Kürzlich wurde ich von einer Berufsgruppe eingeladen, die ich gar nicht kannte, nämlich den staatlich bestellten Vermessungsingenieuren Sachsens. Sie baten mich um das Eröffnungsreferat für ihren Verbandstag. Menschen, die früher einen festen Bestand an Werten, an Institutionen hatten, mit denen sie zurecht gekommen sind und die ihnen die Schritte des Alltags strukturiert haben – sie wussten wohin sie gehen, wen sie ablehnen, wen sie wählen –, suchen jetzt neue Orientierung. Wie schnell diese Dinge in Erosion geraten sind, ist geschichtlich spektakulär und vielleicht einzigartig. An sich ist das, nach unseren geschichtlichen Erfahrungen, eine vorrevolutionäre Situation, d.h. eine Situation, in der alte Blöcke zerbrechen. Baden-Württemberg ist eines von vielen Beispielen, in denen das Verlassen auf eine bestimmte Klientel nicht mehr funktioniert und Institutionen, die vorher als selbstverständlich legitimiert galten, plötzlich ihre Legitimation verlieren. Es ist etwas in Bewegung – was natürlich die erhöhte Gefahr enthält, dass was nicht von links beantwortet wird, rechts versucht wird.
Was können wir aus dieser Krise machen? Meines Erachtens entspricht ein nur pessimistischer Blick auf die Verhältnisse nicht der Wirklichkeit. Wohl aber die Frage: Was ist zu tun, wie kommt man da raus? Ich habe die Frage so gestellt: Warum sind Krisenzeiten so selten Erkenntniszeiten (vgl. Sozialismus 4/2011)? Es ist nicht so, dass man nach dem Brecht’schen Motto sagen könnte, »wer seine Situation erkannt hat, wie ist der aufzuhalten«. Selbst wenn sie erkannt wird, ist nicht zu erwarten, dass sofort gehandelt wird. Aber diese Krisensituation in Zusammenhängen zu berechnen, die mit der gesellschaftlichen Struktur zu tun haben, wäre eine wesentliche Aufgabe auch der Linken, linker Gruppierungen und Intellektueller. Es sind ja nicht die Utopisten, die uns an den Rand des Abgrunds gebracht haben, sondern es sind die Realpolitiker, auf allen Ebenen. Also ist für uns die Frage, was eigentlich Realität ist? Sind 750 Milliarden Euro Schutzschild eine Fiktion, oder ist das die Realität, ist das unser doppelter Staatshaushalt, der hier verpfändet wird? Und der möglicherweise auch kassiert werden kann, wenn es in einer zweiten Runde schief geht. Das heißt, die Frage, was unter diesen Bedingungen Realität ist, ist für mich ein wesentlicher Punkt. Ich betrachte meine Aufgabe nicht so sehr darin, Ratschläge zu erteilen, sondern auf bestimmte Dinge hinzuweisen, von denen ich glaube, dass sie zu einer unterschlagenen Wirklichkeit gehören. Es wird Tag und Nacht getalkt. Man braucht nur das Fernsehen anzuschalten und hat eine Talkrunde im Auge. Es wird viel geredet in dieser Öffentlichkeit, aber nicht strukturiert auf Probleme, von denen ich meine, dass sie von uns ins Zentrum gerückt werden müssten. Der Kapitalismus hat nie ohne Bremsen, ohne Gegenkräfte, ohne countervailing powers existiert. Die bürgerliche Öffentlichkeit ist nicht einfach eine kapitalistische Öffentlichkeit, sondern hier werden Grundrechte und Öffentlichkeitsrechte formuliert. Die Arbeiterbewegung übernimmt gewissermaßen dieses emanzipatorische Erbe des Bürgertums und baut Barrieren gegen die Logik des Kapitals. Wo der Sozialstaat, der eine solche Barriere ist, wie gegenwärtig geplündert wird, wird das, was kapitalistische Logik ist, immer stärker freigesetzt von entgegenwirkenden Kräften. Das macht für mich die neue Globalisierung aus. Diese gegenwärtige Krise verdeckt im Grunde eine strukturelle Problemsituation der Arbeitsgesellschaft. Die Sozialutopisten, die Arbeitsutopisten der ersten Stunde wie Campanella und Bacon haben davon geträumt, dass die technologische Entwicklung dazu dienen kann, den Menschen von schwerer Arbeit zu entlasten. Arbeitszeitverkürzung ist das emanzipatiorische Minimum, an dem sie arbeiten, der eine zehn Stunden, der andere acht Stunden, um Lebenszeit zu gewinnen. Wenn diese Utopisten sehen würden, was in unserer Gesellschaft abläuft, dass wir das Tausendfache von dem produzieren könnten, was sie erträumt haben (was auch Marx erträumt hat), und wir uns trotzdem Tag und Nacht mit ökonomischen Standortproblemen befassen! Was für eine kranke Gesellschaft! Auf verschiedenen Ebenen vollzieht sich, dass im Grunde die Überproduktion, die Reichtumsproduktion das Problem geworden ist und nicht eine Ökonomie des Mangels. Was ist ökonomisch und was ist nicht ökonomisch? Es handelt sich um einen Kampfplatz zweier Ökonomien. Eine Veränderung des Begriffshorizontes wäre notwendig, die ermöglicht zu sagen, dass im Augenblick eine ökonomische Verschwendung auf allen Ebenen abläuft. Eine Ökonomie des ganzen Hauses, also eine Ökonomie, die auch zukunftsfähig wäre, müsste auch von der Linken formuliert werden. Wir müssen den Begriff des Ökonomischen und darin den Begriff des verengten ökonomischen Versuchs, Krisenlösungen betriebswirtschaftlich zustande zu bringen, an den Anfang unserer Kritik der bestehenden Arbeitsgesellschaft stellen. Denn die Rationalisierung der Warenproduktion ist ein Prozess, der nicht aufzuhalten ist. Wenn die Warenproduktion immer stärker das hervorbringt, was den gesellschaftlichen Reichtum ausmacht, und wir nicht damit rechnen können, dass es ein Drittes gibt, das die Kompensation der verlorengegangenen Arbeitsplätze zustande bringt, verengt sich der Boden, auf dem die Gesellschaft existiert, beständig. Es ist ja nicht so, dass die tertiäre Gesellschaft zu Arbeitsplätzen führt – Banken, Handelsgesellschaften, Warenhäuser unterliegen demselben Rationalisierungsprozess. Wir müssen dagegen die Idee einer Gemeinwesenarbeit als Alternative auffassen. Finanziert durch das Gemeinwesen oder staatlich gelenkt, muss die Entkoppelung von Gemeinwesenarbeit und Warenproduktion sichtbar werden. Betriebswirtschaftliche Rationalität hat den Begriff der Wohlstands- ökonomie so aufgezehrt wie nie zuvor. Was bedeutet das für die Handlungszusammenhänge? Die Frage »wo sind eigentlich unsere Handlungsbereiche?« stellt sich nicht mehr im Sinne eines erwarteten Gesamtsubjekts. Es reicht auch nicht zu fordern, die Gewerkschaften müssen ihre Mandate erweitern – was ich immer fordere. Es scheint, als wäre die Diskussion der Krise auch in den Gewerkschaften sehr aufgerissen. Es war eine neue Erfahrung, von der IG Metall eingeladen zu werden, einen Vortrag zu Utopie zu halten. Eine zweitägige Diskussion mit Betriebsräten, die brisant gewesen ist.
Der Appell an die vorhandenen Institutionen reicht nicht mehr. Eine Rückwendung zu übersichtlichen Handlungsbereichen ist die einzige Alternative, die wir gegenwärtig haben. Dass Lehrer, wenn sie einen Schnaps getrunken haben (und bei Hochschullehrern ist das nicht anders), über die BolognaReform herziehen und sich gleichzeitig als willfährige Vollzugsbeamte des gleichen Prozesses verstehen, ist skandalös auf allen Ebenen. Diejenigen, die mit einer offenen Kritik an diesem Bolognaprozess gewonnen werden könnten, können kein Vertrauen in diese Leute fassen.
In einer Gesamtschule waren 500 Abiturienten versammelt, die in einer Reihe Vorträge hörten (ich sprach dort über Bologna). Sie waren dankbar, kritische Punkte zu hören, die auch umsetzbar sind. In den Schulen und Universitäten, in den Betrieben, in allen Bereichen sind die Handlungszusammenhänge wichtig, die für den Einzelnen überschaubar sind. Das ist nicht die Auffassung von Margaret Thatcher (»Ich sehe nur Einzelmenschen, ich sehe keine Kollektive«). Dort, wo wir handeln und stehen und reden, müssen wir die Funktion erfüllen, dass sich andere daran orientieren können. Es spielt eine Rolle, ob in einer Schule fünf oder sechs Lehrer aus einem großen Kollegium von 200 da sind, die sagen, »wir machen das nicht mit, das ist eine Zerstörung von Bildung, das ist ein verständnisschwaches Lernen, was hier angeblich im Sinne der Vergleichbarkeit durchgesetzt wird«. Das gilt ganz ähnlich für die Familie. Fast 50 Prozent der Kinder in den Vereinigten Staaten wachsen bei einem Elternteil auf, die europäische Situation ist nicht viel anders. Trotzdem behält die Familie eine Art utopischen Gehalt. In der Shell-Studie spielen Familienverhältnisse eine große Rolle. Die befragten Jugendlichen sagen, die Erziehung, die sie durch ihre Eltern genossen haben, war ganz in Ordnung, und sie würden ihre Kinder genauso erziehen. In der pädagogischen Diskussion ist mit der Rückkehr der autoritären Entwicklung gleichzeitig etwas anderes aufgebrochen. Das wahrzunehmen, also die Krisenherde zu Handlungsfeldern zu machen, ist meines Erachtens ein wichtiger strategischer Punkt. Die Krisenherde sind verschieden: Die Bankenkrise, die Schulkrise oder die Familienkrise als Krisenherde sind nicht einfach auf einen Nenner zu bringen. Sich auf derartige Analysen der Krisenherde einzulassen, bedeutet auch, für jeden Krisenherd ein spezifisches Handlungsfeld zu entwickeln. Das klingt ein wenig spontaneistisch, und es ist ein altes Problem der Verknüpfung von Allgemeinem und Besonderem in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, weil die Frage ist, wie sich aus diesen partikularen Zusammenhängen ein Ganzes entwickelt. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, die Marx’sche Theorie einfach in unsere Zeit zu übersetzen. Aber sie muss einen zentralen Stellenwert in der Wiederbelebung theoretischer Reflexion haben, genauso wie, wenn man über Bürokratien reden will, die Max Weber’schen Grundlagentexte zu Rate gezogen werden müssen. Wir sollten wieder anfangen, Theorie als zur Orientierung neigendes Wissen zu nehmen und nicht versuchen, sie umzusetzen. Theorie hat die Funktion der Orientierung der Praxis und nicht des Umsetzens in die Praxis. Theoriebildung ist zunächst einmal, auch unabhängig von der Möglichkeit der praktischen Umsetzung, ein Element des »optimistischen Zugangs« zu den Verhältnissen im Sinne Gramscis. Die Theorie und die Analyse haben die Aufgabe, die schlechtesten Möglichkeiten nicht auszuschließen. Es ist unsere Aufgabe als Intellektuelle, die Risse und die Brüche in der Gesellschaft sichtbar zu machen und darauf Handlungszusammenhänge anzusetzen.
Diese Feinarbeit im Politischen ist wiederzugewinnen. Die Aufgabe ist, anzuregen, sich weiterzuentwickeln, nicht im Konzept des ökonomischen Selbst, sondern den Marx’schen Entfremdungsbegriff wieder in die Diskussion bringen. Denn natürlich sind Entfremdung und Selbstentfremdung wichtig. Marx’ Analysen aus dem Kapital sind hier wichtig: Die Subjekt-Objekt-Dialektik, dass über das Subjekt nicht gesprochen werden kann, ohne über die Objekte zu sprechen und umgekehrt. Wir haben es immer mit subjektiv-objektiven Verhältnissen zu tun. Vielleicht ist das ein Hinweis darauf, dass wir es mit einer gesellschaftlichen Situation zu tun haben, in der die kapitalistische Wirtschaftsmacht auch Teilrealitäten von uns selbst ausdrückt. Wir könnten nicht einfach sagen, »das wollen wir so nicht«, sondern die Trennungsprozesse laufen auf ganz anderen Linien. Einhalten, innehalten, die Reflexionsebene vergrößern und nicht zu schnell sagen »wir müssen etwas tun«, sondern die Reflexion selber als eine Form der Praxis begreifen. Die Utopien und ihren Wahrheitsgehalt zu bestärken, überhaupt viel stärker überschreitendes Denken zu üben, halte ich gegenwärtig für notwendig. Ich weiß, dass sind Pastoralreden, und im Augenblick verstehe ich mich auch ein wenig als Reiseprediger, weil wir im Augenblick eher in der Minderheit sind: Eine idiotische Situation wie die von Guttenberg z.B. führt nicht dazu, die kulturelle Hegemonie der Linken zu erweitern, sondern die Ursachenverbindung wird Germanisten, Sprachforschern und Medienleuten überlassen. Es ist unglaublich, das Bueb mit seinem Blödsinn einer Gehorsamspädagogik in kürzester Zeit 15 oder 16 Auflagen hat oder dass Sarrazin über eine Million Bücher verkaufen kann. Und dass dieser Baring in allen Fernsehdebatten sagt, das sei ein seriöser Essay. Das Verständnis dafür, was Vorurteile sind, ist verloren gegangen. Das sind auch selbstverschuldete Rückbildungsprozesse der Intellektuellen. Das wird nicht nur von außen angetan, es ist auch selbstverschuldet. Intellektuelle Elemente zu erhalten und zu stärken – dagegenhalten ist entscheidend. Es ist nämlich nicht völlig auszuschließen, dass einmal hegemoniale Situationen für uns entstehen.
Redaktionell bearbeitete Fassung des Vortrages zur Jahrestagung der Loccumer Initiative »Auf der Suche nach dem politischen Subjekt« vom 1.4.2011