), die Finanzierung der Weiterbildung an Hochschulen durch eine Bildungskarenzzeit nach österreichischem Vorbild sowie die Ausbildung von Transformationslotsen in interdisziplinären Studiengängen.

Eine solche Politik liefe darauf hinaus, die neue Aufklärung mit einem beschleunigten Ende der billigen Dinge – billige Arbeitskraft und billige Natur – zu verbinden. Diese Entwicklung ist bereits im Gange. Der gemeinsame Verkehrsstreik von ver.di und EVG, Lohn- und Gehaltsforderungen über 10 Prozent sowie das strategische Bündnis von Gewerkschaft und Klimabewegung im ÖPNV signalisieren, wie die neue Aufklärung materiell zu erden ist. Werden ökologische Nachhaltigkeitsziele ohne soziale Gerechtigkeitsdimension proklamiert, erscheint dies Beschäftigten mit niedrigen und mittleren Einkommen, denen unter Inflationsbedingungen zusätzliche Verluste drohen, als Versuch einer ideologischen Beherrschung durch privilegierte Gruppen. Wie Lucas Chancel  (2022) in einer bahnbrechenden Studie zeigt, hat zu der Emissionsreduktion von ca. 25 Prozent zwischen 1990 und 2019 vor allem die untere Hälfte der Bevölkerung beigetragen, während die Eliten ihre Emissionen deutlich erhöht haben. Deshalb löste es berechtigte Widerstände aus, wenn ausgerechnet die ärmeren Gruppen die Hauptlast der Transformation tragen sollen. Die Streiks im öffentlichen Dienst klagen zu Recht eine Umverteilung zugunsten »kleiner Geldbörsen« ein, denn Qualität aus nachhaltiger Herstellung hat ihren Preis. »Besser statt mehr – für alle, nicht für wenige« ist das progressive Gegenprogramm zu marktzentrierter Klimapolitik. Gerade im Osten sind höhere Löhne und Gehälter insbesondere für die unteren Einkommensgruppen eine Minimalbedingung, um ein Ausbluten des öffentlichen Dienstes und eine Abwanderung aus schlecht bezahlten Dienstleistungstätigkeiten zu verhindern. Insofern macht es trotz knapper Kassen auch aus kommunaler und Länderperspektive Sinn, gewerkschaftliche Plädoyers für eine Gemeinwohlökonomie nach Kräften zu unterstützen. Mit der Veränderung individueller Konsumgewohnheiten allein ist dabei wenig zu erreichen. 

Stattdessen muss es darum gehen, Investitionsentscheidungen an gesellschaftliche Ziele zurückzubinden und zu demokratisieren. Hier sind besonders dicke Bretter zu bohren, denn die bloße Ausweitung von betrieblichen oder unternehmensbezogenen Mitbestimmungsmöglichkeiten garantiert keineswegs, dass sich Belegschaften für ökologisch nachhaltige Produkte und Produktionsverfahren entscheiden. So ist die Kritik an E-Fahrzeugen in den Betrieben der Fahrzeugindustrien weit verbreitet. Die Schlussfolgerung ist jedoch häufig, noch länger am konventionellen Antriebsstrang festzuhalten. Dem lässt sich entgegenwirken – zum Beispiel mit einem Transformationsgeld, finanziert durch eine Vermögens- und Transformationsabgabe wohlhabender Haushalte und gewinnträchtiger Unternehmungen. Dies würde denen Sicherheit bieten, die ihren halbwegs gut bezahlten Job in einer Karbonbranche verlieren und um ihren Status bangen. 

Ein »ökologischer Wohlfahrtsstaat« (Dörre 2023) könnte zum Leitbild einer Übergangsstrategie werden, die sich mittelfristig als mehrheitsfähig erweist. Eine Stärkung der Daseinsvorsorge und der Nahversorgungsbereiche, der radikale Umbau von Exportindustrien und das Zurückschrumpfen der Rentenökonomie, allen voran des Finanzsektors, wären die Koordinaten für ein solches Programm. Hierin eingebettet ließe sich eine zukunftsorientierte, integrative Industriepolitik verfolgen, die Transformation mit der Aussicht auf eine bessere Gesellschaft verbindet.

Der Osten – Entwicklung statt Schrumpfung

Schrumpfung ist ein untaugliches Rezept für diesen Übergang. Sich selbst überlassen, schrumpfen die meisten ostdeutschen Regionen von allein. Altersbedingt und ohne nennenswerte Zuwanderung verringert sich die Zahl der Erwerbstätigen. Da es einen Arbeitsmarkt in permanentem Ungleichgewicht nicht geben kann, finden die Geschäfte dann in anderen Weltregionen statt. Die Folge wird ein massiver Wohlstandsverlust durch unterbliebene Investitionen sein, der sich allein im Jahr 2023 auf durchschnittlich 7 000 Euro pro Kopf summieren dürfte (Otte 2023). Rezepte, die die Arbeits- und Produktmenge halbieren wollen, um die Klimaziele zu erreichen, würden im Osten selbst dann nicht funktionieren, wenn sie von einem interventionsfähigen Staat durchgesetzt würden, der dem des britischen Kriegskapitalismus gliche (Herrmann 2022, kritisch: Dörre et al. 2022). Von der autoritären Note solcher Rezepturen einmal abgesehen, würden sie zudem nicht nur in der östlichen Peripherie die grundsätzlich misstrauische Haltung gegenüber dem »Nachhaltigkeitstalk« politischer Eliten verstärken. 
Wird regionale Transformation unter Ausblendung sozialer Gerechtigkeit praktiziert, nehmen große Teile nicht zuletzt der Arbeiterschaft des Ostens den ökologischen Diskurs als Instrument ideologischer Beherrschung durch bessergestellte Klassen wahr. Das ist einer der Gründe, weshalb die imaginäre Revolte der radikalen Rechten, die den Klimawandel leugnet oder stark relativiert, mit ihrer fiktiven Aufwertung des Lebens »normaler« Leute im Osten auf überdurchschnittlich große Sympathie stößt. Hier liegt das politische Haupthindernis für einen neuen Aufbruch Ost: Nahezu alles, was die AfD tut, blockiert die Wende nicht nur zu ökologischer, sondern auch zu sozialer Nachhaltigkeit. Das ist fatal, weil die radikale Rechte in den Parlamenten der neuen Länder über eine Sperrminorität verfügt, die sämtliche Spielarten nachhaltiger Industrie- und Infrastrukturpolitik blockiert. »Ausbluten Ost« ist die unvermeidliche Konsequenz dieser Politik.

Ändern lässt sich das nur, wenn sich Politik im Osten – wie auch in allen anderen vom Strukturwandel gebeutelten Regionen – an erfolgreichen Beispielen nachhaltiger Entwicklung und nicht der Schrumpfung orientiert. Hierzu zählt etwa das nordschwedische Skellafteå, wo die gezielte Anwerbung von Migrant*innen sowie antizyklische, gegen Schrumpfung gerichtete Investitionen sowie ein Ausbau der sozialen Infrastruktur für erfolgreiche Entwicklung sorgte (vgl. Schmalz/Hinz in diesem Heft). Kurzum: Politiker*innen wie Thomas Zenker werden im Osten gebraucht. Von links unterstützt man sie am besten, wenn man sie von Marktillusionen, aber auch von naiver Staatsgläubigkeit befreit. Industrie- wie strukturpolitische Konzeptarbeit und die Erprobung von Alternativen in den Nischen des alten Systems, gepaart mit Druck aus Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und regionalen Initiativen, sind dafür kein hinreichender, gleichwohl ein unverzichtbarer Schritt.

[1]  So der Tenor von Diskussionen zu meinen Thesen (vgl. Dörre 2022).

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