Dabei ist ein globales Restbudget nicht vollkommen unbestimmbar. Der UN-Klimarat IPCC beispielsweise versucht die genannten wissenschaftlichen Unsicherheiten mittels Wahrscheinlichkeitsrechnungen methodisch einzufangen. Laut seinem Sonderbericht betrug das globale CO2-Budget zur Einhaltung des 1,5°C-Ziels ab 2018 noch 420 Gigatonnen (Gt), um es mit einer Wahrscheinlichkeit von 66 Prozent zu erreichen, und 580 Gt bei einer 50 prozentigen Wahrscheinlichkeit. Das Budget vergrößert sich auf 1.085 Gt CO2, soll die Temperaturerhöhung mit einer 66 prozentigen Wahrscheinlichkeit auf 2,0°C begrenzt werden.
Das CO2-Restbudget gerecht verteilen
Das Restbudget variiert also je nach Temperatur-Ziel und Wahrscheinlichkeitspfad. Im Sinne eines klimagerechten Ansatzes müsste entsprechend mit einer hohen Wahrscheinlichkeit und einer Temperaturerhöhung in der Nähe von 1,5 Grad gearbeitet werden. Außerdem wäre das Gesamtbudget angemessen auf Staaten und Regionen aufzuteilen, was wiederum eine Vielzahl von umstrittenen politischen Setzungen bedeutet. Debattiert wird etwa, welche Region künftig welchen Anteil an der Weltbevölkerung umfasst, sofern eine Gleichverteilung pro Kopf die Grundlage bilden soll. Strittig ist auch, wie historische Emissionen berücksichtigt, oder wem zu welchen Anteilen internationale Flug- und Schiffsemissionen angerechnet werden sollen. Verhandelt wird außerdem darüber, ob Industriestaaten dem Globalen Süden einen kleinen Teil des Restbudgets ‚abkaufen’ können – als Gegenleistung für den Transfers von Geld und Technologien. So könnten Empfängerländer in die Lage versetzt werden, ihren geringen THG Ausstoß gar nicht erst anwachsen zu lassen. Industriestaaten bekämen im Gegenzug zwar nicht mehr Zeit bis zur vollständigen Dekarbonisierung spätestens Mitte des Jahrhunderts, aber etwas mehr Luft für den tiefgreifenden Strukturwandel. Auf letzterem fußt das Pariser Abkommen mit seinem 100-Milliarden-Transfer-Mechansismus.
Wer hat gegen das Klimaschutzgesetz geklagt?
- Luisa Neubauer, Mitbegründerin der deutschen Fridays-for-Future-Bewegung;
- Lueke Recktenwald von der Nordseeinsel Langeoog, der auch Kläger im People’s Climate Case gegen die Europäische Union ist;
- außerdem sieben Jugendliche und junge Erwachsene der drei Bauernfamilien, die zusammen mit Greenpeace bereits 2018/2019 die Bundesregierung auf Einhaltung des 2020-Klimaziels verklagt hatten: Hannes, Sophie, Jakob und Paul Backsen, Johannes und Franziska Blohm und Lukas Lütke Schwienhorst.
- Unterstützt wurden die Klimakläger*innen von Greenpeace, Germanwatch und Protect the Planet, die selbst nicht als Klägerinnen auftraten.
Nach Auffassung der jungen Kläger*innen sind die nach dem deutschen KSG bis 2050 zulässigen Gesamtemissionen nahezu doppelt so hoch wie das CO2-Budget, das Deutschland nach Rechnung des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU) zustehe, um die Ziele des Pariser Abkommens einzuhalten. Der SRU hatte dieses deutsche Restbudget in Ableitung der IPCC-Berechnung mit 3,46 Gt CO2 ab dem 1. Januar 2020 angegeben. Zu Grunde gelegt wurde eine 66 prozentige Wahrscheinlichkeit zur Einhaltung eines 1,5-Grad-Ziels bei Annahme gleicher Pro-Kopf-Emissionsrechte weltweit. Der SRU hat auch andere Pfade berechnet: Dehnt man beispielsweise die Spanne bei ansonsten gleichen Annahmen bis zu einer „zulässigen“ Erwärmung von 1,75 Grad, so bliebe noch ein Restbudget von 6,6 Gt CO2, bei einer Erwärmung auf 2 Grad wären es 9,65 Gt.
Auch wenn das BVerfG für Deutschland selbst kein konkretes Restbudget definiert, entscheidet es wesentlich zu Gunsten der Umweltschützer*innen. Die hatten in ihrer von Umweltjurist*innen formulierten Klageschrift kritisiert, dass die Bundesregierung mit dem 2019 verabschiedeten KSG nicht genug gegen die Klimakrise unternehme, also ihrem im Grundgesetz verankerten Schutzauftrag nicht nachkomme. Das KSG ignoriere, dass der Ausstoß von Treibhausgasen so schnell wie möglich sinken müsse, wenn der Temperaturanstieg möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden solle. Die Beschwerdeführenden müssten andernfalls noch während ihrer Lebenszeit sehr einschneidende Verschlechterungen ihrer Lebensqualität hinnehmen, die daraus resultierten, dass vorangegangene Generationen von der Emission von Treibhausgasen erheblich profitiert und das Ökosystem schwer beschädigt hätten. Ein Fortschreiten auf dem bisherigen Pfad schränke künftige Gestaltungsmöglichkeiten stark ein und setze demokratische Teilhabe, Freiheitsrechte und „Subjektqualität“ aufs Spiel.
Konkret reiche die von der Bundesregierung angestrebte Absenkung der Treibhausgase um lediglich 55 Prozent bis zum Jahr 2030 nicht aus, und für die Zeit danach gebe es bislang keine Vorgaben. Aber selbst das zu schwache 2030er-Ziel sei mit den bisher verabschiedeten Maßnahmen nicht zu erreichen. Insgesamt verletze das KSG damit das Grundrechte auf Menschenwürde, Leben und körperliche Unversehrtheit nach Artikel 1 und Art. 2 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit Artikel 20a GG, welcher den Schutz der natürlichen Umwelt als Staatsziel festschreibt. Der mangelnde Klimaschutz des KSG verstoße weiterhin gegen die grundgesetzlich gesicherte Berufsfreiheit und Eigentumsgarantie.
Früher Klimaschutz schützt Freiheit der Spätgeborenen
1. Das Gericht folgt in seinem 110seitigen Beschluss den Kläger*innen in zwei Kernpunkten:Die Richter*innen halten das KSG zwar nicht insgesamt für grundgesetzwidrig, aber sehr wohl den Teil, in dem der Klimaschutzpfad für die Zeit nach 2030 bis zur vollständigen Klimaneutralität Deutschlands geregelt wird. Dieser sollte laut Gesetz erst im Jahr 2025 durch Rechtsverordnung für die Zeit 2031 bis 2050 festgelegt werden. Er sei nicht ausreichend bestimmt und somit unvereinbar mit den Grundrechten: „Die Schonung künftiger Freiheit verlangt auch, den Übergang zu Klimaneutralität rechtzeitig einzuleiten. Konkret erfordert dies, dass frühzeitig transparente Maßgaben für die weitere Ausgestaltung der Treibhausgasreduktion formuliert werden, die für die erforderlichen Entwicklungs- und Umsetzungsprozesse Orientierung bieten und diesen ein hinreichendes Maß an Entwicklungsdruck und Planungssicherheit vermitteln“, so das Gericht. Entsprechend müsse der Passus für die Zeit nach 2030 bis spätestens zum 31. Dezember 2022 neu gestaltet werden, und zwar nicht durch Rechtsverordnung, sondern durch das Parlament.
2. Dennoch halten die Richter*innen die zeitliche Aufteilung der Minderungslasten bis zur Klimaneutralität nicht für beliebig, sie müsse vielmehr generationsgerecht sein. Zwar kritisiert das Gericht nicht die konkrete KSG-Ausgestaltung bis zum Jahr 2030, also weder die dort festgelegten jährlichen Emissionshöchstgrenzen für die einzelnen Sektoren (Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft) noch das Gesamtminderungsziel von 55 Prozent Minderung bis 2030 gegenüber 1990. Hier konnten sich die Kläger*innen nicht durchsetzen. Es weist aber unmissverständlich darauf hin, dass „der Verbrauch der dort bis 2030 geregelten Jahresemissionsmengen […] notwendig und unumkehrbar Teile des verbleibenden CO2-Budgets“ verzehre, und, dass das Grundgesetz „zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen“ verpflichte.
Der zweite Punkt scheint zunächst schwächer als der erste, entfaltet aber enorme Kraft dadurch, dass nach Punkt 1 der Minderungspfad für die Zeit nach 2030 nun konkret definiert werden muss. Dadurch wird aber nicht nur absehbar, mit welchem ungefähren Restbudget an Treibhausgasen die Bundesregierung für Deutschland operieren will. Es wird endlich auch sichtbar, wie sie sich die Verteilung der Minderungslasten bis zum Zieljahr der Klimaneutralität zeitlich vorstellt, ob also diese Aufteilung intergenerativ gerecht sein könnte. Stimmen hier die Relationen nicht, sind Folgeklagen der Klimaschutzbewegung mit hoher Erfolgsaussicht absehbar. Das allein könnte schon eine präventive Wirkung entfalten.
Tatsächlich war schon zum Zeitpunkt des Beschlusses offensichtlich, dass die laschen Emissionsminderungsvorgaben des KSG zwischen 2020 und 2030 etliche heikle Problemlösungen (und damit verbundene Kosten) in die ferne Zukunft verschieben. Die Kläger*innen befürchten zu recht, die Pariser Ziele ließen sich nach 2030 nur mit einer „Vollbremsung“ einhalten, notwendigen Einsparungs- und Anpassungsmaßnahmen würden sich dadurch immer drastischer und zunehmend alternativlos darstellen.
Die Verfassungsrichter*innen hielten sich dennoch zurück, die KSG-Ausgestaltung bis zum Jahr 2030 konkret zu rügen. Als Teil der Judikative beschränkt sich das Gericht vielmehr darauf, über die Einhaltung der verfassungsgemäßen Rechte und Pflichten zu wachen. Im Sinne der Gewaltenteilung will es nicht in die konkrete Politikgestaltung von Legislative und Exekutive eingreifen – jedenfalls solange durch die Politik nicht offensichtlich Grundrechte verletzt werden. Solche offensichtlichen Verletzungen können die Verfassungsrichter vorerst nicht feststellen, weil im KSG der Minderungspfad vom Jahr 2031 bis 2050 noch gar nicht feststeht. Formal ist also das Verhältnis der frühen zu den späten Minderungsvolumen derzeit unbestimmt. Es wäre daher für das BVerfG kaum nachweisbar, dass notwendige zeitnahe Minderungen zu Lasten der heutigen Jugend unterlassen würden. Dies ändert sich aber just in dem Augenblick, in dem der BVerfG-Auftrag erfüllt wird, sprich der bislang fehlende spätere Minderungspfad im KSG definiert wird.
Aus den oben genannten Gründen gibt das Gericht dem Gesetzgeber einen Ermessensspielraum, wie ein mit dem Paris-Vertrag kompatibler Treibhausgas-Minderungspfad ausgestaltet wird. Nicht zuletzt dürften die Verfassungsrichter*innen berücksichtigt haben, dass Deutschland aktuell der EU-Klimapolitik folgen muss. In Brüssel wurde sich politisch bereits auf eine Anhebung des EU-Klimaschutzziels für 2030 um 15 Prozentpunkte auf minus 55 Prozent Minderung gegenüber 1990 geeinigt. Entsprechend stand zur Urteilsverkündung eine deutliche Anpassung des deutschen Klimaschutzziels und des gesamten KSG bereits auf der Berliner Agenda.
Im Urteil und dessen Begründung finden sich weitere richtungsweisende Grundsätze der obersten Verfassungshüter, die auf dieser Ebene erstmals formuliert wurden. So erkennt das Gericht beispielsweise an, dass der Klimawandel real ist und Klimaschutz justiziabel. Auch weist es das Argument zurück, man könne die nationale Klimapolitik deshalb umambitioniert gestalten, weil andere Staaten einen höheren absoluten THG-Ausstoß hätten, oder weil sie noch weniger ambitioniert agierten. Auch dass sich der Gesetzgeber an wissenschaftliche Vorgaben orientieren muss, liest sich, als wollten es die Richter in Karlsruhe nicht nur der Bundesregierung, sondern auch den Klimawandel-Leugnern ins Stammbuch schreiben.
Aus dem Urteil (Rn 186):
„Vor diesem Hintergrund begründen Vorschriften, die jetzt CO2-Emissionen zulassen, eine unumkehrbar angelegte rechtliche Gefährdung künftiger Freiheit, weil sich mit jeder CO2-Emissionsmenge, die heute zugelassen wird, das verfassungsrechtlich vorgezeichnete Restbudget irreversibel verkleinert und CO2-relevanter Freiheitsgebrauch stärkeren, verfassungsrechtlich gebotenen Restriktionen ausgesetzt sein wird (näher oben Rn. 117 ff.). Zwar müsste CO2-relevanter Freiheitsgebrauch irgendwann ohnehin im Wesentlichen unterbunden werden, weil sich die Erderwärmung nur anhalten lässt, wenn die anthropogene CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre nicht mehr weiter steigt. Ein schneller Verbrauch des CO2-Budgets schon bis 2030 verschärft jedoch das Risiko schwerwiegender Freiheitseinbußen, weil damit die Zeitspanne für technische und soziale Entwicklungen knapper wird, mit deren Hilfe die Umstellung von der heute noch umfassend mit CO2-Emissionen verbundenen Lebensweise auf klimaneutrale Verhaltensweisen freiheitsschonend vollzogen werden könnte (oben Rn. 121). Je kleiner das Restbudget und je höher das Emissionsniveau ist, desto kürzer ist die verbleibende Zeit für die erforderlichen Entwicklungen. Je weniger aber auf solche Entwicklungen zurückgegriffen werden kann, desto empfindlicher werden die Grundrechtsberechtigten von den bei schwindendem CO2-Budget verfassungsrechtlich immer drängenderen Beschränkungen CO2-relevanter Verhaltensweisen getroffen.“
Novelle des Klimaschutzgesetzes als erste Reaktion
In Berlin schlug das Urteil ein wie Donner. Überraschung und nervöse Deutungsversuche seitens der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen, Jubel bei Kläger*innen und Umweltbewegung. Hastig wurde gerade von jenen, die in den letzten Jahren als Bremser im Klimaschutz agierten, Nachbesserungen gefordert. Ihr hilfloses Lavieren macht deutlich: Ob Wirtschaftsminister Altmaier oder Verkehrsminister Scheuer - die vermeintliche neue Klimaschutzfront von oben wurde im Vorfeld der Bundestagswahlen kalt erwischt.
Als erste Reaktion der Bundesregierung wurde Anfang Mai bereits ein Entwurf zur Novelle des KSG vorgelegt. Darin werden gemäß des BVerfG-Auftrags zumindest für die Bundesrepublik insgesamt jährliche Minderungsziele für die Jahre 2031 bis 2040 festgeschrieben. Für die Jahre bis 2030 verschärft der Entwurf erwartungsgemäß das Gesamtminderungsziel von derzeit 55 auf 65 Prozent Reduktion der THG gegenüber 1990, für 2040 gilt ein neues Zwischenziel von 88 Prozent Minderung. Das bis 2045 verbrauchte Budget wird somit nach ersten Berechnungen offenbar innerhalb des vereinbarten Paris-Korridors liegen.
Der Entwurf wird von Umweltverbänden dennoch kritisiert: Das nunmehr um fünf Jahre vorgezogene Zieljahr 2045 sei für eine Treibhausgasneutralität immer noch zu spät, der neue Pfad leiste keinen gerechten Beitrag zum 1,5-Gradziel, die zulässigen Emissionsmengen für 2031 bis 2040 seien immer noch nicht sektorscharf und für die letzten fünf Jahre gar nicht festgelegt. Sollte dieser Entwurf jedoch Realität werden, müsste sich die Bundesrepublik – trotz aller Mängel im Gesetzt – bereits radikal umbauen. Das Ausmaß an erforderlichem Strukturwandel wäre ebenso gigantisch, wie die Gefahr, dass Beschäftigte, Mieter*innen oder ganze Regionen dabei unter die Räder kommen. Jedenfalls dann, wenn gegen solche Verwerfungen nicht energisch angegangen wird. Die Frage ist also, wie in dieser schon jetzt tief gespaltenen Gesellschaft ausreichend Mittel und Akteure (von der Ökologiebewegung über Mieter*innen-Initiativen bis zu Gewerkschaften) dafür mobilisiert werden können, den fraglos notwendigen Strukturwandel in Energiewirtschaft und Industrie, bei Gebäuden, der Mobilität und der landwirtschaftlichen Produktion so auszugestalten, dass er sich zugleich ökologisch und sozial vollzieht. Hier kann und muss sich die LINKE stärker positionieren als bislang. Und zwar nicht nur als „Betriebsrat“ des Umbaus, sondern auch beim Umbau selbst, also bei den regulativen Rahmenbedingungen, wirtschafts- und technologiepolitisch. Zudem ist zu verhindern, dass der Umbau hierzulande auf Kosten von Mensch und Umwelt in anderen Staaten geht, etwa mit problematischen Importen von regenerativen Energieträgern und Rohstoffen.
Das Urteil des Bezirksgerichts Den Haag
Ähnlich folgenreich urteiltet das Bezirksgerichts Den Haag am 26. Mai dieses Jahres, wo nicht eine Gesetzgebung, sondern ein Unternehmen wegen seines Beitrags zur Erderwärmung verklagt wurde. Der niederländische Arm der Umweltorganisation Friends of the Earth hatte hier gemeinsam mit 17.000 Co-Kläger*innen Anzeige gegen den britisch-niederländische Mineralölkonzern Shell erstattet. Im Ergebnis muss Shell nun zum Schutz der Erdatmosphäre seine weltweiten CO2-Emissionen bis Ende 2030 im Vergleich zu 2019 um 45 Prozent reduzieren.
Auch dieses Urteil ist ohne Vorbild, erstmals wurde ein Unternehmen konkret zu Reduktionsverpflichtungen verurteilt. Das Gericht betonte explizit, die Verpflichtung zum Klimaschutz gelte auch für andere Unternehmen. Es hat zudem weltweite Ausstrahlung: „NGOs in anderen Ländern werden jetzt ebenfalls Gerichtsverfahren gegen in ihren Ländern ansässige Mineralölkonzerne einleiten und können sich dabei auf die Argumentation des Den Haager Gerichts stützen“, erklärte Paul de Clerck von der Friends of the Earth gegenüber dem Informationsdienst Tagesspiegel Background. Die Entscheidung gilt als Präzedenzfall für viele weitere Klimaklagen, es kann schon kurzfristig Auswirkungen haben auf ähnliche Verfahren in Frankreich und Italien.
Wird Degrowth nun operationalisierbar?
Die Bedeutung der Urteile für den Klimaschutz ist kaum zu überschätzen. Sie könnten darüber hinaus eine belebende Wirkung auf die mittlerweile etwas ermatte Wachstumsdebatte haben. Sofern ein deutsches Klimaschutzgesetz mit einem ambitionierten Treibhausgasbudget und jährlichen sektorscharfen Emissionsobergrenzen ausgestattet ist, wird es böse Wahrheiten für all jene bereithalten, die bislang annahmen, Klimaschutz sei Sache des Umweltministeriums oder neue Technologien würden das Problem schon richten.
Für den nun eingeschlagenen THG-Minderungspfad von im Schnitt 30 Mio. Tonnen jährlich müssen die Anstrengungen gegenüber dem Zeitraum 1990 bis 2020 verdoppelt werden. Kein Sektor kann sich dabei auf Kosten eines anderen einen schlanken Fuß machen. Schon die jeweils dahinterstehenden zuständigen Ministerien werden darüber argwöhnisch wachen. Denn verfehlt ein Sektor die erlaubten Jahreshöchstemissionen, müssen Sonder-Aktionsplänen des verantwortlichen Ressorts erstellt werden. Die jeweiligen Minister*innen müssen darin glaubhaft machen, wie sie im Folgejahr das Defizit wieder reinholen wollen.
Es wird ziemlich bald deutlich werden, dass die notwendigen THG-Einsparungen nicht allein durch Kohleausstieg, mehr Effizienz oder vermeintlich unbegrenzte erneuerbare Energien zu erreichen sein werden. Vielmehr geht es nun ans Eingemachte. Die meisten unabhängigen Klimaschutzszenarien setzen nämlich auch ein Weniger an Verkehr, an Wohnfläche pro Kopf oder an Fleischverbrauch voraus. Sonst gehen die Rechnungen nicht auf. Der absehbare Mangel an Ökostrom und grünem Wasserstoff kann Rückwirkungen darauf haben, wie sich die Industrie in einem ausreichenden Maße dekarbonisieren lässt – jedenfalls, wenn sie unbegrenzt weiterwachsen will. Erfolgversprechende Klimaklagen gegen Unternehmen könnten zumindest den Spielraum für Konzerne einschränken, als Ausweg auf fossil basiertes Wachstum im Ausland zu setzen.
Unter dem Strich könnten sich die nunmehr einklagbaren CO2-Budgets als Instrument erweisen, welches indirekt auf den Ressourcenverbrauch insgesamt wirkt. Erstmals gäbe es einen operationalisierbaren Ansatz, dämpfend auf das Wirtschaftswachstum einzuwirken.
Abgrenzungsrituale aufgeben
Selbstverständlich werden sich Konzerne mit allen Mitteln gegen eine solche Entwicklung stemmen. Sie werden Strategien der Lobbyarbeit zur Aufweichung der noch ausstehenden Umsetzungsgesetze erarbeiten, werden versuchen, Regeln zu umgehen und Probleme zu verlagern, auch in andere Teile der Welt. Ohne den Druck einer starken Klimagerechtigkeitsbewegung wird sich real nur wenig bewegen, oder im Zweifelsfall auf Kosten Schwacher.
Dennoch verändern die bahnbrechenden Urteile die Geschäftsgrundlage für anstehende Klimakämpfe nachhaltig. Allein dies wäre Anlass, manche belehrenden, eifersüchtigen, gelegentlich überheblichen und vielfach einfach überflüssigen Abgrenzungsrituale zu überdenken, die manche Akteursgruppen der Klimaschutzbewegung gegenüber anderen pflegen. Diejenigen, die hier in den letzten Monaten Siege mit Langzeitwirkung erstritten haben, waren ganz klassische Umweltverbände, vereint mit hochspezialisierten Klimajurist*innen aus einem grünalternativen Umfeld und mit engagierten Einzelpersonen aus dem Spektrum von Fridays for Future.
Dass Richter*innen heute Urteile fällen, die vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären, hat mit dem fortschreitenden Klimawandel zu tun, sicher aber auch mit einer weltweit erstarkten Klimaschutzbewegung, die darauf aufmerksam macht. Darunter sind auch radikalere Gruppen, die zu bestimmten Zeiten Kristallisationspunkte sein können. So ist das Anwachsen von Fridays for Future wohl nicht allein auf den Greta-Effekt zurückzuführen. Gut in Szene gesetzte friedliche Erstürmungen von Tagebauen und Blockaden von Kohlebaggern dürften Jugendliche ebenfalls angefixt haben, sich im Klimaschutz zu engagieren. Am anderen Ende hatten die Umsetzungsprozesse des vielgeschmähten UN-Klimaprozesses bereits klare Konturen ins europäische und deutsche Klimaschutzrecht geschnitten, an die die Klimaklagen ansetzen konnten.
Auch wenn all diese Prozesse zäh verlaufen: Klimaschutz ist mehr als Handarbeit. Auf keine der genannten Ebenen kann verzichtet werden, jede für sich wäre nutzlos.