Der Sixties-Jubiläumsreigen neigt sich seinem Ende zu – und angesichts unzähliger, wild zusammengestückelter Flower-Power-Dokus mit weißem Mittelschichts-Bias bin ich versucht auszurufen: Endlich! Die Verkitschung der Achtundsechziger-Mythologien ist ähnlich ärgerlich wie ihre spiegelbildliche Entzauberung nach dem Motto: alles privilegierte Hedonist*innen und dogmatische Polit-Macker, nur ein romantisches Vorspiel des neoliberalen Individualismus. Tatsächlich geht es um eine der großen Wasserscheiden der Geschichte. Und in den aktuellen Kämpfen kommt es auch darauf an, etwas vom damaligen Geist konkreter Utopie wiederzufinden – trotz allem.
Eine ähnliche Ausgangsüberlegung hat Bini Adamczak dazu bewegt, die Revolutionswellen von 1917/18 und 1968 in ein wechselseitiges Belichtungsverhältnis zu bringen (vgl. Adamczak 2017). Dabei wird deutlich, dass die Niederlagen der Linken im »Zeitalter der Katastrophen« (Hobsbawm) zwischen 1914 und 1945 auch darauf zurückzuführen sind, dass martialischer Kampf, autoritäre Disziplinierung und verkürzte Rationalitätsfetischismen ihre Theorie und Praxis dominierten. Zu dieser »universellen Maskulinisierung« bildet der Zyklus der 1960er Jahre eine Gegenbewegung. Adamczak spricht von »differenzieller Feminisierung« und meint damit einen Prozess der Sensibilisierung, Öffnung und Umbildung von Subjektivitäten.
Das verbindet sich nicht zufällig mit einer Ästhetisierung von Alltagskultur und Politik. Es geht um ein Emanzipationsstreben, das Tiefenschichten und Nuancen von Beziehungen berührt, die nur durch das Spiel mit sinnlichen Schattierungen und metaphorischen Bildern dargestellt werden können. Anders als in den klassischen bürgerlichen Künsten und auch noch in vielen ihrer avantgardistischen Auflösungsbewegungen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist dabei die Lebenswelt breiter Klassenfraktionen (und nicht eine relativ autonome und elitäre Sphäre der Kunst) das Hauptaktionsfeld. Die Popkultur, die daraus hervorgeht, bietet Symbolhaushalte, deren konkrete Bedeutungen erst im Rezeptionsprozess vom Publikum durch immer neue Arrangements der Einzelelemente im Alltag konstruiert werden (vgl. Diederichsen 2014).
Bei aller gattungssprengenden Kraft steht dabei in den 1960er Jahren Musik ganz klar im Zentrum – oder genauer: bestimmte musikalische Gestaltungstechniken. Das hat historische Gründe, deren Reflexion uns helfen kann, ein klareres Verständnis für den Strukturwandel des Öffentlichen und das – für Emanzipationskämpfe auch heute zentrale – Verhältnis von Subjektivitätsausdruck und kollektivem Widerstand zu gewinnen (vgl. ausführlicher: Lill 2013).
Die Lieder der Bürgerrechtsbewegung als spirituelle Machtdemonstration
Ausgangspunkt der Umwälzungen sind die antikolonialen Bewegungen, die sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges über den Globus ausbreiten. Mit der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung dringen sie ab Mitte der 1950er Jahre ins Herz des kapitalistischen Weltsystems vor, wo sie die liberalen Student*innen und die existenzialistische Beatkultur der Bohème politisieren. Schon bald fordern sie nicht mehr nur gleiche Rechte, sondern stellen die Machtfrage. Sie tun dies von Beginn an singend. Mit Stimmen, die so stark sind, dass sie einem auch noch auf den verwackelten Schwarz-Weiß-Bildern von den Konfrontationen mit dem rassistischen Mob in Mark und Bein gehen können.
Der Polizeichef von Birmingham (Alabama), »Bull« Connor, hetzt 1963 seine Hundestaffel auf Schulkinder und löst damit eine landesweite Empörungswelle aus, die zum Durchbruch der Bewegung beim »Marsch auf Washington« führt. »Bull« Connor gibt damals zu Protokoll, der Gesang mache ihn krank. Aus jeder Schwarzen Kirche, jeder Menschenkette, jeder überfüllten Gefängniszelle schlagen ihm die freedom songs entgegen. Es ist eine spirituelle Machtdemonstration. Und der brutale alte Mann spürt offenbar, dass diese Lieder, untermalt von hypnotischem Klatschen, eine Waffe darstellen, gegen die seine Armee letztlich hilflos ist.
In der Musik kristallisiert sich in diesem historischen Augenblick ganz unmittelbar eine Utopie radikaler Befreiung heraus. In den Jahrhunderten der totalen Entrechtung zuvor war sie als vor allem religiöse Sehnsucht nach einem Jenseits dieser zerbrochenen Welt wachgehalten worden: praktisch zelebriert als momenthafte Erlösung in den Spirituals, einer Ekstase des Hier und Jetzt, in der der Heilige Geist oder auch klandestine Kräfte des Voodoo in die Körper der Gläubigen einzufahren schienen. Für sie offenbarte sich die göttliche Botschaft in der Stimme, dem Zentrum aller Ursprungsmythen, die in den heiligen Schriften und Erzählungen nur übersetzt und erinnert werden. Nach dem Call-and-Response-Prinzip brachen einzelne Stimmen aus dem kollektiven Gesang der Gemeinde aus, traten rauschhaft improvisierend hervor, um anschließend zurückzusinken in den Chor der Vielen.
Mit der Bürgerrechtsbewegung bricht diese vom kollektiven Trauma der Versklavung gezeichnete sakrale Gegenwelt ins soziale Diesseits ein. Sie fordert nun das weltliche Glück. Versehen mit neu erdichteten Texten wird aus den alten Kirchenliedern die definitive Ansage an alle Bull Connors dieser Welt: »Ain’t gonna let nobody turn me around.«
Parallel hebt die Soulmusik die bis dato als Tabu geltende Trennung zwischen religiösem Gospel und sexualisiertem Rhythm and Blues auf (vgl. Ward 1998). Sie mischt damit – ähnlich wie zuvor schon der Rock’n’Roll – auch den weißen Musikmarkt auf und versetzt die konservativen Moralapostel*innen aller (auch linker) Couleur in helle Aufregung. Wenn Aretha Franklin 1967 »Respect« einfordert, dann braucht sie keine explizit politischen Texte zu singen. Auch so wissen alle – die Machos der Black-Power-Bewegung eingeschlossen –, was es bedeutet, wenn eine Schwarze Frau ihre Stimme in dieser Weise erhebt. Antirassismus und weibliche Emanzipation, Erleuchtung und erotisches Begehren fließen zusammen.
In Revolutionen wurde vermutlich immer gesungen. Aber die moderne Welt dürfte nur wenige derart musikalische Bewegungen erlebt haben. Selbst die Reden Martin Luther Kings sind halb gesungen, die Wahrheit des Gesagten scheint buchstäblich körperlich spürbar. Auch die Kinder der weißen Mehrheitsgesellschaft, aufgewachsen in einer Welt rassistisch-patriarchaler Konventionen, ängstlicher Verdrängung von Kriegserfahrungen und Atomparanoia, können sich dem Sog dieser Stimmen nicht entziehen.
Die Neue Linke und das Politische im Persönlichen
Damit gewinnt auch die Neue Linke an Dynamik. Sie formiert sich besonders früh in Großbritannien, dem anderen westlichen Zentrum der musikalischen Revolte. Auch hier ist der Hintergrund internationalistisch. Dafür stehen vor allem zwei Ereignisse im Oktober 1956 (es ist das Jahr des Beginns der US-Bürgerrechtsbewegung): Die sogenannte Sueskrise um die Verstaatlichung des Sueskanals durch Ägypten, in der die Kolonialimperien Großbritannien und Frankreich eine empfindliche Niederlage erleiden. Und der demokratische Aufstand in Ungarn, der von der sowjetischen Armee gewaltsam niedergeschlagen wird. Beide Konflikte verdeutlichen jungen Intellektuellen wie E. P. Thompson oder Stuart Hall die Notwendigkeit, sich in doppelter Weise abzusetzen: von der korporatistisch integrierten Sozialdemokratie und von den durch die Sowjetunion dominierten kommunistischen Parteien.
Die studentische Linke ist durch das Bedürfnis geprägt, Politik auch als etwas unmittelbar Persönliches zu praktizieren: Wie das berühmte Port Huron Statement von 19621 verdeutlicht, sollen die Leiden und Hoffnungen jedes Einzelnen herausgelöst werden aus dem Schattenreich der kleinfamiliären Trutzburg bürgerlicher Subjektivität. Übersetzt in eine Gegenöffentlichkeit soll aus vereinzeltem Schmerz ein kollektives Projekt der Gesellschaftsveränderung entlang der Leitidee einer radikal partizipativen Demokratie entstehen. Es ist eine Aktualisierung des in den Abgründen des 20. Jahrhunderts verschütteten sozialistischen und anarchistischen Erbes – und zugleich Ausdruck neuer Entfaltungsansprüche auf der Basis von Bildungsaufstieg und sozialstaatlicher Absicherung.