Ihr seid in verschiedenen Initiativen für Geflüchtete aktiv. Wie sind diese entstanden und was macht ihr dort?
Tina: Im August 2015 haben wir mit ein paar Leuten den Impuls gegeben, die Initiative Refugees Welcome Karoviertel (RWKaro) zu gründen.Ausgangspunkt war, dass in den Messehallen in der direkten Nachbarschaft von St. Pauli eine Massenunterkunft eingerichtet wurde. Damals hat eine Handvoll von AktivistInnen und NachbarInnen mit Handzetteln und über Social Media zu einer Stadtteilversammlung eingeladen. Rund 500 Menschen kamen. Zwei Wochen später waren es bereits 1 500. Da mussten wir in den Ballsaal vom St. Pauli-Stadion umziehen. Für die Mobilisierung konnten wir zum einen auf die Strukturen des Recht-auf-Stadt-Netzwerks zurückgreifen, zum anderen aber auch auf eine politische Verankerung im Stadtteil St. Pauli, in dem es eine lange Geschichte widerständigen und libertären Lebens gibt. Mittlerweile ist die Massenunterkunft in den Messehallen aufgelöst worden. Wir sind also eine Initiative, die ihre neuen Nachbarn wieder verloren hat. Die Arbeit von RWKaro konzentriert sich deshalb nun auf Erstaufnahmeeinrichtungen in ganz Hamburg und auf die Unterstützung der Hilfsstrukturen am Hauptbahnhof.
Christoph: Am 8. September 2015 wurde eine Gruppe von etwa 200 Refugees im Lübecker Hauptbahnhof von der Bundespolizei aus dem Zug nach Kopenhagen geholt. Von dort wollten sie weiterreisen nach Schweden, neben Deutschland ein Hauptzielland, wo viele Geflüchtete bereits FreundInnen oder Verwandte haben. Nach stundenlangen Verhandlungen konnte die Gruppe endlich weiterreisen, wurde aber in Dänemark erneut festgesetzt und übel behandelt. Es war klar, dass andere Wege nach Schweden gesucht werden mussten.
Einen Tag später standen die ersten Refugees vor der Tür unseres autonomen Kulturzentrums Walli. Wir haben es kurzerhand umfunktioniert und innerhalb von 24 Stunden ein Solidaritätszentrum für Geflüchtete im Transit aufgebaut. Im Konzertsaal und in den meisten Gruppenräumen lagen Matratzen. Es wurde ein Raum für medizinische Versorgung eingerichtet, zudem wurden Essen und Kleidung besorgt. All das geschah selbstorganisiert und ehrenamtlich auf der Grundlage einer parteilichen Solidarität mit Geflüchteten und zur Unterstützung ihres Kampfes um Bewegungsfreiheit.
Mittlerweile haben wir über 15 000 Menschen bei der Weiterreise nach Skandinavien geholfen und dabei mehrere Hunderttausend Euro für Fährtickets ausgegeben. Davon wurde ungefähr die Hälfte von den Refugees selbst bezahlt, der Rest aus Spendengeldern. Von der Stadt konnten wir zusätzliche Räumlichkeiten erstreiten, sodass jetzt Kultur- und Solidaritätszentrum nebeneinander existieren. Inzwischen hat der Transit stark abgenommen. Wegen der verschärften Grenzpolitik Schwedens können täglich nur noch 20 Geflüchtete weiterreisen. Dafür bauen wir jetzt die Aktivitäten für und mit Geflüchteten aus, die in Lübeck bleiben wollen. Unser Ziel ist ein dauerhaftes, selbstverwaltetes und unabhängiges Haus in Lübeck.
Daniel: Bei uns begann es damit, dass im August eine Notunterkunft für 1 500 Geflüchtete in Berlin-Karlshorst errichtet werden sollte. Es gab eine große Welle der Solidarität, aus dem Nichts fanden sich viele Menschen zusammen, die dazu beigetragen haben, die Unterkunft herzurichten und in Betrieb zu nehmen. Auch aus dem Bezirksverband der LINKEN in Lichtenberg sind einige dort als HelferInnen eingestiegen, haben bei Handwerksarbeiten oder bei der Essensausgabe geholfen. Der Bezirksverband hat seinen Bus zur Verfügung gestellt, etwa um Spenden einzusammeln. Wir machen kein Geheimnis daraus, dass wir von der LINKEN sind, lassen aber die Parteifahne zu Hause. Das kommt gut an.
Im Bezirksverband haben wir eine »Arbeitsgemeinschaft Geflüchtete« gegründet und damit einen Ort geschaffen, wo sich AktivistInnen aus dem Helferkreis mit ParlamentarierInnen austauschen können. So konnten wir Aufklärungsarbeit in die Partei hinein, Spendenaktionen, aber auch parlamentarische Initiativen initiieren. Beispielsweise haben wir in der Bezirksverordnetenversammlung Probleme bei der Unterbringung thematisiert. Über unsere Bezirksstadträte konnten wir durchsetzen, dass die Meldung beim Einwohnermeldeamt in Form von Sammellisten direkt in den Notunterkünften durchgeführt werden kann und die Flüchtlinge nicht individuell dorthin müssen und extrem lange Wartezeiten haben. Auf Landesebene konnten wir erfolgreich Druck machen für die Einführung einer Gesundheitschipkarte, sodass die Geflüchteten zum Arzt gehen können, ohne vorher beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) den entsprechenden Schein beantragen zu müssen. Tatsächlich konnten wir so sogar einzelne HelferInnen für die Parteiarbeit gewinnen.
Wer ist in den Initiativen aktiv? Entsteht hier eine Zusammenarbeit unterschiedlicher Gruppen und Milieus, die es sonst so nicht gibt?
Tina: Allein die Zahl der Engagierten zeigt, dass hier sehr unterschiedliche Erfahrungen und Ansätze zusammenkommen. Menschen, die schon lange in politischen Gruppierungen organisiert und entsprechend erfahren sind in kollektiven Prozessen, trafen auf solche, die im Sommer zum ersten Mal aktiv wurden. Das war aufregend, intensiv, amüsant und immer wieder auch ungemein anstrengend. Es ging so schnell, dass es für alle eine große Herausforderung war, Schritt zu halten und trotzdem nicht aus den Augen zu verlieren, ob wir überhaupt ungefähr in eine Richtung gehen.
Daniel: In den Initiativen haben wir einen bunten Haufen an Menschen, die sich zum großen Teil aus der direkten Nachbarschaft und aus dem linken organisierten Spektrum rekrutierten. Aber auch Gremien wie der Bezirkselternausschuss von Lichtenberg oder Kirchengemeinden haben sich vom ersten Tag an eingebracht. Von der Ärztin über den Studenten bis hin zu Erwerbslosen sind hier zahlreiche Menschen unterwegs. Viele von ihnen sind zum ersten Mal politisch in Organisationen aktiv. Es sind gut ausgebildete Leute aus der ›Mitte‹ der Gesellschaft, die auf gut organisierte AktivistInnen linker oder antifaschistischer Gruppen treffen. Durch die praktische Arbeit und Auseinandersetzung mit der Situation der Geflüchteten und dem Versagen der zuständigen öffentlichen Institutionen entsteht eine konkrete Zusammenarbeit, die es – zumindest bei uns im Bezirk – so bisher nicht gegeben hat.
Christoph: Der Kern der Aktiven waren Leute aus der Szene, aus politischen Gruppen und der antirassistischen Bewegung. Aber es sind sehr schnell weitere dazugekommen. Vor allem die DolmetscherInnen haben einen wichtigen und aufreibenden Job gemacht. Wir wussten vorher gar nicht, wie viele Leute es in Lübeck gibt, die Arabisch oder Farsi sprechen. Unser Haus, das vorher so ›weiß‹ war wie die meisten politischen und subkulturellen Zentren, ist jetzt endlich ein Ort geworden, wo sich ›Bio-Deutsche‹, MigrantInnen und gerade erst nach Lübeck Gekommene begegnen. Ähnliches gilt für die vielen Hundert anderen Freiwilligen, die im Laufe der Zeit mitgeholfen haben, Essen zu kochen, die Betten zu machen, die Toiletten zu putzen, einen 24-Stunden-Bürodienst aufzustellen und die medizinische Versorgung aufzubauen. Daraus sind bereichernde und schöne Erfahrungen entstanden, neue Gruppen und Freundeskreise. Aber es kommt auch immer wieder zu Problemen, wenn die Herangehensweise ans Helfen oder an praktische Solidarität doch recht unterschiedlich ist, wenn Selbstorganisation sich mit Kontrollbedürfnis und das Ziel der Selbstermächtigung sich mit durchaus vorhandenem Paternalismus beißt. Das erfordert Kommunikation und Anstrengung auf allen Seiten, die sich aber lohnt.
Wie schätzt ihr das Potenzial ein, dass aus diesen Aktivitäten etwas entsteht, das über Ad-hoc-Krisenmanagement hinausgeht, etwa Strukturen, die imstande wären, auch andere Probleme in solidarischer Weise zu thematisieren?
Christoph: Als unverbesserlicher Optimist bin ich der Überzeugung, dass dieses Potenzial riesig ist. ›Helfen‹ ist in der gegenwärtigen Situation ein politisches Statement – unabhängig davon, ob die Freiwilligen das selbst so formulieren oder nicht. Und praktische Solidarität muss doch der Ausgangspunkt einer jeden linken Politik sein, die auf eine Überwindung von Grenzen, Konkurrenz und Ausbeutung zielt. Wichtig sind Kommunikation und Geduld. Es muss sich nicht sofort alles in den bekannten Formen von Flugblatt, Demo oder Besetzungsaktion äußern. Die unbestreitbar notwendige Politisierung darf nicht zu Belehrung und Rechthaberei führen. Wir sind alle Teil einer der größten sozialen Bewegungen, die dieses Land jemals gesehen hat. Jetzt kommt es darauf an, ob Linke es schaffen, sich in dieser Bewegung tatsächlich zu verankern, ihr Orientierung zu geben und vor allem selbst offen und veränderungsbereit zu sein.
Tina: Anfangs gab es eine Kontroverse um die Haltung der Aktiven, die ihre humanitäre Hilfe ausdrücklich nicht mit einer irgendwie gearteten politischen Position in Verbindung bringen wollten. ›Helfen‹ hieß für sie zum Beispiel, keine offene Kritik am Handeln von Trägern und Behörden zu äußern. Mein Eindruck ist, dass sich das durch die monatelange Praxis ver- ändert hat, dass der Unwillen über strukturelle Missstände deutlich wächst und damit auch das Bedürfnis, diese zu benennen und dagegen anzugehen. Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung. Der Blick geht nicht zwangsläufig auch auf andere ›große‹ Themen, allerdings war bei RWKaro die Forderung nach menschenwürdiger Unterbringung von Flüchtlingen von Anfang an verbunden mit der Forderung nach einem ausgebauten Winternotprogramm für Obdachlose. Die Forderung »Leerstand zu Wohnraum« ist ein alter Slogan der Recht-auf-Stadt-Bewegung – hier ist eine Verbindung zwischen erprobter Praxis und neuem Engagement. Selbstverständlich spielen hier Personen eine wichtige Rolle, die in beiden Bereichen aktiv sind und diese Perspektive einbringen.
Daniel: Die Diskussionen, dass man hier nur konkrete humanitäre Hilfe für Menschen in Not leisten wolle, gab es auch bei uns. Die gemeinsame praktische Erfahrung hat aber die Chancen und Grenzen des Helfens in dieser Gesellschaft verdeutlicht. Gerade die Auseinandersetzung mit der desaströsen Arbeit der zuständigen Behörden hat eine übergreifende Politisierung befördert, sodass HelferInnen als politische Akteure mit Demonstrationen und gemeinsamen Forderungen an die Öffentlichkeit treten.
Die Situation am Wohnungsmarkt ist bei uns in Berlin ein gutes Beispiel für eine kapitalgetriebene Immobilienentwicklung, die mit dem Versorgungsauftrag der Wohnungswirtschaft kaum noch vereinbar ist. Das lässt sich an der Auseinandersetzung um die ehemals auf Druck von Vattenfall entmieteten Wohnhäuser in der Gaswerksiedlung Klingenberg illustrieren. Die Linksfraktion fordert seit 2012, dass der Komplex zur Zwischennutzung freigegeben wird. Jetzt haben wir vorgeschlagen, die Gaswerksiedlung als Wohnraum für Geflüchtete zu nutzen, was momentan allerdings nicht nur an den Eigentümerinteressen, sondern auch an der fehlenden Unterstützung der anderen Parteien in der Bezirksverordnetenversammlung scheitert. Solche konkreten Projekte, in denen Forderungen wie »Recht auf Wohnen« oder »Leerstand zu Wohnraum« konkret werden, könnten auch die Mitte der Gesellschaft auf eine Weise politisieren, die über das Lindern von Symptomen hinausgeht. Hier können auch neue Bündnisse zwischen linker Mittelschicht und linker Szene entstehen. Es passiert aber auch das Gegenteil, dass die Erfahrung der individuellen Ohnmacht, die Verhältnisse zu ändern, bei einigen HelferInnen zu Resignation führt.
Überall sind sehr viele Menschen aktiv, gleichzeitig wird eine Asylrechtsverschärfung nach der anderen beschlossen. Verliert sich die Bewegung im Lokalen, während auf anderen Ebenen ständig neue Probleme produziert werden?
Tina: Meine Hoffnung ist, dass sich angesichts der Unterschiedlichkeit der Aktiven auch die Diskurse verschränken und gegenseitig befruchten. Da sind – holzschnittartig formuliert – die Aktiven, die die Kleiderkammer oder ein Kinderprogramm organisieren und damit fast vollständig ausgelastet sind. Über Social Media und bei Veranstaltungen sind sie aber in Kontakt mit denen, die die Asylrechtsverschärfung thematisieren, Refugee-Konferenzen mitorganisieren und in internationalen Netzwerken aktiv sind. Beide Praxen existieren nicht nur neben-, sondern auch miteinander. Hier findet ein spannender und anstrengender Prozess mit vielen Reibungen statt, der viele Menschen in Kopf und Herz mitnimmt.
Daniel: Ich stimme Tina in der Hoffnung zu, dass sich aus der Helferszene heraus ein neuer politischer Erfahrungsraum bildet, der praktische Hilfe mit der Forderung nach politischen Lösungen verbindet. Als eine große Herausforderung für die HelferInnen sehe ich die Auseinandersetzung mit dem sich verschärfenden rassistischen Diskurs und der Meinungsmache in der Flüchtlingsfrage. Während sie anfänglich als Vorbilder deutscher Humanität und Offenherzigkeit gefeiert wurde, bläst jetzt vielen in der Öffentlichkeit, aber auch im eigenen Umfeld ein deutlicher Gegenwind ins Gesicht. Nachdem viele HelferInnen das Gefühl hatten, für das Versagen der politischen und staatlichen Institutionen in die Bresche gesprungen zu sein, erlebe ich jetzt auch eine intensive und emotionale Auseinandersetzung mit der herrschenden Politik und den dafür verantwortlichen Teilen von CDU/CSU, SPD und den Grünen, einer Politik, die auf eine weitere Abschreckung von Geflüchteten durch repressive Gesetze und Praktiken zielt.
Als LINKE ist es für uns zentral, dass die von AfD und Pegida befeuerte Auseinandersetzung nicht zu einer Entsolidarisierung innerhalb der Gesellschaft, insbesondere unter den benachteiligten Gruppen, führt. Im Helfen sehe ich einen Anfang für eine gesellschaftliche Bewegung der Empathie und Solidarität, die milieuübergreifend ist. Gerade hier ist es für uns als LINKE wichtig, sich aufklärend und zuspitzend einzubringen, ohne in einen bevormundenden Ton zu verfallen und Menschen zu instrumentalisieren.
Christoph: Auf der politischen Ebene sehe ich eine Schwierigkeit: Die derzeitige Frontlinie wird von den meisten Aktiven zwischen Merkel und Seehofer verortet – und dies nicht ganz zu unrecht. Das macht aber politische Kampagnen gegen die Verschärfungen des Asylrechts und gegen die zunehmend auch offen militärischen Abschottungsmaßnahmen an den Grenzen sehr schwierig, weil dazu ja eine Frontstellung der Bewegung gegen die gesamte politische Elite notwendig wäre. Die Leute denken aber, dass es wichtig ist, zuerst Seehofer und die AfD abzuwehren – auch deswegen gehen die ganzen Schweinereien der Regierung so leicht durch. Ich würde auch hier Geduld und Beharrlichkeit empfehlen. ›Helfen‹ steht in keinem Widerspruch zum politischen Kampf für gleiche Rechte oder gegen das Grenzregime, es ist vielmehr ein Ausgangspunkt. Voraussetzung ist jetzt natürlich, dass Linke und AntirassistInnen ihren Job machen: sich in der Bewegung über praktische Mitarbeit verankern und sie gleichzeitig vorantreiben, organisieren und radikalisieren. Sowohl auf der lokalen Ebene wie bundesweit und europäisch.
Das Gespräch führte Moritz Warnke