Im Zeitalter transnationaler Unternehmen und globaler Finanzspekulation ist eine sozialistische Strategie, die nur oder nur primär auf einen bestimmten Nationalstaat fokussiert, zum Scheitern verurteilt. Gleichzeitig sind breit angelegte Kämpfe um Kontrolle über Nationalstaaten ein grundlegender Teil einer notwendigen internationalen Strategie. Diese Feststellungen sind mein Ausgangspunkt, um auf Costas Lapavitsas (griechischer Ökonom) und seine Forderung nach einem Sozialismus, der „daheim“ beginnen solle, einzugehen.

Wir müssen aus den jüngsten Erfolgen grenzüberschreitender Bewegungen lernen und aus deren charakteristischem Vermögen, die Macht der riesigen Unternehmenslobby herauszufordern – dieses ließ sich erst kürzlich in der Niederschlagung des TTIP-Abkommens zwischen der EU und den USA beobachten.

Im Gegensatz zu den beiden Optionen, die in Lapavitsas‘ Ansatz implizit vertreten werden – eine unabhängige linke Regierung auf Nationalebene oder eine europäische Integration, die als Rezept einer neoliberalen Lösung angesehen wird –, braucht es eine mehrdimensionale Strategie. Der transnationale Charakter der Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen, verweist auf die Notwendigkeit, sich zeitgleich für eine linke Regierung einzusetzen und politische Bündnisse in Europa einzugehen, um gegenüber der Macht von Konzernen und Finanzspekulation soziale Kontrolle aufzubauen. Die Parole muss und statt oder lauten.

Lokal, national, europäisch

In diesem hybriden Ansatz, der die Dichotomie von national versus international hinter sich lässt, kommt dem Lokalen eine essenzielle Bedeutung zu. Lokal an Stärke zu gewinnen und dabei gleichzeitig eine positive Dialektik des Engagements auf nationaler und europäischer Ebene zu erreichen, ist möglich, wie wir anhand all jener Stadtverwaltungen beobachten können, die überall auf dem Kontinent Privatisierungen verhindern oder rückgängig machen und sich international im Netzwerk Furchtloser Städte koordinieren.

Tatsächlich ist das Lokale oder gar der Regionalstaat in Bezug auf Durchsetzbarkeit eine günstigere Ausgangsbasis für sozialistische Veränderung als der Nationalstaat. Letzterer wurde auf Militarismus und dem Schutz des Privateigentums errichtet, um Krieg zu führen; die lokalen Staaten entstanden dagegen primär zur Sicherung sozialer Wohlfahrt und zur Reproduktion menschlichen Lebens unter günstigen Bedingungen für Gesundheit, Bildung und die kulturelle Weiterentwicklung.

Ebenso sollten wir nicht dem Irrglauben erliegen, die EU als eine weitere Institution im Sinne der NATO, also lediglich als eine militärische Allianz, zu betrachten; auch gleicht sie nicht der WTO oder dem IWF, den Disziplinierungsorganisationen des neoliberalen Welthandels. Die EU wurde ursprünglich zur Sicherung des Friedens gegründet und kombiniert marktbasierte ökonomische Integration mit signifikanten Umverteilungsmechanismen, etwa durch regionale und soziale Fonds.

Der 1957 geschlossene Vertrag von Rom, Vorläufer der heutigen EU, ist wie alle Institutionen der Nachkriegszeit voller Widersprüche. Er zielte darauf ab, den Handel und damit die Kapitalbewegung zu vereinfachen. Gleichzeitig sollte er die regionalen Ungleichheiten und das soziale Elend beheben, das – in der Sprache des Kalten Krieges – die Bedingungen für die politischen Extreme geschaffen hatte. So wie Sozialist*innen im Vereinigten Königreich für und gegen das wohlfahrtsstaatliche Abkommen von 1945 arbeiteten und stets nach Möglichkeiten suchten, sich zu radikalisieren und sich dem Druck des Kapitals zu widersetzen, arbeitete auch die Linke auf dem europäischen Kontinent sowohl im Rahmen des Vertrags von Rom als auch gegen ihn, indem sie einerseits Druck aufbaute und andererseits jene sozial und umweltpolitisch schützenden Maßnahmen vorantrieb, die später in die Sozialcharta der EU eingingen.

Die Institutionen sind nicht unveränderlich

Wie die Erfahrung in Großbritannien zeigt, bestand in diesen Nachkriegsdekaden durch Vollbeschäftigung – in einigen Ländern auch vor dem Hintergrund der zentralen Rolle, die die Arbeiterorganisationen beim Sieg über den Faschismus gespielt hatten – eine Machtbalance zugunsten der Arbeitenden, selbst als die moderate Sozialdemokratie die Politik im Allgemeinen dominierte.

Nach der Niederlage der Arbeiterklasse unter Thatcher und Reagan in den späten 1980er Jahren und nach der Sackgasse Mitterrands war die ökonomische Macht zugunsten des Kapitals verteilt. Führende Institutionen, national wie auch auf dem ganzen Kontinent, waren nicht länger dem Druck selbstbewusster und linksgerichteter Arbeiterbewegungen ausgesetzt, die sie zu sozialpolitischen Zugeständnissen nötigten. Die nationalen Siege der neoliberalen Rechten wurden auf europäischer Ebene durch das 1993 geschlossene Maastrichter Abkommen konsolidiert und institutionalisiert. Es schuf die gesetzmäßige Basis einer europäischen Integration durch die marktkonformen, antidemokratischen Prinzipien des Neoliberalismus.

Obwohl diese spezifischen institutionellen Arrangements Produkt eines Prozesses sind, durch den die Machtbalance zugunsten des Kapitals verschoben wurde, sowie Mittel zu dessen Reproduktion, sind sie nicht unveränderlich, sondern können erneut umgebaut werden. Sie sind durch die Neuausrichtung der Arbeiterbewegungim Bündnis mit anderen Gruppen, die von der Austeritätspolitik betroffen sind, angreifbar. Eben diese neuen Kräfte, die sich gegen Austerität und für soziale Sicherungen einsetzen, sind klar erkennbar das Produkt fortschrittlicher Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen: der nationalen, der lokalen und der europäischen.

Für eine hybride Strategie, die all diese Ebenen berücksichtigt, gibt es überdies Ressourcen in den Traditionen der kontinentalen Linken; hinzu kommen strategische Erwägungen, weshalb ein Regierungswechsel in Westminster für das Kräftegleichgewicht in Europa mehr bedeuten könnte als nur einen Personalwechsel im britischen Regierungshaus. Sollte Jeremy Corbyn der nächste Premierminister werden, so könnte er diese neue Position – und ebenso den wachsenden Einfluss der Labour-Partei unter Sozialdemokrat*innen überall in Europa, die sich deren erfolgreiches Modell der politischen Neuerfindung ansehen – nutzen, um die Kräften gegen Austerität auf dem gesamten Kontinent anzuregen.

Ein anderes Europa

Lange vor der jetzigen EU gab es bereits eine andere Vision eines geeinten Europa. Die Idee der europäischen Integration geht auf das Jahr 1941 zurück, noch 16 Jahre vor dem Vertragsabschluss von Rom, und auf eine Gruppe von sozialistischen und kommunistischen Antifaschist*innen, die von Mussolini auf der Insel Ventotene eingekerkert worden waren. Angeführt von Altiero Spinelli verfassten sie das Manifest von Ventotene, einen Entwurf für ein vereintes sozialistisches Europa als „dem einzigen Weg, der aus dem gemeinsamen Dilemma der Beherrschung durch Hitler herausführt“.

Im heutigen Kontext eines neuen gemeinsamen Dilemmas der Austerität und des von riesigen Unternehmensverbänden bestimmten Marktes muss diese sozialistische europäische Tradition in einer modernen, pluralistischen Form zurückgewonnen werden. Es gilt, den europaweiten Niedergang sozialdemokratischer Parteien aufzuhalten, dem sich nur die portugiesischen Sozialist*innen unter António Costa (in einer Koalition mit Parteien zu ihrer Linken) und die Labour-Partei Jeremy Corbyns mit ihrem einzigartigen Erfolg, ihre Mitgliederschaft und Wählerbasis neu aufzubauen, entgegenstemmen konnten.

Corbyn selbst, der sich ohnehin gegen den Neoliberalismus der derzeitigen EU stellt, hat sich dazu verpflichtet, für ein Europa gegen Austerität zu arbeiten. Diese Position machte er zuletzt auf der Gala der Bergarbeiter von Durham deutlich. Seine Rede wurde selbst im Nordosten des Landes – wo zumeist für den Brexit gestimmt worden war – mit Wohlwollen aufgenommen. Sie war mehr als nur ein kurzer Fanfarenstoß – vielmehr machte sie deutlich, dass Corbyn proeuropäischer eingestellt ist, als die Medien durchblicken lassen – wenn auch nicht im konventionellen Sinne.

In seinen ausführlichsten Äußerungen zu Europa – die in erschreckendem Maße von der Berichterstattung unterschlagen wurden – stellt er klar, dass eine Mitgliedschaft in der EU nicht zwangsläufig ein Hindernis für die öffentliche Hand sei, um in die Industrie[beziehungen] zu intervenieren. Ebenso ist er gut informiert über die europäische Sozialgesetzgebung. Beispielsweise sagte er im Februar 2018, dass wir die „Regelungen nicht aufgeben sollten, die uns zur Unterstützung unserer Industriesektoren, zum Schutz der Arbeitenden und der Bewahrung der Natur gute Dienste erwiesen haben“.

Es gibt – parallel zur Frage über den Verbleib oder Austritt aus der EU – eine signifikante Unterstützung aus Großbritannien für diese Vereinbarungen. In einer Befragung sprachen sich etwa 73 Prozent entweder für die Richtlinie zur Arbeitszeitbegrenzung aus oder meinten gar, diese solle erweitert werden, während vier Fünftel eine Kappung der Manager-Boni befürworteten und sich gegen jegliche Lockerung der Standards für Ernährungssicherheit aussprachen. Während der Gala in Durham fand ich diese Standpunkte bestätigt, insofern klar wurde, dass auch Gewerkschafter*innen, die sich für einen Austritt aus der EU stark machen, jene Errungenschaften nicht verlieren wollen, die Bereiche wie Beschäftigungsschutz, Ernährung, Gesundheit und Arbeitsplatzsicherheit betreffen.

Diese und viele andere Schutzmechanismen müssen auf europäischer Ebene bestehen, um ein Gegengewicht zur Macht transnationaler Unternehmen, die inzwischen so groß wie ganze Länderökonomien sind, zu bilden. Insofern könnte ein neuer Ansatz zur Europapolitik an Popularität gewinnen. Dessen grundlegende Essenz wäre ein neugestaltetes Verhältnis eines gegen Austeritätspolitik gerichteten Großbritanniens gegenüber einem Europa der Anti-Austerität: eine Alternative sowohl gegenüber einem Brexit mit deregulierten und freien Märkten als auch gegenüber einer neoliberalen EU.

Ein Europa für die vielen

Als Unterstützerin von Jeremy Corbyns Führung der Labour-Partei und als Mitglied der Organisation Momentum wünsche ich mir, dass Corbyn sowohl mit der portugiesischen und der spanischen Regierung als auch mit den Arbeiterbewegungen und linken Parteien auf dem Kontinent, die Widerstand gegen die Austeritätspolitik leisten, zusammenarbeitet, um eine Strategie für ein sozialistisches Europa zu entwickeln. Wir sollten die Grundsätze des Labour-Manifests von 2017 mit dem Ziel eines „Europa für die vielen“ erweitern.

Bisher standen britische Regierungen an vorderster Front, wenn es darum ging, die EU zu einem Instrument der Marktpolitik zu machen: von der Kritik an Schlüsselelementen der Sozialcharta von Jacques Delors (von Thatcher als „Sozialismus durch die Hintertür“ angegriffen) bis zu David Camerons Veto gegen die Steuer auf finanzielle Transaktionen. Die Varianten des Brexits, für die die Tories werben – sei es ein harter Brexit der Hedgefonds oder ein weicher nach Bauart einer Theresa May –, stehen in der Kontinuität dieses antisozialen Ansatzes.

Allein eine von Corbyn geführte Labour-Regierung stünde dem Erbe dieser desaströsen Politik, mit der das Vereinte Königreich seit mehr als einer Generation geschlagen ist, entgegen. In gleicher Weise, wie New Labour einst die europäische Sozialdemokratie nach rechts verschob, könnte Corbyns Labour Partei sie nun nach links verschieben – zum Beispiel, indem der neue sozialdemokratische deutsche Finanzminister Unterstützung dabei erhält, die Steuer auf finanzielle Transaktionen zurück auf die Tagesordnung zu setzen, und indem derzeit diskutierte Maßnahmen gegen Lohndumping dadurch unterstützt werden, dass Unternehmen mit migrierten Beschäftigen dazu verpflichtet werden, gewerkschaftliche Vereinbarungen einzuhalten und die Löhne des Aufnahmelandes zu zahlen.

Die Labour-Partei verfügt über kohärente nationale Politikansätze zur wirtschaftlichen Entwicklung unter Führung durch die öffentliche Hand. So könnten die Ungleichheiten angesprochen werden, die der Unterstützung für den Brexit im Norden von England zugrunde liegen. Warum sollten solche Grundsätze öffentlicher Produktivität nicht auf einen europäischen Maßstab erweitert werden? Beispielsweise könnte das öffentliche Eigentum der Eisenbahnstrecken Großbritanniens Corbyn dabei helfen, sich für ein europäisches Schienensystem in öffentlicher Handeinzusetzen, das zu vernünftigen Preisen zur Verfügung steht. Dies würde eine Alternative zu Flughafenerweiterungen bieten und die Belastung der Straßen durch Frachtgut reduzieren. Ähnliche europaweite Anwendungsbereiche der Verpflichtungen des Labour-Manifests könnten folgen, wenn dezentral, auf Stadtebene arbeitende öffentliche Unternehmen aus dem Bereich erneuerbare Energien zusammengebracht und die Kooperationen ausgeweitet würden; für beides gibt es schon jetzt beachtliche Unterstützung in ganz Europa.

Eine der Austeritätspolitik entgegengerichtete Vision, die auf Zusammenarbeit und Solidarität beruht, kann den Rahmen für neue Verhältnisse in Europa schaffen. Labour könnte die Konzepte, die das Tory-Referendum von 2016 hervorgebracht hat, radikal neu denken. Solche neuen Verhältnisse müssen vor allem den Handel betreffen. Die Frage ist, welchen Rahmen eine neue Handelspolitik haben soll und welche Trennungen in ihm wirken: Konkurrenz auf dem Markt oder die Erfüllung sozialer Bedürfnisse, sodass der Austausch auf dem Markt öffentlichem und kooperativem Eigentum untergeordnet wird?

Neue Verhältnisse

Die Ausarbeitung neuer Verhältnisse braucht demokratische Debatten, sodass sowohl Befürworter*innen als auch Kritiker*innen des Brexits sich aus der Sackgasse des Referendums herausbewegen. Wir müssen der Weisheit des großen englischen Radikalen John Milton folgen, der in seiner „Areopagitica“ darauf bestand, dass „Wissen dort entsteht, wo viel argumentiert und geschrieben wird und wo viele Meinungen im Spiel sind“.

Der Streit über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens ist bisher keine solche Debatte gewesen. Beide Seiten haben es vielmehr dabei belassen, die jeweils andere anzuprangern. Doch anstelle dessen könnte die Diskussion eine Auseinandersetzung mit paneuropäischen Themen befördern, die in Großbritannien lange Zeit nicht beachtet wurden. Gerade die Labour-Partei ist prädestiniert dafür, die Debatte neu anzustoßen, vereint sie doch Wähler*innen aus beiden Lagern. Die Demokratie in unserer Partei muss die Klugheit anerkennen, zu der jeder und jede Einzelne fähig ist, und die Bedeutung des Abwägens schätzen lernen, um der Wahrheit näherzukommen.

Ein solcher Geist ist in den bottom-up-Prozessen, aus denen sich die neue Wirtschaftspolitik der Labour-Partei speist, bereits spürbar. Die erste Phase der Entwicklung neuer Verhältnisse, welche die Trümmer von Theresa Mays Brexit-Plänen hinter sich lassen, wird Dispute und Debatten mit sich bringen – quer durch die Labour-Partei, Momentum und ihre Verbündeten in der europäischen Linken. Eine neue Politik, die auf dem Glauben an die außergewöhnlichen Fähigkeiten ganz gewöhnlicher Leute aufbaut, verlangt den Bruch mit der Annahme, diese Leute könnten sich nur für ein Ja oder Nein gegenüber den Vorschlägen der politischen Klasse entscheiden. Die künftige Beziehung Großbritanniens mit Europa sollte überall im Land in Nachbarschafts- und Stadtforen diskutiert werden. Um ein Europa für die vielen aufzubauen – eines, das die Vision von Ventotene wiederaufleben lässt –, müssen die vielen aktiv an dessen Schaffung beteiligt sein.

Der Artikel erschien zuerst im Red Pepper. Aus dem Englischen von Corinna Trogisch