Im Frühjahr 2016 lese ich in der FAZ eine Rezension zu einem Buch mit dem Titel Rückkehr nach Reims. Sie ist wenig ansprechend, finde ich. Erst am Schluss der Besprechung fällt mir der Name Eribon auf, und ich erinnere mich an dessen grandiose Biographie über Michel Foucault (1991), aus der ich – vor mehr als 20 Jahren – am Schluss meiner Doktorarbeit ein kurzes Zitat einfügte. Wenn ich heute das Nachwort meiner Dissertation lese, so scheinen die Sätze daraus das zu charakterisieren, was Didier Eribon an den französisch-bürgerlichen Bildungsinstitutionen kritisiert: „Um dieses Buch schreiben zu können … war es nötig, die Liebe zu mir selbst und zum Leben in dieser zerrissenen Welt immer wieder zu finden. Es war auch ein Anschreiben gegen den Gedankenmüll, der an den Universitäten aus nicht endender Quelle sprudelt, um die Menschen damit zuzudecken, anstatt die Wahrheiten über menschliches und menschenwürdiges Leben aufzudecken“ (Weber 1997, 108). Reale, in gesellschaftlichen Verhältnissen denkende, fühlende und handelnde Menschen gibt es in den Theorien der Hochschulen nicht. Das beginnt damit, dass Student_innen lernen müssen, das Wort ICH aus ihrem Wortschatz zu streichen, wenn sie etwas schreiben wollen, das als „Wissenschaft“ gelten soll. Eribon bricht bereits im ersten Satz mit dieser im Wissenschaftsbetrieb herrschenden Regel: „Lange ist es für mich nur ein Name gewesen“, heißt er erste Satz des Buchs, der auf das Dorf Muizon verweisen soll, das er bis vor kurzem nicht besuchte, obwohl (oder gerade: weil) seine Eltern dort wohnten.

Jeder Absatz im ersten Kapitel beginnt mit Sätzen, die ein ICH zum Subjekt haben: „Ich habe Muizon also erst vor kurzem kennengelernt“, „Wenn ich sie in den folgenden Monaten ab und zu besuchte, erzählte mir meine Mutter viel“. „Als ich meine Mutter am 31. Dezember jenes Jahres anrief…“, „Ich bin nicht zur Beerdigung meines Vaters gegangen“.

Dieses Ich, Didier Eribon, sitzt am Tag nach der Beerdigung seines Vater – den er mehr als 20 Jahre nicht sehen wollte – mit seiner Mutter im Wohnzimmer und sie schauen sich gemeinsam Bilder an – entnommen aus einem Karton: „Natürlich waren Bilder von mir dabei, als kleiner Junge, als Jugendlicher, auch von meinen Brüdern“ (Eribon 2016, 17). Und nun passiert das, was Eribon am Ende des Buchs allen von uns als freundliche Empfehlung mit auf den Weg gibt: „Bestenfalls kann man sich daranmachen, mit sich selbst und der Welt, die man verlassen hat, ins Reine zu kommen, indem man eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellt“ (ebd., 237).

Ich habe das Buch von der ersten bis zur letzten Zeile ohne Pause, mit einer Nacht dazwischen, gelesen. Es hat mich erschüttert, aufgerüttelt, traurig und klarer werden lassen. Nicht zuletzt dieser Lektüre ist es zu verdanken, dass ich mich entschieden habe, Kommunist werden zu wollen[1]. Aber davon später…

Ich weiß nicht, ob Eribons Buch gut geschrieben ist, ich weiß nicht, ob die Übersetzung gelungen ist, ich weiß auch nicht, ob seine Argumente überzeugend sind. Mir fiel zur Wirkung des Gelesenen auf meinen Körper, meine Psyche und meinen Verstand ein Zitat von Klaus Theweleit ein: „Ob man solche Überlegungen für sich zulässt oder nicht, ob man sie zutreffend findet oder bescheuert, hängt … nicht von ihrer Überzeugungskraft ab, von ihrer intellektuellen Begründbarkeit; auch nicht von der Brillanz der Einsprüche gegen sie. Sie leben oder sterben einfach dadurch, dass sie in einen einschlagen oder nicht“ (Theweleit 1988, 264). Ich habe das Buch mehr als fünf Mal verschenkt, habe es dutzende Male empfohlen und vielen Student_innen von mir ans Herz gelegt. Bei allen von ihnen hat das Buch mehr oder weniger „eingeschlagen“.

Von Unten

„Wir waren gar nicht auf die Welt gefasst“
(Volker Braun 2016 , 10)

Wer von unten kommt, bleibt meist dort und krümmt sich. „Der Mensch lässt sich viel gefallen, wo käme man sonst hin“ (Bloch 1969, 224). Wer zum Licht, zur Welt hin will, stößt nicht selten oben an und wird zurückgestoßen; mangels Kraft und Geld siegt die Gewöhnung. Und nicht nur die Anpassung von unten lässt viele klein bleiben, „es wird von oben her dem nachgeholfen, vor allem bei ärmeren Fragern, damit nicht zu viel und gar unangenehm gefragt würde“ (ebd.).[2] Was ich hier in den Worten Ernst Blochs auszudrücken versucht habe, schreibt Eribon mit soziologischer Feder: „Ich erinnere mich noch, wie sie sich in meiner Familie über die Ausweitung der Schulpflicht bis zum sechzehnten Lebensjahr aufgeregt haben. >Warum zwingt man die Kinder, in die Schule zu gehen? Sie haben doch keine Lust dazu, sie wollen doch arbeiten!<. Fragen zur gesellschaftlichen Verteilung von Lust oder Unlust am Lernen stellte sich natürlich niemand. Die schulische Selektion basiert oft auf Selbstexklusion und Selbsteliminierung, die Betroffenen reklamieren ihren Ausschluss als Resultat der eigenen Wahlfreiheit. Eine lange Schulzeit ist >nur was für die anderen<, >die es sich leisten können< und die zufälligerweise meistens auch diejenigen sind, die >mehr Lust aufs Lernen haben< (Eribon 2016, 44).

Eribon kommt „von unten“. Seine Mutter ist Fabrikarbeiterin, sie putzt zusätzlich zur Aufbesserung des Haushaltseinkommens, sein Vater werkt „vom vierzehnten bis zum sechsundfünfzigsten Lebensjahr in der Fabrik“ (ebd., 49). Wie aus Versehen – die Erfahrungen machen nicht wenige Arbeiterkinder – schafft Eribon es, in den bürgerlichen Bildungsinstitutionen seinen Weg zu machen. Und doch: „Als Arbeiterkind spürt man die Klassenzugehörigkeit am ganzen Leib“ (ebd., 91), schreibt er; und ich würde ergänzen: „und ein Leben lang“. Am eigenen Leib spüren heißt bei Eribon – wie bei vielen „Klassenwechslern“ – in der Regel: sich schämen nicht so zu sein wie die herrschenden Bildungsbürger und ihre Intellektuellen. Eribon beschreibt diese Scham am Beispiel einer Begegnung mit dem berühmten französischen Soziologen Raymond Aron, dessen bürgerliche Identität sich in Bezug auf die Klassenfrage und die Frage der eigenen Biographie vor allem darin ausdrückte, dass er die Zugehörigkeit zu Klassen und diese selbst bestreitet: „Ich bin diesem Menschen nur ein einziges Mal begegnet. Augenblicklich hatte ich eine Abneigung gegen ihn. Sein selbstgefälliges Lächeln, seine süßliche Stimme, seine Pose als objektiver Mann der Wissenschaft … – all das drückte für mich nichts anderes aus als sein bürgerliches Ethos der Anständigkeit und ideologischen Mäßigung (ebd., 92). In einem Interview, das im März 2017 mit Karl Heinz Bohrer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung „über seine intellektuelle Biographie“ (FAZ 8.3.2017) abgedruckt ist, ist diese zutiefst bürgerlich-liberale Haltung durch einen einfachen Satz zum Ausdruck gebracht: „Kapital und Arbeit waren Sachverhalte, die mich nicht interessierten“. Bohrer ist so vermessen, diese Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen er nicht nur lebte, sondern deren Nutznießer und geistiger Profiteur er ist, mit der reaktionären Wendung: „Die Bohrers waren schon zu Zeiten der Reichsgründung und Bismarcks Gegner Preußens. Dieser Liberalismus meiner Eltern …, der war mir mitgegeben“. Im ganzen Interview ist kein Wort darüber zu lesen, dass und wie sich Bohrer sein Leben verdienen musste, ob und wie er arbeitete, um sich sein Studium zu finanzieren. Das Desinteresse an solch banalen Dingen wie Lohnarbeit und Ausbeutungsfolgen auf der einen sowie Profitlogiken auf der anderen Seite – an Kapital und Arbeit eben – kann sich einer leisten, der nie in die Ketten des Lohnerwerbs gezwungen war und sich auch aus diesem Grund – wie Eribon über Aron schreibt – „als Auftragsschreiber … und Söldner im Dienst der Herrschenden und ihrer Herrschaft“ (Eribon 2016, 93) verdingt[3].

So wie Eribon von unten kommt, komme auch ich von unten. Als Grundschüler in einer Arbeiterstadt waren die ersten vier Klassen Schule für mich vor allem Freiheit: frei sein von der quengelnden Mutter, dem gewalttätigen Vater und den mich – als jüngsten der Familie – drangsalierenden Brüdern. Erst im Gymnasium erlebte ich das, was Didier Eribon in Bezug auf die körperliche und soziale Zurichtung schreibt: „Die Anpassung an die Kultur der Schule und des Lernens erwies sich für mich als ein langer … Prozess. Die körperliche und geistige Disziplin, die sie erfordert, ist nichts Angeborenes, man benötigt Zeit und Geduld, um sie sich anzueignen… Dinge, die für andere selbstverständlich waren, musste ich mir … Tag für Tag, Monat für Monat erarbeiten… All das veränderte meine gesamte Persönlichkeit und meinen Habitus von Grund auf, und ich entfernte mich immer weiter von jenem familiären Milieu, in das ich doch jeden Abend zurückkehrte“ (ebd., 158/159). Aus Gründen, die ich an anderer Stelle erzählt habe, war Schule für mich – bei aller Anstrengung – eine Freude (vgl. Weber 2007, 195-197). Erst im staatlichen Gymnasium in Rosenheim spürte ich die Risse zwischen den Erzählungen aus meinem Leben und den Geschichten, die Mitschüler über ihre Eltern, ihre Freizeit, ihre Wohn- und Spielverhältnisse zum Besten gaben: Da waren Teppiche in Wohnzimmern zu bestaunen, da musste man Schuhe vor der Haustüre ausziehen, da stand ein Klavier in einem eigens dazu bestimmten Musikzimmer; nicht aus den Bergen oder aus dem kommunalen Freibad kamen andere vom Urlaub zurück, sondern aus Rimini, Mallorca oder den USA. Und auch das Lernen selbst wurde nun schwer; zudem war ich mit meinem Lernmaterial alleine – Mutter wie Vater konnten mir nicht mehr helfen, weil sie die Lerninhalte, den „Unterrichtsstoff“, nicht verstanden, bestenfalls. Schlechtestenfalls wurde ich ausgelacht, weil ich Sachen lernen sollte, die vor allem aus der Sicht meines Vaters unpraktisch und lebensfremd waren. Beleidigungen wie „Bleistiftspitzer“ und „Kopfgesteuerter“, Behauptungen wie die, ich könne ja keinen Nagel in die Wand schlagen, musste ich demütig und gekränkt über mich ergehen lassen. Ich erinnere mich noch, dass ich mit unheimlichem Stolz aus der 6. oder 7. Klasse des Gymnasiums nach Hause kam und aus dem Mathematikunterricht erzählte. Wir hatten an diesem Tag das Thema „duale Zahlen“ und – entgegen aller Erwartungen meinerseits – verstand ich die Logik dieser damals revolutionären mathematischen Neuerung. Als ich am Mittagstisch meine Mitschrift aus der Schulstunde aufblätterte und allen davon berichtete, bekam ich als Reaktion auf meine „lächerlichen“ zwei Symbole – O und I – dumme Sprüche und ein hämisches Lachen zu hören. Damals schwor ich mir: „Es wird Zeiten geben, da werde ich über euch lachen. Wenn ich schon schwächer bin und nicht zurückschlagen kann, dann werde ich jetzt heimlich gescheit!“.

Doch nicht nur innerfamiliär spürte ich die Herkunft aus der Arbeiterklasse am eigenen Leib und im eigenen Herzen (selbstverständlich ohne mir damals darüber im Klaren zu sein), auch und gerade außerhalb der scheinbar schützenden Mauern des Familiendaseins musste ich erleben, dass und wie die Zugehörigkeit zu den „Unteren“ ihre Spuren hinterließ.

„Jeder trägt sein Ablaufdatum,
weil das Leben ein Abfahrtslauf ist.
Immer hinunter. Nur wenige dürfen hinauf“
(Elfriede Jelinek 2016, 10)

Jede und jeder von uns ist als Mensch so geworden, wie er oder sie ist (mit all den guten und schlechten Eigenschaften, den Fehlern und Schwächen, aber auch den Fähigkeiten und Stärken, den Vorlieben und Abneigungen usw.) – durch die Art und Weise unserer Herkunft. Damit meine ich nicht so sehr die biologische oder genetische Seite unserer Persönlichkeiten – die heute wissenschaftlich und alltagspsychologisch für so wichtig befunden werden –, sondern vielmehr die ökonomische, soziale und kulturelle Verwobenheit, Eingebundenheit in die realen geschichtlichen Verhältnisse, in die hinein wir uns entwickelt haben, in denen wir groß geworden sind. Eribon drückt diesen Sachverhalt sehr viel drastischer aus: „Wir kommen in eine Welt, in der die Urteile längst gesprochen sind“ (Eribon 2016, 212).[4]

Ich will das an Szenen meiner Biographie demonstrieren: Selbstverständlich spielt es für mich eine wichtige Rolle, dass und wie ich in einer oberbayerischen Arbeiterstadt aufgewachsen bin. Arbeiterstadt, was heißt das? Fast alle Einwohner Kolbermoors lebten von ihrer Lohnarbeit in der Baumwollspinnerei, dem Tonwerk, einem Graphitwerk und einer Strumpffabrik. Die Arbeiter_innen wohnten und lebten am Ort, die Firmenchefs sowie deren Prokuristen fuhren nach Feierabend lieber ins benachbarte bürgerliche Bad Aibling, wo ihre Frauen in den großartigen Villen bereits für sie gekocht hatten.

Die Situationen, in denen ich mich selbst, meine Eltern, meine Brüder, meine Lehrer, meine Freunde und später meine ersten Liebschaften erlebte, hängen zentral damit zusammen, dass es Situationen sind, die in der Regel im Milieu von Arbeiterfamilien und –kindern[5] verortet sind. Was heißt das? Natürlich spielt es für einen pubertierenden Jungen keine Rolle, ob er seiner Freundin den ersten Kuss unter der Mangfallbrücke oder unter einer Isarbrücke abringen kann. Aber es spielt durchaus eine Rolle, welchen Bildungshorizont es in seiner Stadt gibt. Kolbermoor als Arbeiterstadt und als verfemte rote Hochburg hat weder im Landkreis Aibling noch im späteren Landkreis Rosenheim die Möglichkeit bekommen (mit Ausnahme einer Wirtschaftsschule nach 1945), weiterführende Schulen am Ort anzusiedeln. Realschule, Wirtschaftsschule oder gar Gymnasium sind also Begriffe, die an diesem Ort mit keinem in der Wirklichkeit vorhandenen Gebäude, mit keinen Wegen dorthin, mit keinem Erleben von verbeamteten Studienräten und -direktoren verbunden sind, welche nicht selten in den örtlichen Vereinen und politischen Organisationen tätig sind.


Gymnasium ist später der Ort, wo ich hin will, und um dorthin zu kommen, muss ich aus meiner Heimatstadt weg. Dieser Makel – an dem die Kolbermoorer keine Schuld tragen, den sie aber weder verstanden noch skandalisiert haben – zieht sich bis heute durch die Ortsgeschichte: dass man für’s Klügerwerden immer aus dieser Stadt weggehen, wegradeln, mit dem Zug nach Rosenheim, Aibling oder gar nach München fahren muss. Für einen 10-Jährigen Mitte der 1960er Jahre ist die Frage, ob er ans Rosenheimer Gymnasium wechselt, also damit verbunden, ob er seine Stadt verlassen will, ob er einen Großteil seiner Freunde zurücklassen will (nur fünf seiner Mitschüler aus der vierten Klasse schafften damals den Übertritt), ob er den Mut hat, sich mit vielen Fremden in einer fremden Stadt in einem fremden Gebäude täglich von fremden Lehrern und Lehrerinnen unterrichten zu lassen – in einem fremden Lehrstoff wie Mengenlehre und Englisch (wer sprach in Kolbermoor schon Englisch?).

Die Klavierdichte (also die Anzahl von Klavieren und Flügeln pro Familie) in Kolbermoor war in den 1960er Jahren sicher geringer als diejenige in Aibling oder Rosenheim – für viele Kinder und Jugendliche war das Hören von Pianotönen in der Städtischen Musikschule die erste Begegnung mit einem klassischen Musikinstrument. Wenn ich mich recht erinnere, gab es im Schulunterricht in den ersten vier Klassen an der Knabenschule lediglich die von einem Lehrer mitgebrachte Gitarre und die von der Musik- und Gesangslehrerin mitgebrachte Blockflöte; erst am Rosenheimer Finsterwaldergymnasium begleitete uns ein Musiklehrer am Klavier, und später am Gymnasium Bad Aibling war es schon eine Selbstverständlichkeit, dass ein bekannter Pianist (immerhin ein Kolbermoorer, wie ich wusste) mit brillantem Tastenspiel am großen Flügel die musikalischen wie unmusikalischen Schüler langweilte. Das lag nicht an ihm, sondern am Alter der Schüler und Schülerinnen, die sich mehr um das Geschlechtliche kümmern wollten als um den Aufbau einer Symphonie. Aber das nur nebenbei.

Meine Möglichkeiten und meine Fähigkeiten, also meine Lebenschancen, hingen als Kind wie als Jugendlicher sowohl von der wirtschaftlichen Situation meiner Eltern als auch von den in Kolbermoor vorfindlichen Bedingungen für eine kulturelle, sportliche und soziale Entfaltung ab. Und weil Kolbermoor nun einmal eine Stadt war, in der ein Großteil der Einwohner in die „Ketten des Lohnerwerbs“ gezwungen war und nur die wenigsten den Genuss hatten, andere für sich arbeiten zu lassen und mit dem dadurch erzielten Gewinn ihre Freizeit zu verlängern, verteilten sich mehr oder weniger auch die Bildungschancen auf diese Art und Weise. Im Sportverein Kolbermoor, wo ich Fußball spielte (meine liebsten Trainer waren ein etwas übergewichtiger Postzusteller und später ein weichherziger Heizungsinstallateur), Leichtathletiktraining absolvierte (eine junge Studentin zeigte uns den Hochsprung, der noch auf einem Sandhaufen sein Ende fand) und an Skirennen teilnahm, zeigte sich diese Klassenspaltung in arm und reich selbstverständlich auch. Reiche Kinder spielten nicht Fußball; das war etwas für uns Arbeiterkinder, die ja nicht nur auf dem Vereinssportplatz spielten, sondern in den Hinterhöfen, auf dem Schulhof vor der Feuerwehr, oder im Schwimmbad dem Ball nachjagten („Drei Ecken ein Elfer“ – wer kannte diese Regel damals nicht). Was das Skifahren betrifft, wurden mir die Klassenunterschiede zum ersten Mal in ihren Auswirkungen bewusst, ohne dass ich sie damals so hätte benennen kennen. Mein Bruder Lenz und der junge Stettner Franz – Sohn eines Vaters, der im Besitz einer mittelständischen Sekt- und Weinkellerei war – lieferten sich über Jahre hinweg ein Ski-Duell, in dem viele auf der Seite meines Bruders standen. Das hing sicherlich nicht damit zusammen, dass mein Bruder liebenswürdiger, freundlicher oder beliebter war. Der junge Stettner Franz war nämlich ein Ausbund ein Korrektheit, Liebenswürdigkeit und Gerechtigkeitsempfinden (manchmal dachte ich, er schämt sich, weil er so reich ist). Und doch wussten wir wie viele andere, dass der „Franzi“ zum Trainieren mit seinem Vater nach Gerlos, ins Stubai oder sonst wohin fahren konnte (und das „natürlich“ im Mercedes und an jedem Wochenende!), während mein Bruder wie viele andere von uns mit den immer gleichen Skipisten am Sudelfeld vorliebnehmen musste[6]. Auch neue Ski konnte es nicht jedes Jahr geben, ganz abgesehen von der Tatsache, dass wir uns den winterlichen Skiurlaub damit verdienten, indem wir (meine Brüder, mein Vater und ich) vor Weihnachten mehr als 20 Auftritte als Hausmusikgruppe Weber absolvierten.

„Aber aus dir ist doch auch etwas geworden!“, könnten jetzt viele einwenden. Da will ich nicht widersprechen; ich möchte aber zwei Dinge anmerken. Erstens: Wenn ich mit meiner Biographie für etwas ein Beispiel bin, dann dafür, dass es Ausnahmen von der Regel gibt, die heißt: Aus Arbeiterkindern werden Arbeiter oder niedrige Angestellte. Zweitens: Ich möchte gar nicht behaupten, dass es der junge Stettner Franz leichter hatte als ich. Aber ich behaupte, dass ein Kind – sollte es denn eine individuelle Begabung zum Klavierspielen oder Geigenspielen oder Skifahren geben – keine Chance hat, diese Begabung zu entfalten, wenn es kein Klavier oder keine Geige oder keine Ski dort gibt, wo das Kind zu Hause ist.[7]

Eribon skandalisiert solche Biographien wie meine: nicht deshalb, weil dort ein anderes Leben als bei den Reichen gelebt wird, sondern weil die Urteile über uns und unsere Lebenswege bereits gesprochen waren, als wir diese Welt noch gar nicht erblickt hatten. Welcher Skandal darin liegt, dass alle Parteien im Bundestag – mit Ausnahme der LINKEN – Menschen erlauben, ihren Kindern mehrere Millionen steuerfrei zu vererben, können wohl nur diejenigen ermessen, die wissen, wie viel Kraft und Anstrengung nötig ist, um aus nichtprivilegierten Verhältnissen zu entkommen. Und wie viele dabei auf der Strecke bleiben…

 

Nochmal: Ein Buch schlägt ein

„es wird darauf ankommen, mehr zu wissen,
auch wenn es schmerzt, sonst wird uns die
angst gefangenhalten.
und mehr zu wissen heißt mehr zu fragen,
denn die ursache unserer mutlosigkeit
und angst ist die weigerung zu lernen“
(Christian Geissler 1988, 183)

Es mag aufgrund meiner Lebensgeschichte unmittelbar einleuchten, dass Rückkehr nach Reims bei mir einen Nerv getroffen hat. Allerdings ist Eribons Buch (ich kann es weder als Roman noch als eine sozialwissenschaftliche Studie bezeichnen) noch aus zwei, drei anderen Gründen „freundlich“ zu den Leser_innen.

I
Zum einen ist da die dialogische Art seines Schreibens: Mir scheint es, als würde Eribon mit mir sprechen. Seine eigenen Handlungen und Haltungen verhandelt er selbstreflexiv, Fehler und Schwächen sind so dargestellt, dass ich aufgefordert werde, über meine eigenen Probleme und die mit meiner Herkunft verbundenen Schwierigkeiten, aber auch Vorteile, nachzudenken. Als Beispiel will ich lediglich Eribons Haltung zu seinem Vater erwähnen: Jahrzehntelang fand er diesen Arbeiter mit seinem antiklerikalen und antibürgerlichen Einstellung unerträglich und also mied er jeden Kontakt zu ihm. Als Eribon einen Roman von Raymond Williams liest, muss er an seinen Vater denken: „Mit klammem Herzen dachte ich an ihn zurück und bedauerte, ihn nicht wiedergesehen zu haben. Nicht versucht zu haben, ihn zu verstehen, Oder mit ihm zu reden, früher“ (Eribon 2016, 237).

II
Eribon schafft es, autobiographisches Material mit sozialen, politischen, kulturellen sowie ökonomischen (in seinem Fall mit wissenschaftspolitischen) Verhältnissen zu verknüpfen. So bleibt er nicht bei einem abstrakten oder pseudokonkreten Gerede von den „Gewalt der sozialen Welt“ (ebd.), sondern schildert sie an Menschen, die er kannte: seinen Geschwistern, seinem Vater, seiner Mutter, seinen Großeltern; nicht zuletzt an sich selbst. Die bereits erwähnte Begegnung mit dem berühmten Soziologen Aron illustriert besser als viele akademische Nacherzählungen das, was Pierre Bourdieu mit seinem Habitusbegriff sagen will.

III
Eribon stellt Fragen, ohne sie beantworten zu können. Er erläutert seine Vorannahmen, korrigiert sie und zeigt mir als Leser einen Weg, sich fragend, lesend und arbeitend die Welt zu erschließen. Sätze werden als Angebote zum Gespräch formuliert, nicht als Kleinkalibergewehre, die den Kampf gewinnen sollen. Eribon will nicht beweisen, nicht rechthaben – er erzählt uns (s)eine Geschichte(n) und wir können uns dazu unsere Geschichten einfallen lassen.

Beweisen, begründen, rechthaben: Die Grammatik und die Sprache des Kleinkalibergewehrs fand ich paradoxerweise in einer Rezension zu Eribons Buch im express, einer Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, geschrieben von dem Historiker Rudolf Walther:

„Das Buch ist als Autobiografie angelegt so wie frühere, aber dann vernichtete Ansätze, mit denen er sich als Romancier versuchte… Da ihm die literarische Darstellung seines Lebens nicht gelang, garniert Eribon im vorliegenden Buch den Bericht über Bildungsgang und Leben sozialwissenschaftlich… Das geht freilich nicht ab ohne akademisch verbrämte Trivialitäten in jeder Preislage… Die banale Einsicht, dass jeder Akt der Befreiung eine Negation des Alten und zugleich eine Affirmation von Neuem bedeutet, kommt kunstgewerblich aufgemotzt … daher. Das allein genügt dem ehrgeizigen Autor freilich nicht. Aber in seiner Rolle als Sozialwissenschaftler sollte er gelernt haben, … nicht einfach von seiner Familie auf die französische >Arbeiterklasse< und die >populären Klassen< kurzzuschließen… Man sollte Eribons Porträt seiner tapferen Mutter anerkennen, seine Autobiographie sensibel nennen und den Rest des Buches ganz schnell vergessen“ (Walther 2017, 11). Hier schreibt einer von oben herab, einer, der es immer schon besser weiß und besser wusste. Diese Art zu schreiben und zu argumentieren ist auf Vernichtung (in diesem Fall des geschriebenen Materials) angelegt, nicht auf Lernen und Dialog, nicht auf Freundschaft und Verstehen hin: linkssektiererisches Beißen eines vorgeblich kritischen Journalisten gegen einen, den er zum Gegner, ja zum Feind, erklärt hat. Was Rudolf Walther in seiner Argumentation völlig fehlt, zeichnet Eribons Denk- und Schreibweise im Übermaß aus (wenn es davon ein Übermaß geben kann): die Fähigkeit des Perspektivenwechsels – in den Worten Hannah Arendts: „Diese Art von Verständnis – die Fähigkeit, die Dinge vom Standpunkt des anderen aus zu sehen, wie wir es gern ein wenig trivial formulieren – ist die politische Einsicht par excellence“ (Arendt 2016, 53).

Klaus Theweleit nennt solcherart nicht-dialogisches Schreiben und Reden gegen andere die „Beweisrede“; und er findet sie vor allem bei den neuen völkischen Bewegungen sowie bei Islamisten. Als Beispiel dient ihm der Norweger Breivik, der ein Pamphlet schrieb, das er der Weltöffentlichkeit bekanntmachen wollte, indem er mehr als 70 sozialistische Jugendliche ermordete: „Begründen – also in kausale Satzzusammenhänge bringen – lässt sich alles; buchstäblich ALLES! Breiviks Rede belegt das bestens. Alles ist >bestens belegt<. Irrtümer ausgeschlossen. Eben das sollte uns etwas mehr >lehren< als bloß dem Impuls zu folgen, Breiviks Reden zu widerlegen – oder die eines anderen … Redners. Die >Beweisrede<, die nichts anderes sein will als eine Beweisrede des >Rechthabens< im eigenen Standpunkt und nichts weiter im Schilde führt als eben diese Rechtfertigung der eigenen Handlungen, ist gewalttätig. … Eine zivilisierte Rede setzt sich mit den Reden anderer, wer sie auch seien, auseinander; nimmt ihre Gefühle wahr und nimmt sie … ernst… Eine solche Rede entwickelt damit notwendig andere grammatische Strukturen und andere Sprechweisen“ (Theweleit 2015, 140).

Nebenbei: Walther kann seine Homophobie kaum verhehlen. Während er über den von ihm gelobten Pierre Bourdieu schreibt, dieser habe sich „als ehemaliger Rugbyspieler buchstäblich in die intellektuelle Elite hochgekämpft“ (ebd.), weiß er von Eribon zu berichten (woher hat er dieses Wissen?), dass dieser „nicht so ganz erfolgreiche“, mit seiner Promotion Gescheiterte „dank der Hilfe aus der schwulen Subkultur“ journalistisch arbeiten konnte und in den USA Gastprofessor auf dem Gebiet der Genderforschung werden konnte, „die an amerikanischen Universitäten gerade Hochkonjunktur hatte (ebd.)“.

Links und rechts

„Reisst euch / aus der Genügsamkeit
Erwartet nicht / dass euch zu helfen ist
wenn ihr euch selbst nicht helft
Beginnet eure eigene Zeit
und macht euch auf den Weg“
(Peter Weiss 1981, 143)

Da ich weiß, dass nach mir andere Redner über die Frage sprechen werden, ob „die Linke“ in Deutschland in den letzten dreißig, vierzig Jahren versagt hat bzw. ob sie einen Anteil daran hat, dass die völkisch-nationalen sowie die neofaschistischen Bewegungen und Parteien entstehen konnten (weil „die Linke“ Fehler gemacht haben soll), möchte ich dazu nur wenig sagen. Allerdings finde ich es notwendig, darüber zu reden (und in Eribons Buch klingt auch dieser Gedanke an), ob es überhaupt sinnvoll ist, von „links“ und „rechts“ zu sprechen.

Die Begriffe rechts bzw. links bezeichnen nichts anderes als unsere jeweiligen Körperhälften bzw. je eine Seite eines Raums, in dem das sprechende Ich scheinbar in der Mitte steht. Das ergibt so eigenwillige Paradoxa, dass – was die parteipolitische Landschaft betrifft – alle gerne in der Mitte angesiedelt sein wollen und keinesfalls zu rechts oder zu links sein wollen, ohne genauer festlegen zu können, was das genau bedeuten soll. Rechts und links funktionieren wie Container-Wörter, in die hinein jede_r abladen kann, was er/sie darunter versteht. So denkt Oskar Negt, eine neue gesellschaftliche Reformoffensive könne entstehen, wenn die „vereinigte Linke, zu der LINKE, SPD und GRÜNE gehören, ihre Machtpotenziale nutzen“ (ND4.6.2016). Die Bundesvorsitzende der GRÜNEN, Sabine Peter, ist gar der Meinung, es gäbe „zurzeit keine linkere Partei als uns selbst“ (Freitag 16.6.2016). Katja Kipping, Vorsitzende der LINKEN, ist der Meinung, die AfD propagiere „rechte Gedankenwelten“ (Freitag 25.5.2016) und plädiert für einen „linken Aufbruch“ (Konkret 5/15, 3). Olaf Scholz, SPD-Bürgermeister Hamburgs, meint, „solange die AfD >nur< rechtspopulistisch ist, sollten wir sie nicht als Nazis bezeichnen“ (FAZ 17.5.2016); Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg, ist der Meinung, ein Teil der AfD sei „rechtsradikal, den muss man in der Tat dämonisieren, aber alle anderen nicht“ (FAZ 12.5.2016). Die FAZ (mit ihrem Herausgeber Berthold Kohler) bemüht sich fast täglich, die AfD davor zu bewahren, als rechtsextrem eingestuft zu werden: „Die Anwendung des alten Tricks, rechts mit rechtsextrem gleichzusetzen, wirkt vielmehr kontraproduktiv“. Diejenigen, die das machten, würden dazu beitragen, „dass ihnen (der AfD –kw-) noch mehr Bürger aus dem gemäßigten Lager“ zugetrieben würden (FAZ 27.4.2016). Rechts und links: Kategorien, die für viele vieles bedeuten können (semantische Fülle), inhaltlich aber nicht eindeutig definiert werden können (semiotische Leere).

Ein Problem der Rechts-Links-Mitte-Anordnung ist, dass damit politische Inhalte entnannt werden: So kann es passieren, dass jemand Sätze sagen kann wie „Wer unser Gastrecht missbraucht, hat Gastrecht verwirkt“ (Sahra Wagenknecht 2016), und wir gehen erst Mal davon aus, dass das menschenfeindliche und rechtlich bedenkliche Formulierungen sind. Wenn nun bekannt wird, dass diese Sätze von einer „Linken“ sind, beginnen Überlegungen wie: „Aus welchen Gründen hat die das gesagt?“ oder „Vielleicht hat sie es gar nicht so gemeint“ usw. Ob diese Sätze lediglich als „zu rechts“ für Linke eingestuft werden oder nicht, spielt keine Rolle. Bedeutender wäre es, über das zu sprechen, was die Sätze und damit ihre Sprecher_innen aussagen. Sahra Wagenknecht vergleicht Flüchtlinge mit prekärem Aufenthaltsstatus mit „Gästen“ (die auch jederzeit wieder nach Hause gehen können) und mobilisiert damit den Volk/Gegenvolk-Zusammenhang; andere Politiker_innen gehen einen Schritt weiter und propagieren verbal handgreifliche Gewalt, um dem „Flüchtlingsproblem“ abzuhelfen. Wenn – wie im Frühjahr 2016 geschehen – die Forderungen der AfD durch die große Koalition faktisch in das Integrationsgesetz übernommen worden sind: verpflichtende Sprachkurse; bei Nichtteilnahme Kürzung der Sozialleistungen, 1-Euro-Jobs für Migrant_innen etc. (vgl. Korsch & Wölk 2014, 26), so hilft uns analytisch das Links-rechts-Mitte-Schema nicht weiter: Erzeugung einer Menschengruppe zweiter Klasse, völkische Forderungen nach Anerkennung „deutscher Werte“, Zerstörung menschenwürdigen Lebens durch Entzug des notwendigen Lebensunterhalts – erst die Benennung des Sachverhalts zeigt die inhaltliche Ausrichtung politischer Handlungen an. Der eigene Standpunkt muss in Bezug auf die konkrete Sache inhaltlich benannt werden – dann werden „rechts“, „links“ und „Mitte“ als Standortbezeichnungen überflüssig. Der Zusatznutzen, wenn wir anstatt von links und rechts mit durchdachten und analytisch brauchbaren Kategorien reden, ist der, dass „der ganze mögliche Reichtum, die ganze Vielfalt meines Denkens und Handelns (nicht, -kw-) dieser primitiven Zweitönigkeit geopfert und unter ihr verschüttet und versargt wird“ (Jäger 2015, 103), wie es der Berliner Journalist Michael Jäger zum Ausdruck bringt.

Anstatt hier also über die „Fehler der Linken“ zu sprechen, möchte ich lieber auf drei implizite Vorschläge verweisen, die in Eribons Buch „schlummern“.

Erstens: Die Veränderung der Produktions- und Lebensweisen im Zeitalter des Neoliberalismus als Grundlage zu denken für z.B. auch das Aufkommen neofaschistischer und völkisch-nationaler Bewegungen wird m.E. nur selten – auch innerhalb der Gewerkschaftsdiskussionen – zum Thema gemacht. Ich meine damit nicht die vulgärmarxistische und verelendungstheoretische Position, das soziale Elend der Menschen (egal, ob damit prekäre Arbeitsplätze oder ein Hartz-IV-Dasein gemeint ist) führe quasi automatisch dazu, dass sich die Subjekte einen starken Staat, ein reinzuhaltendes deutsches Volk und damit die Vertreibung der Flüchtlinge etc. wünschen. Ich denke, dass der Vorschlag Eribons, die Arbeits- und Lebenswelt der von den Politiker_innen so genannten „kleinen Leute“ in den Blick zu nehmen, viel umfassender gemeint ist. Ich kann das nur aus meinem Arbeitsbereich – der Ausbildung von Sozialarbeiter_innen an der Hochschule München beleuchten: Wie heute üblich werden die Student_innen mit Modulen „gespeist“, in denen alle möglichen Inhalte, die auch für die berufliche Praxis sinnvoll sein mögen, abgebildet sind. Was aber vollkommen fehlt – und das bei einem Berufsstand, der sich weitgehend mit der „Reparatur“ vieler von der kapitalistischen Wirtschaftsweise erzeugten kaputten, verzweifelten, verelendeten Subjekten beschäftigt – ist das Feld der eigenen zukünftigen Arbeitswelt. Themen wie Betriebs- und Personalratsgründung bzw. die Mitarbeit darin, Personalführung, Mobbing, psychische Gesundheit am Arbeitsplatz etc. spielen in der Ausbildung für diesen Beruf (der immerhin eine der höchsten Burning-Out-Quoten aller Berufszweige hat) keine Rolle. Noch weniger werden die Zustände in den Produktionsbetrieben und den Dienstleistungsorganisationen sowie die Logiken der körperlichen, psychischen und sozialen Ausbeutung im modernen, digitalisierten Kapitalismus benannt. Dazu Eribon: „Es ist mir völlig unbegreiflich, wie die extreme Härte solcher Arbeitsformen und der Protest gegen sie … aus der Vorstellungswelt und dem Vokabular der Linken verschwinden konnten, obwohl gerade hier die konkrete Existenz der Menschen – ihre Gesundheit zum Beispiel – auf dem Spiel steht“ (Eribon 2016, 79).

Zweitens: „Die Beherrschten haben kein >spontanes Wissen<, oder, genauer, ihr spontanes Wissen hat keine stabile Bedeutung oder politische Bindung. Die Stellung innerhalb des sozialen Gefüges und der Arbeitswelt bestimmt noch kein >Klasseninteresse< und sorgt auch nicht automatisch dafür, dass die Menschen als das ihre wahrnehmen. Dazu bedarf es vermittelnder Theorien, mit denen Parteien und soziale Bewegungen eine bestimmte Sichtweise auf die Welt anbieten. Solche Theorien verleihen den gelebten Erfahrungen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Form und einen Sinn, und die selben Erfahrungen können ganz unterschiedlich interpretiert werden, je nachdem, welcher Theorie … man sich gerade zuwendet, um … einen Halt zu finden“ (Eribon 2016, 143). Mit Antonio Gramsci könnte ich davon sprechen, dass die „Beherrschten“ an ihrer Seite „organische Intellektuelle“ brauchen, die den subaltern Gehaltenen für ihr Befreiungsreden- und handeln „den Resonanzraum sichern“ (Demirović & Jehle 2004, 1276). Eribons Überlegung ist nun, dass die „Linke“ (die er an keiner Stelle genauer definiert) in den letzten 30 Jahren nur selten daran interessiert war, diese Funktion des theoretischen und praktischen Organisators eines Resonanzraums einzunehmen. Auch das will ich an einem Beispiel meiner Heimatstadt erklären. Kolbermoor bestand seit seiner Gründung im Jahr 1863 weitgehend aus Fabrikarbeiter_innen. Die Kleinstadt war platziert zwischen dem aufstrebenden „Mittelzentrum“ Rosenheim und der bürgerlichen Kleinstadt Bad Aibling. Aus historischen und sozial-kulturellen Gründen gab es zu beiden Kommunen ein Verhältnis der Ablehnung bei gleichzeitigen Wunsch, eine ebenso „normale“ Stadt zu werden wie diese (Wie „unnormal“ Kolbermoor innerhalb bayerischer Verhältnisse war, ist daran zu erkennen, dass 1919 fast alle Einwohner_innen für die Räterepublik kämpften und Frauen wie Männer zur bewaffneten Verteidigung gegen die reaktionären Weißgardisten bereit waren; auch daran, dass nach 1945 noch immer eine starke KPD im Gemeinderat vertreten war). Gab es in den 1950er bis in die 1980er Jahre dort noch am Vorabend des 1. Mai eine eigene Maifeier mit Reden des sozialdemokratischen Bürgermeisters und des DGB-Kreisvorsitzenden, so wurde diese Maifeier – auch mit Unterstützung der Sozialdemokraten – langsam aber sicher abgelöst von der weiß-blauen Tradition des Maibaumaufstellens und einem damit verbundenen „Tanz in den Mai“ – genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Maikundgebung stattgefunden hatte. Getrieben vom Wunsch, eine normale oberbayerische Stadt zu werden (und den Ruf des „roten Kolbermoor“ loszuwerden), organisierten die Vertreter_innen der Arbeiterklasse durch Parolen wie „Präsentsein im vorpolitischen Raum“ etc. nichts anderes als einen Wechsel des Referenzraums: vorher rot – nachher weiß-blau. Der SPD-Bürgermeister, früher Mitglied der KP-Jugend (aber auch der NSDAP), warf einen Überlebenden des KZ Dachau (und aufrechten Kommunisten) vom Stuhl, als dieser ihn auf seine Vergangenheit ansprach (vgl. Weber 2002). Bei der Einweihung einer neuen Brücke in den 1970er Jahren unter Beisein des bayerischen Innenministers, vieler Landtagsabgeordneter und der örtlichen und überörtlichen Geistlichen stimmten einige der Arbeiter, die am Brückenbau beteiligt waren, die Internationale an. Anstatt sich zu freuen über das Klassenbewusstsein der Lohnarbeiter, waren den sozialdemokratischen Vertreter_innen Scham und Ärger ins Gesicht geschrieben.

Drittens: Wir sollten versuchen aufzuhören, unsere politische Tätigkeit im Rahmen einer Parteienlogik zu denken. Zudem sollten wir beginnen, unsere politischen Handlungen ins Konkrete hinein zu organisieren. Selbstverständlich brauchen wir Ziele. Ob das eine menschenwürdige Arbeit ist (was zur Abschaffung der Lohnarbeit und also zum Ende einer kapitalistischen Produktionsweise führen wird), ob das eine Gesellschaft ist, in der alle Menschen gleiche Rechte haben (was den Stolz und die Liebe zum eigenen Volk oder gar Vaterland überflüssig machen würde), ob das der Wunsch nach dem Ende aller Herrschaftssysteme mit Ausbeutung und Kriegen ist; für die tägliche politische Praxis ist es notwendig, auf idealistische Phrasen zu verzichten und konkret darüber zu reden, wer was wann wie warum tut. Slogans wie „Wir müssen den Rassismus und die Neofaschisten bekämpfen“ sind schnell aufgesagt; doch was bedeuteten sie konkret? Wer handelt wie, damit die Neofaschisten weniger werden, und wie soll das gehen, dass Rassismus – als struktureller Rahmen für subjektives rassistisches Reden und Tun – weniger wird? Viele glauben, es reicht, auf der richtigen Seite zu stehen. Doch dadurch gibt es keinen einzigen Neonazi, keinen Pegida-Anhänger und keine AfD-Frau weniger; und die Wir-sind-die-Guten-Haltung führt sicher nicht dazu, dass unsere „Gegner_innen“ über ihre Meinung und ihr Tun nachdenken würden. Wir – als Antifaschist_innen, als Internationalist_innenen, als Pazifist_innen oder als Gewerkschafter_innen – sollten ehrlich Rechenschaft ablegen darüber, was wir wirklich tun, um der Faschisierung Deutschlands etwas entgegenzusetzen. Erst wenn wir eine Perspektive der revolutionären Realpolitik einnehmen (revolutionäre Ziele bei aller Klarheit darüber, dass wir im realen Leben die Schritte gehen müssen, die uns in Richtung unserer Ziele bringen), wie sie Rosa Luxemburg vorschlug, erst dann sollten wir von einem politischen Kampf – besser vielleicht noch: von harter politischer Arbeit – reden. Der einfach klingende Satz im Sinne Rosa Luxemburgs: „Notwendige Dimension revolutionärer Realpolitik ist der Bezug der Tagesaufgaben auf das sozialistische Fernziel“ (Haug 2007, 63) bedeutet, dass wir uns selbst und die an einer Gesellschaftsveränderung arbeitenden Subjekte als diejenigen verstehen, welche neue Verhältnisse in allen Lebensbereichen schaffen können; gegen jegliche Erwartung auf eine_n von „oben“, der oder die uns die Sache abnimmt. Dazu ist es notwendig aufzuhören, SPD und GRÜNE als fortschrittliche Parteien oder ähnliches zu betrachten. Was die SPD betrifft, so kenne ich keinen Genossen mehr – und mag ich ihn noch so gut leiden – der eine kapitalismusüberwindende Zielvorstellung hat. Immerhin: Viele Sozialdemokrat_innen können ausnehmend gut und mit tausend Argumenten erklären, wieso der Feind (das kapitalistische Wirtschaftssystem) übermächtig und also es besser sei, ihm wenigstens eine Kleinigkeit abzutrotzen. Was die GRÜNEN betrifft, so ist die Theoriegeschichte dieser Partei weitgehend ein blinder Fleck. Wieland Elfferding, Philosoph und kritischer Journalist beim Freitag, schreibt über die Geschichte dieser inzwischen auf Seiten der Herrschenden „angekommenen“ Partei: „Im Verlaufe dieses Prozesses amputierte sich die grüne Bewegung so ziemlich alles, womit sie sich in breiten Kreisen der Bevölkerung hätte verwurzeln und wodurch sie eine bewegende politische Kraft hätte bleiben können… Dabei scheute die grüne Bewegung die Theorie wie der Teufel das Weihwasser – vermutlich ein alberner Affekt gegen die 1968er-Intellektuellen“ (Elfferding 2015, 74). Ökologisch, basisdemokratisch, gewaltfrei: Das waren die Anfangsmetaphern für eine Ende der 1970er Jahren neue Partei. Es scheint nur wenig übertrieben, wenn konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza schreibt: „Wenn sie dafür ihre Dienstwagen behalten dürfen, bauen die GRÜNEN zehn neue Atomkraftwerke und erklären Russland den Krieg“ (Gremliza 2016, 40).

Machen wir uns nichts vor: Antikapitalist_innen sind auch innerhalb der Gewerkschaften selten, Marxist_innen noch seltener. Der aktuell in den Kinos laufende Film „Der junge Marx“ zeigt in eindrücklichen Bildern, welchen Kraftakt es – theoretisch wie praktisch – bedeutet, Klarheit über die Verhältnisse zu erringen. Arbeiten, arbeiten, arbeiten: am Schreibtisch, auf öffentlichen Plätzen und in Versammlungen. Marx bleibt am Material, an der Wirklichkeit, am Konkreten – um die Oberfläche des Alltags zu durchdringen, das richtige Leben in den falschen Verhältnissen zu verstehen – und immer wieder: für die Ausgebeuteten und Verelendeten die Stimme zu erheben; gegen diejenigen, welche Ausbeutung als „Schaffung von Arbeitsplätzen“ bezeichnen.

 

Am Ende ein Vorschlag: Lasst uns Kommunist_innen werden

Einer meiner Großväter war Kommunist; geboren in Wuppertal und Sohn einer Arbeiterfamilie. Er wählte – solange es ging, bis 1956 – KPD, anschließend die DKP. Seine Frau wählte auch nach seinem Tod noch die DDR-kompatible DKP – aus Gewohnheit und als letzte Verbeugung vor ihrem toten Mann. Mein Großvater mütterlicherseits war Soldat, der gerne für die Nazis kämpfte und beim Frankreichfeldzug stolz in seinem Kriegstagebuch verzeichnete: „Nieder mit den Plutokraten“ – geziert mit einem Hakenkreuz. Als Großvater war er wunderbar; politisch wählte er – wie mein Vater und meine Mutter auch – sozialdemokratisch. Die kommunistische Großmutter flüsterte mir noch vor der Pubertät wohlwollend ins Ohr: „Wenn Du immer sagst, was Du denkst, wirst Du anecken und am Schluss Kommunist sein“. Die andere dagegen rief in Situationen, in denen ich eine eigene Meinung vertrat: „Pass auf, wenn Du so weitermachst, kommst Du als Kommunist ins Gefängnis. Aber besuchen tu ich Dich schon“. Ich war also schon Kommunist und im Gefängnis, bevor ich wissen konnte, was das bedeutete: Kommunist sein. In der Benutzung des Worts Kommunist durch meine Großmütter drückt sich das aus, was Eribon den „Grat zwischen der verletzenden und der stolzen, angeeigneten Bedeutung eines Schimpfworts“ (Eribon 2016, 218) nennt: Auf der einen Seite die Anerkennung der Tatsache, dass es gefährlich, aber sinnvoll sein kann, gegen das herrschende System zu revoltieren; auf der anderen Seite die unbedingte Klarheit darüber, dass die Missachtung der herrschenden Ordnung quasi automatisch ins Gefängnis führen wird. Warum auch immer – das kann an anderer Stelle erzählt werden -; ich bin trotz mehr als einem Dutzend Strafprozessen, die ich durch die gewissenhafte Arbeit des bayerischen Staatsschutzes in Kombination mit dessen Blindheit auf dem rechten Auge ertragen musste, nie ins Gefängnis gekommen; noch nicht einmal zur Untersuchungshaft haben meine politischen Delikte gereicht.

Mit Kommunismus habe ich allerdings nie – das mag mit den großmütterlichen Bedeutungen zusammenhängen – die bürokratisch-sozialistischen Regimes im Osten verstanden. Von Anfang an war mein Gedanke, dass diese „Welt der Gerechtigkeit“, in der wir selbst unsere Angelegenheiten regeln, in einer nahen oder fernen Zukunft liegen wird. Kein Wunder, dass mir also sehr früh Ernst Blochs Prinzip Hoffnung in die Hände fiel und ich mir darin den Satz anstrich: „Und die Aufhebung des Proletariats, sobald es nicht nur als Klasse, sondern ebenso, wie Marx lehrt, als schärfstes Symptom der menschlichen Selbstentfremdung gefasst wird, ist ohne Zweifel ein langer Akt: die völlige Aufhebung dieser Art fällt mit dem letzten Akt des Kommunismus zusammen“ (Bloch 1959, 327). Die Frage von Haupt- und Nebenwiderspruch – ob also die ökonomische Ausbeutung wichtiger ist als andere Logiken der Unterdrückung oder ob sie gleich bedeutsam sind – ist für Bloch zweitrangig.

Auch bei Eribon wird dieser Gedanke stark gemacht: „Aber warum sollten wir zwischen verschiedenen Kämpfen gegen verschiedene Formen der Unterdrückung wählen müssen? Wenn das, was wir sind, sich an der Schnittstelle mehrerer kollektiver Bestimmtheiten … und Subjektivierungsweisen abspielt, warum sollten wir dann eher die eine als die andere in den Brennpunkt des politischen Interesses stellen?“ (Eribon 2016, 235). Die sexuellen, die ethnischen, die sozialen Verhältnisse (in alter Sprache also: Rasse, Klasse, Geschlecht) sind ebenso wie alle anderen Bereiche unseres Alltagslebens durchdrungen von der Logik kapitalistischer Warenproduktion, -distribution und –konsumtion. „Alle diese Dimensionen sind unauflösbar miteinander verbunden und überschneiden sich“ (ebd., 218), schreibt Eribon. Die Herstellung von Gemeinsamkeiten und Bündnissen der verschiedenen unterdrückten, entfremdeten, erniedrigten und geknechteten Menschen gegen die fast unsichtbare Herrschaft der Kapitallogik ist unsere einzige Chance. Einer meiner deutschen Lieblingsautoren, Christian Geissler, unbeirrbar in seiner konkret-praktischen Solidarität mit allen Unterdrückten weltweit, schrieb für diejenigen, welche die mühselige Arbeit, die tägliche Anstrengung des Widerstehens, des Begreifenwollens, des Nichtunterordnens auf sich nehmen, folgende Losung:

„denn so ist das
so ist das auch heute unter uns kommunisten.
sind in der misere – in gleicher grundIdee befindlich.
Haben viel zu kapieren.
und was ist die grund’idee?
Uralt die freude auf den menschen.
und entschlossen die feindschaft gegen die, die ihn kaufen oder vernichten“
(Geissler 2016, 19).

„Wo es um nichts geht, kann man einer Sache auch nicht folgen“ (Eribon 2016, 171), schreibt Didier Eribon. Und heute und hier geht es um alles: um uns, um die Menschen und um unsere Welt. Sie denen zu entreißen, welche diese Welt und die darauf lebenden Menschen zerstören, vernichten und verkaufen, ist eine Lebensaufgabe. Und gegen alle Herrschaft und gegen jegliche Hoffnung auf einen neuen Messias – möge er auch sozialdemokratisch sein –, gegen Götter, Kaiser und Führer gilt: Sie alle werden uns nicht „retten“[8]. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.

Der Artikel ist die überarbeite Fassung eines Vortrags auf einem Tagesseminar des DGB Bildungswerks Bayern e.V. am 18.3.2017 mit dem Thema: Didier Eribon: „Rückkehr nach Reims“. Die arbeitenden Klassen und die Rechte.

Dieser Beitrag ist Teil einer Reihe von Artikeln, mit der wir an dieser Stelle die DEBATTE ZU ERIBONS »RÜCKKEHR NACH REIMS« weiterführen.