nicht zu einem ›Ende der Ideologien‹ oder einer Konvergenz von Kapitalismus und Sozialismus, wie man geglaubt hatte, sondern zu einem klaren Triumph des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus« (1990, 3). Mit der Weltwirtschaftskrise, der im Gefolge der Krise ansteigenden Armut und Unsicherheit in der Welt und der schamlosen Bereicherung der Reichen und Mächtigen ist der »Kapitalismus« wieder ins Gerede gekommen – auch in der Politik und den Sozialwissenschaften.
EIGENTUM UND POLITIK
Hier wird von verschiedenen Seiten eine »Krise der Demokratie« festgestellt: Der britische Soziologe Colin Crouch spricht von »Postdemokratie«1 (2008); der ehemalige Arbeitsminister von Bill Clinton, Robert Reich, schreibt über den »Superkapitalismus«, der »unsere Demokratie untergräbt« (2008, 10). In Deutschland hat die Debatte über den »Notstand der Demokratie« erst zaghaft begonnen, obwohl die Eingriffe in die Grundrechte der Bürger auf der einen und die Verfallserscheinungen demokratischer Kultur auf der andern Seite deutlich zugenommen haben (vgl. Deppe/Schmitthenner/Urban 2008; Fisahn 2007; Fisahn 2008, 320ff). Andererseits zeigt sich die Renaissance eines staatsautoritären Denkens in der Tradition von Carl Schmitt, das der – von Ex-Innenminister Schäuble empfohlene – Verfassungsrechtler Otto Depenheuer (2007) verfolgt. Angesichts der vermeintlichen »Bedrohung durch den Terrorismus« fordert er, dass der »Ausnahmezustand« zu einem »Paradigma des Regierens« werden muss und plädiert für die Verselbständigung bzw. Kompetenzerweiterung der Exekutivapparate, die für die »Staatssicherheit« zuständig sind.
Ökonomie und Politik funktionieren zwar nach eigenen Codes (Geld/Gewinn; Macht/Mehrheit), aber sie stehen in wechselseitiger Abhängigkeit. Historisch ist der Zusammenhang deutlich: Wo sich frühe Formen einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung entwickelten und durchsetzten – genauer: in England seit dem 17. Jahrhundert –, entwickelte sich (im Gefolge der so genannten »Glorious Revolution« von 1688) die repräsentative Demokratie als eine Form der Staatsorganisation.
C.B. Macpherson hat gezeigt, wie sich im 17. Jahrhundert die Herausbildung einer Eigentümer-Marktgesellschaft auf der Ebene des politischen Denkens reflektiert: Thomas Hobbes konstruiert den starken »Leviathan«, der Staat, der durch den Vertrag freier und vernünftiger Individuen geschaffen wird, als Voraussetzung für die Sicherheit der Bürger und ihres Eigentums, also für das Funktionieren einer Rechtsordnung. Für John Locke tritt die Frage in den Mittelpunkt, wie die bürgerliche Klasse, deren Privateigentum zu einem vorstaatlichen Naturrecht erklärt wird, Einfluss auf die Staatsgeschäfte nehmen kann und die Macht der staatlichen Zentralgewalt begrenzt wird. »Die Gesellschaft wird zu einer Anzahl freier und gleicher Individuen, die zueinander in Beziehung stehen als Eigentümer ihrer eigenen Fähigkeiten und dessen, was sie durch deren Anwendung erwerben. Die Gesellschaft besteht aus Tauschbeziehungen zwischen Eigentümern. Der Staat wird zu einem kalkulierten Mittel zum Schutz dieses Eigentums und der Aufrechterhaltung einer geordneten Tauschbeziehung« (Macpherson 1973, 15).
Darin ist schon – wie Franz Neumann in seiner Studie über die »Herrschaft des Gesetzes« (1936) gezeigt hat – der Widerspruch angelegt, dass die Bürger einerseits vor den Eingriffen des Staates geschützt werden wollen, andererseits die Souveränität des Staates und des »allgemeinen Gesetzes« – als unabdingbare Voraussetzung von Eigentum und Sicherheit – akzeptieren müssen. Marx (MEW 1, 363ff) hatte dies mit der Doppelung des bürgerlichen Individuums in die Rollen des Bourgeois (ökonomisch) und des Citoyen (politisch) umschrieben. In liberaler Lesart2 wird politische und ökonomische Freiheit als gegenseitige Voraussetzung gefasst. Milton Friedman, einer der Vordenker des Neoliberalismus, sieht im »wettbewerblich organisierte[n] Kapitalismus [...] ein System von wirtschaftlicher und politischer Freiheit und eine notwendige Bedingung für politische Freiheit« (1976, 22).
Angesichte der Geschichte von Demokratie und Kapitalismus müssen solche Positionen als durch und durch ideologisch gelten. Immerhin werden bei Macpherson neben Hobbes und Locke auch die »Levellers« und Harrington gewürdigt, also frü- he sozialistische bzw. utopisch kommunistische Bewegungen und deren Ideologen3 . Die Herausbildung von Elementen der bürgerlichen Klassengesellschaft – noch im überwiegenden Milieu feudaler Herrschaftsverhältnisse – ging stets einher mit der Forderung a) nach radikaler Demokratie von unten (als Voraussetzung der Selbstherrschaft des Volkes), und nach einer demokratisch legitimierten Staatsgewalt, die b) ihre Macht dazu benutzt, die soziale Ungleichheit und die Machtansprüche des Reichtums zu beseitigen. Schon früh war deutlich, dass die ans Privateigentum gebundene Freiheit partikularen Interessen dient, während der durch die Demokratie legitimierte »allgemeine Wille« (volonté générale) des Gesetzes stets auch die Macht zur Beschränkung dieser partikularen Interessen zur Voraussetzung hat. Luciano Canfora (2006) hat gezeigt, wie die durch Eigentum privilegierten Klassen seit der Antike die demokratische Herrschaftsform immer nur insoweit unterstützt haben, als diese nicht zu einer Bedrohung ihrer Eigentumsprivilegien wurde. In der »Bonapartismustheorie« von Marx wurde – vor dem Hintergrund des Scheiterns der Revolution von 1848 in Frankreich – dieser Befund für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft konkretisiert: Wenn die Bourgeoise ihre gesellschaftlich-ökonomische Macht durch die Arbeiterklasse (und durch die proletarische Revolution) bedroht sieht, ist sie bereit, auf ihre direkte politische Macht zu verzichten bzw. diese an eine autoritäre Diktatur zu übertragen (MEW 8, 154ff).
FREIHEIT, GLEICHHEIT UND SOLIDARITÄT
Dieser Widerspruch entfaltet sich im Prozess der bürgerlichen Revolutionen. Die Losung »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (Solidarität)« von 1789 wurde von den großen Systemen des politischen Denkens seit dem 19. Jahrhundert – Liberalismus und Sozialismus – unterschiedlich, ja gegensätzlich interpretiert. Für den Liberalismus bedeutete Freiheit die Aufhebung der »feudalen Fesseln« – politische Selbstbestimmung der bürgerlichen Klasse gegen die absolutistische Monarchie und Herstellung der freien Mobilität der Arbeitskraft (auf dem »Arbeitsmarkt«, Aufhebung der Leibeigenschaft und der Sklavenarbeit). Die Gleichheit bezog sich im Wesentlichen auf die Rechtsgleichheit, keineswegs auf die politische Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger: Das allgemeine und gleiche Wahlrecht wurde (gegen den Wahlzensus) erst im 20. Jahrhundert durch die Arbeiterbewegung durchgesetzt. »Demokratie« war im 19. Jahrhundert die Losung der Linken, für viele ein Synonym für Sozialismus (vgl. Rosenberg). Der Gleichheitsbegriff des Liberalismus bezieht sich ausdrücklich (bis heute) nicht auf die Wirtschaft und die Gesellschaft. Für die Linke bedeutete der Dreiklang von »Freiheit, Gleichheit und Solidarität« zuerst, dass Freiheit (auch des Einzelnen) nur unter der Voraussetzung ökonomischer Gleichheit und Sicherheit bestehen kann, dass die Freiheits- und Bürgerrechte (die mit den Erklärungen der Menschenrechte proklamiert worden waren) tatsächliche universelle Geltung beanspruchen können, dass gegen die Gesetze der individualistischen Marktkonkurrenz in der Gesellschaft solidarische Beziehungen und soziale Sicherungen gleichsam eingebaut sein müssen. Der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi hat die Katastrophen des frühen 20. Jahrhunderts auf die Verselbstständigung der Marktkräfte gegenüber ihrer gesellschaftlichen »Einbettung« zurückgeführt. Freiheit steht für ihn in einem direkten Zusammenhang mit der Kontrolle der Märkte. »Bürgerrechte, die bisher nicht anerkannt wurden, müssen dem Staatsgrundgesetz einverleibt werden [...] Das Ende der Marktwirtschaft könnte der Anfang einer Ära nie da gewesener Freiheit bedeuten [...] Freiheit, nicht nur als ein schon vom Ansatz her pervertiertes Recht der Privilegierten, sondern als ein verbrieftes Recht, das weit über die engen Grenzen des politischen Bereichs in die innere Struktur der Gesellschaft reicht« (Polanyi 1978, 335ff).
Die Beziehung von Kapitalismus und Demokratie, auch das Demokratieverständnis selbst, kann also keineswegs so naiv gedeutet werden, wie es Fukuyama und Friedman (und ihre zahllosen Adepten) verkünden. Diese Beziehung und damit das Verständnis von Demokratie selbst sind vielmehr durch Widersprüche charakterisiert, die in den politischen und sozialen Kämpfen bis in die Gegenwart immer wieder aufbrechen und (entsprechend den konkret historischen Zeitumständen) variiert werden. Die Doppelrolle des Bourgeois und Citoyen, die der junge Marx herausgestellt hatte, markiert einen Grundwiderspruch bürgerlicher Demokratie: Die formelle Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger (die allerdings vor der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechtes keineswegs gegeben war) steht in einem Strukturkonflikt mit der sozialen Ungleichheit zwischen Produktionsmittelbesitzern und Lohnarbeitern. Diese gesellschaftliche Ungleichheit (zwischen den Klassen) wiederum bildet die Basis der politischen Machtverhältnisse, die sich im Staat zusammenfassen.4 Die Kämpfe der Subalternen zielen darauf, mit der Ausweitung der Demokratie auf die Gesellschaft selbst diesen Strukturkonflikt aufzuheben. Marx fasste das als »die Rück nahme der Staatsgewalt durch die Volksmassen selbst« (Marx 1962, 543) und meinte damit eine kommunistische Perspektive. In der Realität hat sich diese nach 1917 ganz anders entwickelte.
In der reformistischen Perspektive der Sozialdemokratie ging es demgegenüber darum, ein Kräftegleichgewicht zwischen den Klassen verfassungsrechtlich festzuschreiben (und durch den demokratischen Staat zu sichern). Die Anerkennung des Privateigentums und des Marktes sollte mit der kollektiven Sicherung der Lohnabhängigen durch Gesetze, Tarifverträge und den modernen Wohlfahrtsstaat (einschließlich der »Vollbeschäftigung«) verbunden sein. Diese zeitweilige »Vermählung zwischen Demokratie und Liberalismus« (Göran Therborn) vollzog sich freilich erst in den Zeiten des »Golden Age«, des fordistischen Nachkriegskapitalismus. Die Ausgestaltung dieses Kompromisses ist stets ein Resultat des Klassenkampfes und der daran eingeschriebenen Entwicklung der jeweiligen – historisch konkreten – Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen. Wolfgang Abendroth hatte die (für das 20. Jahrhundert bestimmende) Grundproblematik des Verhältnisses von Klassenkampf, Arbeiterbewegung und Demokratie auf die Formel »Politische Demokratie und antagonistische Gesellschaft« gebracht (1967). Verfassungsfragen werden daher zum Terrain dieses Kampfes: Wie wird das Verhältnis zwischen den Marktfreiheiten und der Staatsintervention jeweils vermessen und inhaltlich bestimmt? Vor allem in den »großen Krisen« kapitalistischer Entwicklung, in denen die für eine Entwicklungsperiode charakteristische Regulationsweise der Kapitalakkumulation brüchig wird und das Verhältnis von Politik und Ökonomie neu vermessen werden muss, entscheidet die Dynamik und die Kraft der Klassenauseinandersetzungen darüber, welche Interessen sich jeweils durchsetzen.
Der britische Soziologe T.H. Marshall (1950) argumentiert, dass sich die Demokratie vor allem in Westeuropa und Nordamerika in verschiedenen Stufen entwickelt: von der Anerkennung der Individuen als Rechtssubjekte über politische Partizipationsrechte (allgemeines Wahlrecht, Koalitionsfreiheit) bis zu einem System sozialer Bürgerrechte. Das meint den modernen Wohlfahrtsstaat, den Marshall auf die Zeit nach 1945 (mit einer Vorgeschichte in der Zwischenkriegsperiode) bezieht. Esping-Anderson (1990) führt diese Linie fort und plädiert für eine sozialdemokratische, skandinavische Variante. Dieses Modell war Ergebnis des Wirkens der Arbeiterbewegung. Es zielte auf gesellschaftliche Integration, d.h. auf den Abbau der Klassenspaltung, auf die Herauslösung eines weiten nicht-kommodifizierten, d.h. nicht warenförmigen Sektors (und eines entsprechenden Arbeitsmarktes) aus dem kapitalistischen Wirtschaftssystem. Gesellschaftliche Integration bedeutet auch die Politisierung (und Organisierung) der Zivilgesellschaft. Mit den sozialen Interessenverbänden (z.B. die Gewerkschaften) bilden sich intermediäre Organisationen zwischen Gesellschaft und Staat im engeren Sinne. Für die Konservativen ist das ein Zeichen für die substanzielle Schwächung des Staates durch die Macht der organisierten Verbandsinteressen. Dagegen handelt es sich tatsächlich um Elemente einer Selbstverwaltung der Gesellschaft und damit einer Zurücknahme des Staates n die Gesellschaft. Infolge der Bürokratisierung der Verbandsmacht (und zum Teil von deren »Verstaatlichung«, d.h. Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln) sind diese Momente freilich in den Hintergrund getreten. Gleichzeitig konstituieren sie ein wichtiges Feld für den Kampf um Hegemonie: Gramsci betont dies mit dem Begriff vom »integralen Staat« (Gramsci H6, §§88,783).
WIDERSPRÜCHE
Das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie ist also äußerst spannungsreich. Der Grundwiderspruch zwischen formeller (politischer) Rechtsgleichheit und reeller (sozialökonomischer) Ungleichheit wird ergänzt durch weitere, von denen nur einige kurz benannt seien: Dazu gehört das Spannungsverhältnis zwischen (individueller) Freiheit und (staatlicher) Souveränität. Dieses bildet das Zentralthema konservativer Diskurse, die die Souveränität gegenüber den individuellen Freiheitsrechten aufwerten und die (angeblichen) Gefahren zügelloser individueller Freiheit (Anarchie) beschwören5 . Auf der anderen Seite ist die Geschichte der neueren Demokratie durchzogen vom Konflikt um die konkrete Form der Demokratie. Also: reprä- sentative oder plebiszitäre Demokratie, demokratisch legitimierte Elitenherrschaft oder »Selbstverwaltung« im Sinne einer Basisdemokratie, wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts im Rätesystem konzipiert wurde (Demirovi 2009). Elemente davon wirken in unseren Verfassungen (den Kommunalverfassungen und der Betriebsverfassung) ebenso noch nach wie autoritär-korporativistische Momente. Die neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre haben eine Öffnung der Verfassungen und der Wahlgesetzgebung für plebiszitäre Elemente durch Volksabstimmungen durchgesetzt. Noch in der Auseinandersetzung um die so genannte »europäische Verfassung« (Verfassungsvertrag, Lissabon-Vertrag) wurde die Forderung erhoben, das Demokratiedefizit der EU durch die Einfügung plebiszitärer Elemente in die Rechtsordnung der EU zumindest abzumindern.
KRISE UND DEMOKRATIE
Die Krise der Demokratie, von der heute vielfach die Rede ist, bezieht sich in erster Linie auf die Zurückdrängung oder Zurücknahme der Elemente einer sozialstaatlich legitimierten Demokratie im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Sie erscheint als Krise der Partizipation und als Krise der Legitimation, die sich nicht nur in der so genannten »Politikverdrossenheit«, sondern im Glaubwürdigkeitsverlust der »politischen Klasse und [in der] Attraktivität von antidemokratischen Wertorientierungen« zeigt (vgl. Deppe u.a. 2008, 19ff). Der Neoliberalismus hat vor allem jene Elemente der gesellschaftlichen Integration in Frage gestellt, die durch den modernen Wohlfahrtsstaat als universelle soziale Sicherungen (und als Bürgerrechte) durchgesetzt worden waren. Soziale Ungleichheit und soziale Unsicherheit (Robert Castel) fungieren bei ihm als Momente einer Wettbewerbsideologie, die Steigerung individueller Leistung und Anpassungsbereitschaft an die Anforderungen des Marktes propagiert.
Für Colin Crouch bilden sozialökonomische Veränderungen die Voraussetzung für den Erfolg dieser Politik: die Auflösung der industriellen Arbeiterklasse und ihrer Repräsentativorgane, der Gewerkschaften und der Arbeiterparteien. Damit wurde auch dem Korporatismus – als der dominanten Politikform wohlfahrtsstaatlicher Demokratien – die Basis entzogen. »Postdemokratie« bezeichnet also ein »neuartiges« Phänomen, bei dem die formalen Regeln der Demokratie (Wahlen, Parlamente) beibehalten werden, aber gleichzeitig die Machtverhältnisse und Entscheidungskompetenzen zugunsten der Wirtschaftseliten verschoben werden. Die »wichtigste Ursache für den Niedergang der Demokratie« besteht heute in dem »Ungleichgewicht zwischen der Rolle der Interessen der Unternehmen und denen aller übrigen Gruppen der Gesellschaft [...] dies führt zu einer Form der Politik, die wieder zu einer Angelegenheit geschlossener Eliten wird – so wie es in vordemokratischen Zeiten der Fall war« (Crouch 2008, 133). In dem Maße, wie sich diese Transformation durchsetzt, treten die Widersprüche und Spannungsfelder im Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus deutlicher zutage. Die Zunahme sozialer Ungleichheit (in internationalen Dimensionen) erzeugt Spannungen, die der Macht der Eliten gefährlich werden könnten – zumal dieses Drohpotenzial durch die ökonomischen Krisenprozesse der Gegenwart noch gewaltig gesteigert werden könnte. Demokratie bleibt nur dann stabil (»krisenfest«), wenn sie über die Sicherung der individuellen Freiheit und der Rechtstaatlichkeit hinaus die demokratischen Verfahren, die Gewaltenteilung garantiert – aber eben auch ein Programm sozialstaatlicher Sicherungen zum Abbau der sozialen Ungleichheit, zur Herstellung von Chancengleichheit und von Elementen der demokratischen Selbstverwaltung der Gesellschaft beinhaltet. Crouch konzentriert sich allerdings eher auf die politischen Phänomene der »Postdemokratie«, also auf den Machtverfall der reformistischen Abeiterbewegung, auf die Auflösung des fordistischen »Klassenkompromisses« und seiner korporatistischen Institutionalisierung. Die »Refeudalisierung«, die Crouch als den direkten Zugriff der Wirtschaftseliten – ihrer Lobbyisten, Anwälte, Werbeagenturen, der von ihnen bezahlten Journalisten, Wissenschaftler und Politik – wahrnimmt, ist jedoch nicht allein Resultat der Erosion korporatistischer Arrangements, sondern auch Folge der Anerkennung des Primats der Ökonomie, d.h. der Wettbewerbsfähigkeit und der so genannten Standortsicherung durch die Politik selbst. Der Zusammenhang zwischen dem krisenhaften Übergang vom Fordismus zum Finanzmarktkapitalismus und der Transformation der Demokratie ist durch den Nachweis, dass politische Entscheidungen und Gesetze durch Konzerne und Wirtschaftsverbände direkt beeinflusst werden6, nicht hinreichend zu erklären. Der transnationale Finanzmarktkapitalismus verfügt über verschiedene Hebel, um politische Entscheidungen – jenseits der parlamentarischen Gremien – direkt oder indirekt zu beeinflussen: Auf den internationalen Finanzmärkten (auf denen die institutionellen Anleger, die Banken und Versicherungen sowie die Rating Agenturen die wichtigsten Akteure sind) wirken die Kurse der Währungen, der Aktien, die Gewinne der Fonds, die Kapitalströme usw. direkt auf die nationale Politik und setzen sie unter Druck. Allein die Drohung von Kapitalflucht oder das »Downgrading« der Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens bzw. eines ganzen Landes durch die Rating-Agenturen und die Wirtschaftspresse vermochte in den letzten Jahren politische Entscheidungen über die Privatisierung öffentlicher Unternehmen bzw. über die Öffnung der sozialen Sicherungssysteme für private Anleger massiv zu beeinflussen. Gegen die Kritik von Pierre Bourdieu an der Herrschaft der Finanzmärkte – verbunden mit der Aufforderung an die streikenden Arbeiter in Frankreich, die Errungenschaften des modernen Wohlfahrtsstaates zu verteidigen –, verwies Hans Tietmeyer, der frühere Chef der Deutschen Bundesbank, auf die »wohltuenden« Wirkungen der internationalen Finanzmärkte: Sie seien in der Lage, gleichsam über Nacht (eben: durch Kapitalflucht) »falsche politische Entscheidungen« nationaler Gesetzgeber zu korrigieren. Diese Tendenz wird dadurch unterstützt, dass die Nationalstaaten durch die Internationalisierung von Staatsfunktionen durch Organisationen wie den IWF und die Weltbank, die Europäische Union (EU) und die Europäische Zentralbank gerade im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik Funktionen abgegeben haben, deren demokratische Kontrolle auf der internationalen Ebene nur noch schwach ist.
TENDENZEN ZUM AUTORITÄREN KAPITALISMUS
Die Tendenz zum autoritären Kapitalismus wird heute einerseits durch den seit Jahren betriebenen Ausbau des Sicherheitsstaates, d.h. durch den Ausbau der Kompetenzen von Exekutivorganen des Staates (Geheimdienste, BKA, Bundeswehr) vorangetrieben, denen erweiterte Zugriffe auf die Privatsphäre und die Freiheitsrechte der Bürger zugestanden werden (zur EU-Ebene vgl. Hayes 2009). Andererseits bleiben die demokratischen Institutionen sowie die Verfassungen selbst weitgehend intakt – mit anderen Worten: eine »bonapartistische« Variante wird derzeit innerhalb der Wirtschafts- und Machteliten nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Ihre billige Farce in Gestalt eines Berlusconi ist eher peinlich, obwohl der Verfall der alten Parteien (Anfang der 1990er Jahre), die tiefe Krise der politischen und gewerkschaftlichen Linken, die Medienmacht von Berlusconi und seine mafiösen Verstrickungen und sein Kampf gegen die Justiz wesentliche Elemente der Zerstörung der Demokratie (in Italien) zusammenfassen. Nach wie vor bremst allerdings die Schwäche der politischen wie der gesellschaftlichen Linken die Diktaturgelüste jener Fraktionen des herrschenden Blocks, die davon überzeugt sind, dass die Demokratie, der Parlamentarismus, eine kritische Öffentlichkeit und die Macht der zivilgesellschaftlichen Verbände einer entschlossenen Politik zur Rettung ihrer Vermögenswerte auf der einen und zur Durchsetzung ihrer Interessen auf dem Weltmarkt und in der Weltpolitik (nach dem Vorbild von George W. Bush und Dick Cheney) auf der anderen Seite entgegensteht. Die bisherigen Varianten des »Bonapartismus« versuchten stets, mit extrem nationalistischen und rassistischen Ideologien Masseneinfluss zu gewinnen.
Gleichwohl hat sich im Zuge der Globalisierung des Kapitalismus auch die herrschende Klasse internationalisiert. Chauvinistische Ideologien werden daher – weil sie auch ökonomisch kontraproduktiv sein könnten – durch universale »Kreuzzugsideologien« ersetzt, die nicht nur Gewalt nach außen legitimieren, sondern – wie John Gray (2009, 259) am Beispiel der USA unter Bush zeigt – mit einer »Erweiterung der Exekutiv-Befugnisse« nach innen einhergeht: »In den USA hat sich eine Verschiebung der Staatsform vollzogen, so dass sie heute irgendwo zwischen dem Rechtsstaat, der sie die meiste Zeit ihrer Geschichte waren, und einer Art illiberalen Demokratie stehen« (260).
Der Übergang zum »autoritären Kapitalismus« setzt sich mit dem »disziplinierenden Neoliberalismus« durch. Damit sind die Individuen – aber auch die politischen Institutionen und Organisationen – immer mehr solchen Marktzwängen ausgesetzt. Sie drängen auf Anpassung als »Arbeitskraftunternehmer«, auf eine Selbstdisziplinierung, die nicht der autoritären Anleitung »von oben« bzw. der permanenten Androhung von Zwang bedarf (vgl. Hirsch 2005, 202ff). Massenarbeitslosigkeit, die Angst vor Arbeitslosigkeit und dem mit ihr verbundenen sozialen Absturz, auch die Erfahrung von Prekarität und sozialer Unsicherheit am Rande des Arbeitsmarktes wirken in diesem Sinne als permanenter Disziplinierungsdruck. Die Anpassung der Politik an die Anforderungen der Märkte, genauer der Kapitalbewegung und Profitproduktion, bezeichnet Stephen Gill als einen »neuen Konstitutionalismus« (Gill 2000, 43). Sie »gestatten die Konsolidierung oder Festschreibung beschränkter, aber noch immer mächtiger neoliberaler Staatsformen, die sich einer popular-demokratischen Verantwortlichkeit entziehen« (ebd.). Die Überwachungspraktiken durch die exekutiven Staatsapparate dienen nicht alleine realen oder vermeintlichen Gefahren durch den Terrorismus, sondern sollen den Staatsapparat in die Lage versetzen, die Kontrolle über die möglichst individualisierte Wettbewerbsgesellschaft, die immer auch zu Krisen und Instabilität tendiert, zu behalten. Schließlich sorgt die neoliberale »Kommodifizierung des Überbaus« durch die gewaltig gesteigerte Macht der transnationalen Medienkonzerne dafür, dass weltweit stereotype »Bilder« von Politik und Krieg, aber auch von den Scheinwelten eines »schönen Lebens« verbreitet werden.
Die große Krise seit 2007 und ihre sozialen wie politischen Folgen werden diesen Disziplinierungsdruck verstärken. Nunmehr sind auch Schichten der Arbeiterklasse betroffen, die sich (im Bereich der Automobilproduktion und ihrer Zulieferer) bislang eher zu den »Gewinnern« der Globalisierung gezählt haben. Angesichts der »Wiederkehr des Staates« bei der Bewältigung der Krise und ihrer Folgen wird die »demokratische Frage« heute nicht allein von der Abwehr der Eingriffe des Staates in die Bürgerrechte bestimmt, sondern von der Auseinandersetzung mit einer Antwort auf die Krise, die die Reparatur des Finanzmarktkapitalismus in den Vordergrund stellt und dabei eben jene Voraussetzungen stabilisieren will, die die innere Logik der Kette der Finanzkrisen seit den frühen 1980er Jahren und verstärkt seit dem Crash von 2007 bestimmt haben.
Umfang und Richtung der Staatsintervention werden so zum Terrain des Kampfes der gesellschaftlichen und politischen Kräfte. Sollte sich eine Politik durchsetzen, die die Sanierung des Finanzsektors und die Wiederankurbelung des Exports als ihre wichtigsten Ziele betrachtet, werden sich die Elemente des Übergangs zum autoritären Kapitalismus verstärken: Denn gleichzeitig werden die sozialen Widersprüche und auch Formen des sozialen und politischen Protestes zunehmen. Ein Kampf für eine Alternative zu dieser Politik und gegen die ihr zugrunde liegende Herrschaftskonstellation richtet sich auf eine Stärkung der Binnennachfrage, einen breiten Sektor öffentlichen Eigentums (einschließlich der Vergesellschaftung der Banken), strikte Kontrollen der Kapitalmärkte, einen Ausbau der sozialen Dienstleistungen und der gesellschaftlichen Infrastruktur, eine Ausweitung der Wirtschaftsdemokratie und eine internationale Politik der Konfliktprävention. Ein solcher Kampf ist zugleich gegen den »Notstand der Demokratie« gerichtet. Er wird keineswegs ausschließlich im Parlament ausgetragen, sondern vollzieht sich auf den verschiedenen Feldern der staatlichen und zivilgesellschaftichen Terrains. Indem er den krisenhaften Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Demokratie nicht aus dem Auge verliert, umschließt er notwendig auch die Perspektive einer Transformation des Kapitalismus. Diese Transformation ist ihrerseits Bedingung für die Entfaltung einer Selbstregierung des Volkes und der Zurücknahme des Staates in die Gesellschaft.
Der Text beruht auf einem Vortrag, gehalten am 16.1.2009 zur Eröffnung des Promotionskollegs »Demokratie und Kapitalismus« der Rosa-Luxemburg-Stiftung an der Universität Siegen.