Situation und Szenarien
Die Redaktion der Zeitschrift orientierte sich zu den Bundestagswahlen 2013 an der empirischen Untersuchung des »Rheingold Institut«: »Der Wunsch, das bedrohte Paradies Deutschland aufrechtzuerhalten, eint derzeit die politischen Lager. Parteiübergreifend geben 81% der Wähler an, dass soziale Gerechtigkeit das primäre Ziel der Bundesregierung sein sollte. Und 78% der Wähler stimmen der Aussage zu, dass Deutschland in Europa stärker seine eigenen Interessen wahren sollte. Und umgekehrt stimmen nur 37% der Wähler der Aussage zu, dass sich Deutschland in Zukunft stärker in die europäische Gemeinschaft integrieren sollte. Es gibt allerdings große Unterschiede in den Vorstellungen der Wähler, wie der paradiesische Zustand langfristig erhalten werden kann und welches Bild Deutschland in Zukunft abgeben soll… Kein Politiker verkörpert derzeit das Versprechen von Schutz, Konstanz und Zeitlosigkeit stärker als Angela Merkel… Das Schreckgespenst der Krise lauert immer noch vor den Grenzen Deutschlands… In einer Aggressivität, die in den letzten 25 Jahren in rheingold-Studien noch nicht beobachtet wurde, wird angeprangert, dass ›das eigene Geld im Süden versickert‹, dass ›Zuwanderer‹ und ›soziale Randgruppen‹ ›Geld von Vater Staat geschenkt bekommen‹. Man grenzt sich pauschal von den ›Harzern oder Sozialschmarotzern im eigenen Land‹ ab, die nicht bereit sind, selber zu arbeiten… Die auffällige Zunahme von Ressentiments zeigt die Untiefen, die sich derzeit in einem Land und in einem Wahlkampf zeigen, in dem vordergründig betrachtet gilt: ›still ruht der See‹. Die Zunahme von Ressentiments ist psychologisch verstehbar vor dem Hintergrund der Ohnmachtsgefühle, die viele Menschen verstärkt seit der Krise erleben. Sie sehen sich konfrontiert mit einer abstrakten und globalen Gefahr, die weder fassbar, weder wahrnehmbar noch durch eigene Kraft abwendbar erscheint. „Bei diesen globalen Wirtschaftskrisen blickt doch keiner mehr durch, da sind selbst die Politiker und die Banken machtlos.« (rheingold institut 2013) Diese Befunde entsprachen den Ergebnissen unserer eigenen empirischen Studien (Detje u.a. 2011 und 2013): Was wir 2010 in den Interviews und Gruppendiskussionen fanden, bezeichneten wir als »adressatenlose Wut«. In »Krisenerfahrungen und Politik« fanden wir einen spezifischen Transformationsmechanismus: Adressatenlose Wut wird gleichsam aus dem ökonomischen Feld neu adressiert an »die Politik« – und zerschellt an den Klippen den politischen Feldes. Das tut sich in rabiaten Missachtung- und Zurücksetzungserfahrungen kund. Die Ängste, Sorgen und Nöte »kommen nicht durch« (»was wissen die schon von den kleinen Leuten«), Statusunterschiede erweisen sich als Kommunikationsgrenzen (»die schauen uns nur mit dem Arsch an«), was verstärkt wird durch Selbstexklusion (die aber durch die feldspezifischen Zugänge und die Distinktion von Profis und Amateuren systembedingt ist). Was wir beobachteten: Die zuvor adressatenlose Wut findet ihren Adressaten in den politischen Eliten – nicht als Lösung, sondern als Spiegel und damit reflexible Verstärkung der Wut. Damit war ein offenes Scheunentor für rechten Populismus benannt. Inzwischen wurde eine Adresse gefunden, bei der der Protest abgegeben werden kann: Seit 2014 brach sich auch in der »Berliner Republik« die adressenlosen Wut und das aufgestaute Ressentiment Bahn und drückt sich in den inzwischen überall fast zweistelligen Wahlergebnissen der AfD aus. Insgesamt lassen sich aktuell folgenden Tendenzen erkennen:- Erosion im bürgerlichen Lager
- Keine Erholung bei der Sozialdemokratie
- Aufstieg der AfD
- Veränderung des gesellschaftlichen Klimas und Verrohung der Diskurse
- Und: die Gesamtkonstellation ist fragil, so dass in kurzer Zeit erhebliche Verschiebungen in den politisch-gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen möglich sind.
Die Krisenkaskade ist nicht zu Ende
Eingebettet ist diese Entwicklung in das eher gewachsene Krisenpotenzial der Globalökonomie. Seit Anfang des Jahres 2016 leidet die Weltwirtschaft unter einem erneuten Schub massiver Volatilität der Finanzmärkte, der von stark fallenden Preisen für Aktien und andere riskante Anlagen geprägt ist. Wir haben es mit einer neuen Phase der Verwerfungen im Finanzsystem zu tun. Zwar ist speziell der Bankensektor mittlerweile durch Brandmauern besser abgetrennt von der restlichen Wirtschaft. Entscheidend für die aktuellen Spannungsentladungen ist die Diskrepanz zwischen der schwachen Konjunkturentwicklung – vor allem in den Schwellenländern – und der gestiegenen Kreditexpansion. Es ist allerdings reichlich oberflächlich, von einer automatischen Bereinigung der Spannungsentladung durch die Märkte auszugehen. Nach Jahren einer Dauerkrisenpolitik sind die Handlungsspielräume der Zentralbanken ziemlich klein geworden. Ein weiteres Absenken der bereits jetzt negativen Zinsen wäre im Euro-Raum vor dem Hintergrund der Lage bei den Banken sehr problematisch. Die Zentralbanken können zwar nach wie vor stabilisierend eingreifen, aber sie können die bestehenden strukturellen Probleme nicht lösen – weder im Bankensystem noch bei den Staaten. Die Realwirtschaft in den meisten kapitalistischen Haupt- und Schwellenländern ist seit der Großen Wirtschaftskrise 2007/8 unzureichend von Risiken befreit worden. Trotzdem stiegen die Vermögenswerte mit der Unterstützung zusätzlicher Lockerungen durch die Zentralbanken in immer neue Höhen. Die Frage ist, wie lange Wall Street und Main Street noch auseinanderklaffen können. Ohne schöpferische Zerstörung in kränkelnden Branchen haben Anleger schlicht den Preis solider Vermögenswerte in die Höhe getrieben. Diese dienen nun als Ausgleichsventil, insbesondere in Ländern mit hohen Nettoersparnissen. Die Kehrseite der fallenden Zinsen in Europa und den USA zeigt sich daher in aufgeblähten Vermögenspreisen und einer allgemeinen Jagd nach Renditen. So sind beispielsweise die Entwicklungen auf den Wohnimmobilienmärkten, wo geringe Hypothekenzinsen in verschiedenen Segmenten zu einer zunehmenden Überbewertung geführt haben, durchaus besorgniserregend. Der marxistische Historiker Eric Hobsbawm hatte bereits 1984 auf das folgenreiche »Ende des Aufstiegs der Arbeiterbewegung« hingewiesen. Den Wahlsiegen von Thatcher und Reagan folgte der epochale Triumpf des Neoliberalismus, für die eben auch eine entsprechende Umwälzung der ökonomischen Verhältnisse geschaffen wurde. Der Finanzmarkt-Kapitalismus – eine Mixtur aus Kapitalmobilität, Kreditexpansion, Digitalisierung der Unternehmenswelten und dem Pooling von Kapital in Versicherungs- und Rentenfonds – schafft eine beschleunigte Kapital- und Geldkapitalakkumulation. In diesem veränderten Kontext hatten Regulierung, öffentliches Eigentum und Verstaatlichung keine Chance. Die Vertreter einer Stärkung der Marktkräfte begannen, in Komplizenschaft mit der Politik – auch der sozialdemokratischen –, ihren Siegeszug, der bis zur großen Krise von 2007/2008 anhielt. Ein Systemabsturz infolge dieser Krise wurde durch die Notenbanken und durch staatliche Interventionen in großer konzertierter Aktion verhindert. Doch der gekauften Zeit folgte keine durchgreifende Krisenbereinigung, aus Angst vor großer Kapitalzerstörung mit verheerenden sozialen Folgen. Jetzt sind Teile des wirtschaftlichen und politischen Establishments durch die Politik des »weiter so« verstört. Die anhaltenden Interventionen der EZB hätten de facto die Aussichten auf bedeutende »Reformen« der Arbeitsmärkte und Rechts-, Sozial- und Steuersysteme in Europa massiv behindert. Die Anleihekäufe hätten zwar tatsächlich zu einer Verringerung der Risikoaufschläge für Anleihen der Peripherieländer geführt – letzten Endes wären dadurch die Aussichten auf das, was »Reformen« genannt wird, faktisch aber auf die gesellschaftliche Zerstörung hinausläuft, fast zunichtegemacht. Zwar sollten die sinkenden Zinssätze die Aktivität in der Realwirtschaft ankurbeln, doch bleiben Anlagemöglichkeiten aufgrund mangelnder Strukturreformen und ausbleibender schöpferischer Zerstörung in ineffizienten Branchen weiterhin rar. Die Klage über das Ausbleiben schöpferischer Zerstörung hat einen Hintergrund: Die kapitalistischen Gesellschaften mutieren zum »Crony Capitalism«: ineffizient, ungerecht und korrumpierend. Teile des Establishments wissen, dass sich cronyism – trotz der angeblichen Wertschätzung wirtschaftlicher Freiheit – als normale Praxis vieler Unternehmer, Wirtschaftsbosse und politischer Führungspersonen etabliert hat – einschließlich solcher aus dem konservativ-marktliberalen Lager. Der Schaden, den dieser Klientel-Kapitalismus der Wirtschaft zufügt, ist beträchtlich. Diese Form des Wirtschaftens erzeugt aber auch erhebliche politische Probleme, mit denen die westlichen Demokratien zu kämpfen haben und die sie nicht mehr beherrschen – den Rechtspopulismus.Möglichkeiten für strategisches Handeln für die Partei DIE LINKE und der Linken in Deutschland insgesamt
Wir sind mit einem Wandel in den politischen Kräfteverhältnissen in Europa konfrontiert. Bis vor wenigen Jahren wurde die euroskeptische und EU-kritische Bewegung von den linken Strömungen dominiert. Neben der Ablehnung oder der Forderung nach einem Exit für verschiedene Länder ging es um keynesianische Alternativen zur Wirtschaftspolitik und zur Rolle der europäischen Zentralbank. In den letzten Jahren wurden die Konstruktionsschwächen der Europäischen Union, besonders aber der Eurozone deutlich. Immer mehr BürgerInnen begreifen sich als VerliererInnen der Entwicklung in der EU und der Eurozone. Mit dem Brexit droht die Europäische Union ihre Legitimationsgrundlage zu verlieren. In vielen Ländern der EU sind rechtspopulistische und nationalistische Kräfte in der Offensive. Die im letzten Jahr verstärkt einsetzende Flüchtlings- und Migrationsbewegung entzweit Europa. »Die Kritik an der EU wächst, sie wird aber in den meisten Ländern von rechts dominiert. DIE LINKE muss daher gerade in dieser Frage klar von den Rechten unterscheidbar sein. Sie sollte eine deutliche und radikale Kritik der neoliberalen, imperialen und undemokratischen Verfasstheit der EU formulieren, die sich nicht auf oberflächliche Eliten- und Währungskritik beschränkt. Linke EU-Kritik muss die Verletzung der sozialen (Überlebens-)Interessen der Mehrheit der Menschen durch die neoliberale EU und die ihr zu Grunde liegenden gegenwärtigen Klassen- und Herrschaftsverhältnisse des neoliberalen Kapitalismus in den Mittelpunkt stellen. Die Rechtspopulisten wenden sich zum Teil gegen den Euro – in der AfD ist aber umstritten, ob sie gegen den Euro ist oder in erster Linie die ›deutsche‹ Dominanz innerhalb der EU verstärken will. Die rechtspopulistischen Kräfte changieren zwischen Neoliberalismus und dem nationalistischen Ethnopluralismus der Neuen Rechten... Die Befürworter_innen einer Rückkehr zu nationalen Währungen oder eines anderen europäischen Währungssystems koordinierter nationaler Währungen – prominent vertreten von den Sozialdemokraten Heiner Flassbeck, Wolfgang Streeck sowie in der europäischen Linken unter anderem von Jean-Luc Melenchon, Stefano Fassina, Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht – setzen angesichts der berechtigten Kritik an den undemokratischen Institutionen der EU auf die Stärkung des Nationalstaates. Die Rückkehr zu nationalen Währungen soll Spielräume für eine stärker nachfrageorientierte Politik der Nationalstaaten im Interesse der Beschäftigten, RenterInnen und Erwerbslosen eröffnen.« (Riexinger 2016; siehe dazu auch Busch u.a. 2016) In der letzten Zeit dominieren die rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien die europhobe Stimmung. Die Wählerschaft und der politische Einfluss der linken Parteien und Strömungen mit ihrem Anti-Euro und Lexit-Diskurs schrumpft dramatisch. Die rechtspopulistischen Parteien können ihren Anti-Euro und Anti-EU Diskurs verbinden mit den Stimmungen gegen die Globalisierung und den anwachsenden fremdenfeindlichen Bewegungen. Die Hemmschwellen gegenüber der rassistischen und EU-kritischen Argumentation seitens der Parteien der neuen Rechten sind deutlich herabgesetzt, so dass in vielen Ländern der inszenierte Gestus vom mutigen »Tabubruch«, also die Selbstinszenierung als politische Akteure, die aufräumen mit der moderierenden Sprache und den Verkehrsformen der liberalen, Interessen vermittelnden und Rechte garantierenden parlamentarischen Demokratien, in offene Gewalt gegen die Schwächsten umschlägt. Ein wesentlicher Faktor für die Herabsetzung der Hemmschwellen ist die direkte oder indirekte Beteiligung dieser Parteien an den Regierungen. Jedes Mal wenn eine der europhoben und fremdenfeindlichen Parteien an der Regierungsgewalt beteiligt wird, wird nicht nur der Zerfall der EU beschleunigt, es erhöht sich auch die Gefahr für internationale Konflikte. Es wäre jedoch ein fataler politischer Fehler, den Rechtstrend und die davon ausgehende Zerstörung der Kulturen des demokratischen Kapitalismus mit den faschistischen Erscheinungsformen des 20. Jahrhunderts gleichzusetzen. Wir müssen diese Formen der »Postdemokratie« analysieren, indem wir einen neuen konzeptionellen Bezugsrahmen entwickeln. Dies ist die Bedingung für eine wirksame politische Auseinandersetzung. Die weit verbreitete Wahrnehmung, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland zu groß sei, kann als Reaktion auf die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung verstanden werden, denn in Deutschland und der EU ist die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen. Die ebenfalls in der Bevölkerung weit verbreitete Ansicht, dass das Ausmaß der sozialen Ungleichheit der wirtschaftlichen Entwicklung schade, wird von jüngeren Studien internationaler Organisationen untermauert. Eine breite Mehrheit der Bevölkerung sieht – über alle politische Lager und soziale Schichten hinweg – die soziale Ungleichheit in Deutschland nicht nur als zu groß, sondern auch als schädlich für die wirtschaftliche Entwicklung an. Dies bedeutet eine Abkehr vom langjährigen Mantra einer Schädigung der Wirtschaft durch zu große soziale Gleichheit und deckt sich mit Befunden internationaler Organisationen wie der OECD oder des IWF zum Einfluss von Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum. Die Ergebnisse der Befragung zeigen auch: Sofern man den BürgerInnen konkrete Maßnahmen zur Reduzierung der sozialen Ungleichheit vorstellt, gibt es eine recht hohe Zustimmung für viele Maßnahmen, nicht zuletzt für Steuern auf hohe Vermögen und Erbschaften.Gibt es konkrete Ratschläge für die Organisationsentwicklung, im Umfeld der Partei DIE LINKE oder bezogen auf die Kooperation mit anderen politischen und sozialen Kräften?
Bevor diese Fragen diskutiert werden sollten, müsste als eine Schlussfolgerung aus den vorherigen Punkten zunächst die Frage gestellt und Schritte zu deren Beantwortung entwickelt werden, wie der rechtspopulistischen Herausforderung zu begegnen ist. Jede Strategie-Konzeption, in der die Krise des Finanzmarktkapitalismus, der cronyism, und damit die rechtspopulistischen Affekte und Ressentiments, nicht im Zentrum stehen, ist theoretisch unzulänglich und politisch gefährlich. Es gibt kein Patentrezept oder einen Universalschlüssel. Rechtspopulismus ist ein Phänomen des Ressentiments, d.h. der Verschränkung von rationaler Einsicht und spezifischem Blick auf die soziale Spaltung und das Establishment, daher haben wir es mit einer »Verschiebung« auf den Sündenbock »Die Fremden« zu tun. Wichtig in der Abgrenzung:- Die Angriffe auf den Sündenbock (Fremde, Islam etc.) müssen zurückgewiesen werden.
- Es gilt, die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Ungleichheit hervorzuheben.
- Schließlich geht es um einer Bekräftigung der Notwendigkeit einer Erneuerung der »Politik«, auch wenn diese weit über das eigentliche politische Feld hinausgeht und bisherige Politik- und Parteiformen auf den Prüfstand müssen.
- Der gewichtigste Grund liegt erstens in der Logik des politischen Feldes. In ihm ist nach Laien und Professionellen sortiert: »Je mehr sich ein politischer Raum verselbständigt, desto mehr entwickelt er seine eigene Logik, desto mehr tendiert er dazu, nach den dem Feld inhärenten Interessen zu funktionieren, und desto größer wird der Bruch mit den Laien.« (Bourdieu 2001: 47)
- Dies wird zweitens verstärkt die weitergehende Verselbständigung des politischen Feldes im Zuge der gesellschaftlichen Spaltungen des Finanzmarktkapitalismus, damit jenen postdemokratischen Entwicklungen, die eine sozial gespaltene Demokratie (Schäfer 2014) zur Folge haben, in der das gesellschaftliche »Unten« nicht nur keine Sprecherfunktion in den politischen Apparaten mehr hat, sondern sich aus der Erfahrung der sozialen Exklusion auch durch Wahlabstinenz selbst exkludiert.
- Drittens erfolgt der weitere Verstärkungsprozess einer Abschließung der Institution Partei im politischen Feld durch die Veränderung der politischen Kommunikation: War es einst – wenn auch nur in idealer Weise – etwa in der SPD der sprichwörtliche »lebendige Ortsverein«, der für politische »Verständigung« nicht nur von Oben nach Unten, sondern auch unter den »Laien« sorgte, so sind es heute die Massenmedien und in immer stärkerem Maße die digitalen Netze; deren Kommunikation ist aber mehr als je von Oben nach Unten bzw. aktivistengesteuert ausgerichtet.
- Damit wird viertens der Status der Laien zementiert, was sich nicht nur in der Erschöpfung des parteipolitischen Interesses und damit im Rückzug aus dem politischen Feld, sondern letztlich in Wahlabstinenz artikuliert. Die Folge dieser filternden, aussiebenden und ausschließenden Etappen ist: Eine Auseinandersetzung darüber, was den Absturz z.B. der sozialdemokratischen Partei begründet, wie er möglicherweise umgekehrt werden kann und wo Zukunftspotenziale liegen, wird in einem Maße gefiltert, dass eine Verständigung von Unten nach Oben weitgehend blockiert ist. So ist es möglich, dass nach den Regeln der politischen Eliteauslese ein Machiavellist wie Olaf Scholz als potenziell nachfolgender SPD-Vorsitzender und Kanzlerkandidat »ins Spiel« kommen kann.
- Hinzu kommt fünftens eine spezifische Verarbeitung neokonservativer respektive neoliberaler Hegemonie im Verhältnis von Individualität und Klasse. Für die alte Sozialdemokratie bestand das ungelöste Problem lange Zeit darin, dass Fortschrittspotenziale des Kapitalismus – erweiterte Kompetenz, Subjektivität, Antriebe zur Autonomie – unter einer bürokratischen Sozialstaatlichkeit ignoriert wurden. Der Neoliberalismus fand hier unter den Kritikern des bürokratisierten Sozial- und Steuerstaats mit dem Appell an das Individuum ein offenes Scheunentor: Selbststeuerung, freigesetzt aus Bürokratie, konnotiert mit Marktsteuerung.[3]
Literatur
Pierre Bourdieu (2001): Das Politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz. Klaus Busch/Axel Troost/Gesine Schwan/Frank Bsirske/Joachim Bischoff/Mechthild Schrooten/Harald Wolf (2016): Europa geht auch solidarisch! Streitschrift für eine andere Europäische Union, Hamburg. Richard Detje/Wolfgang Menz/Sarah Nies/Dieter Sauer (2011): Krise ohne Konflikt? Interessen- und Handlungsorientierungen im Betrieb – die Sicht von Betroffenen, Hamburg. Richard Detje/Wolfgang Menz/Sarah Nies/Dieter Sauer/Joachim Bischoff (2013): Krisenerfahrungen und Politik. Der Blick von unten auf Betrieb, Gewerkschaft und Staat, Hamburg. Björn Engholm (2016): »Die großen Köpfe mussten kein 20-seitiges Programm vortragen«, Interview mit der Welt am Sonntag vom 15.5.; www.welt.de/print/wams/hamburg/article155359403/Die-grossen-Koepfe-mussten-kein-20-seitiges-Programm-vortragen.html Lea Elsässer/Armin Schäfer (2016): Group Representation for the Working Class? Opinion Differences among Occupational Groups in Germany. MPIfG Discussion Paper 16/3; www.mpifg.de/pu/dp_abstracts/dp16-3.asp Didier Eribon (2016): Rückkehr nach Reims, Berlin 2016. Friedrich Ebert Stiftung (2016): Strategiedebatten der deutschen Parteien 2016. www.fes.de/de/index.php?id=2371 Jürgen Habermas (2016): Für eine demokratische Polarisierung. Wie man dem Rechtspopulismus den Boden entzieht. Interview in; Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11. Roberto Heinrich/Sven Jochem/Nico A. Siegel (2016): Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates. Einstellungen zur Reformpolitik in Deutschland; http://library.fes.de/pdf-files/wiso/12648.pdf Wilhelm Heitmeyer (2016): Das Destruktive in der Normalität, in: Der Freitag vom 13.10.2016. Jan-Peter Müller (2016): Auch Protestwähler wollen ernst genommen werden, in: Neue Zürcher Zeitung vom 18.6. rheingold institut (2013): Wahl 2013: Das bedrohte Paradies. www.rheingold-marktforschung.de/veroeffentlichungen/artikel/Wahl_2013_Das_bedrohte_Paradies.html. Bernd Riexinger (2016): Gegen-Macht und linke EU-Kritik statt Exit-Illusionen. Auf dem Weg zu Alternativen zum Neoliberalismus gibt es keine Abkürzungen über die Währungsfrage. Beitrag in der Ausgabe Oktober 2016 des prager frühling: www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1322.gegen-macht-und-linke-eu-kritik-statt-exit-illusionen.html. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2016): Zeit für Reformen. Jahresgutachten 2016/17; www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/gutachten/jg201617/ges_jg16_17.pdf Armin Schäfer (2014): Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Frankfurt a.M. Olaf Scholz (2016): Die Partei der schlechten Laune – Zum Umgang mit der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD), 8. Mai, zitiert nach www.heute.de/ZDF/zdfportal/blob/43413198/1/data.pdfAnmerkungen
[1] Auf die von Jürgen Habermas ebenfalls angesprochene Entwicklung in Nordamerika gehen wir nicht ein. [2] Bofinger verweist auf den Beitrag von Renate Köcher »Die AfD – Außenseiter mit Rückhalt« in der FAZ vom 20.10.2016. [3] In der alten Sozialdemokratie blieb das Paradox, weshalb die aufgestiegenen und mit Wohlstandsgewinnen versehenen Gruppen der abhängig Beschäftigten in größeren Teilen in das neoliberale Lager gewechselt sind, obwohl sie von einer Politik der sozialen Deregulierung als Gewinner der vorangegangenen Ausweitung der Staatsapparate, des Bildungs- und Sozialversicherungssystems doch die größten Nachteile zu erwarten hatten. [4] Im Gerechtigkeitsdiskurs der SPD in den frühen 2000er Jahren spiegelte sich das wider: Gerechtigkeit gleichsam als Starterpaket, das sich durch individuelle Bildungsanstrengungen und die nachfolgende Nutzung von Marktchancen im Beruf und auf dem Arbeitsmarkt in unterschiedliche soziale Lagen differenziert – allein schon die simple Beobachtung, dass das Bildungssystem in hohem Maße klassenmäßig differenziert, ging unter. [5] Lea Elsässer und Armin Schäfer stellen fest, dass die jeweilige Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozess weiterhin prägend ist: »that differences are largest between occupational groups and much smaller between eastern and estern Germans or woman and men.« Und bezogen auf den Neuansatz eines Wohlfahrtsstaat-Reformismus wird festgestellt, »that issues of (re-)distribution and state intervention, which traditionally separate workers from higher social classes, are still an important dividing line within society.« (Elsässer/Schäfer 2016)Die Autoren sind Redaktionsmitglieder der Zeitschrift Sozialismus. Der Beitrag ist die Kurzfassung eines Papiers, das Gegenstand von Strategiediskussionen von Mitgliedern des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Redaktion der Zeitschrift Sozialismus war. Der Beitrag von Michael Brie und Mario Candeias ist hier nachzulesen.